Prolog

Rebecca Burns saß hinter einem abgewetzten Holztisch in der Bibliothek von Killeen, Texas, als er lässig vorbeigeschlendert kam und sämtliche Nervenenden ihres Körpers augenblicklich in Alarmbereitschaft versetzte. »Er« war Sterling Jeter, der scharfe blonde Traumtyp, der ein Jahr vor ihr den Abschluss gemacht hatte. Und sosehr sie sich auch bemühte, ihre Aufmerksamkeit auf Bobby Johnson zu konzentrieren, den Quarterback aus dem zweiten Highschooljahr, dem sie für seinen Zulassungstest an der Universität Nachhilfe gab, scheiterte sie doch jämmerlich. Wie von einem Magneten angezogen, hob sie den Blick und folgte Sterlings sexy wiegendem, lockerem Gang, der ihn – wie so häufig in den letzten drei Wochen – zu den Computerterminals führte.

Sterling zog sich hinter einem der Schreibtische einen Stuhl hervor, und sie richtete den Blick schnell wieder auf Bobby, der sich immer noch durch sein Arbeitsblatt kämpfte. Außerstande, der Versuchung zu widerstehen, wandte sie sich wieder Sterling zu, nur um festzustellen, dass er sie jetzt direkt ansah. Er grinste und zwinkerte ihr zu, dann hielt er einen Snickers-Riegel hoch. Sie errötete, als sie begriff, dass er ihn für sie mitgebracht hatte, nachdem sie ihm erst am Nachmittag zuvor gestanden hatte, dass sie dem köstlichen Erdnussgeschmack dieser Dinger hoffnungslos verfallen war.

»Ich kapier einfach nicht, was ich auf dem Footballfeld mit Algebra anfangen soll«, brummte Bobby. Widerstrebend riss Becca den Blick von Sterling los und wandte sich wieder Bobby zu, der mit seinen einen Meter fünfundachtzig, den braunen Haaren und Augen und seinem schulbekannten Sexprotz-Image weder der Hellste war noch vor enzyklopädischem Wissen übersprudelte.

»Entweder du schaffst die für die Universität von Texas erforderliche Punktzahl«, hielt sie ihm vor, »oder du musst den Ball an jemanden abgeben, der sich auch für andere Dinge freispielen kann.«

Er schob das Papier weg und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Das ist doch Quatsch. Ich will kein tolles, von der NASA finanziertes Stipendium wie du, also sehe ich auch nicht ein, warum ich genauso ein langweiliger Bücherwurm werden soll wie du.«

Die wohlvertraute Stichelei ließ sie zusammenzucken, und sie fragte sich, warum es ihr so nahe ging – warum sie sich immer wieder wünschte, lieber die Cheerleaderin oder Ballkönigin zu sein. Nicht, dass sie eine von diesen hirnlosen blonden Schönheiten sein wollte. Ihre Mutter war Lehrerin und sowohl hübsch als auch klug. Verflixt, Becca war froh darüber, das dunkelbraune Haar und das Köpfchen ihrer Mutter zu haben, und sie war stolz auf ihr NASA-Stipendium. Ihre Eltern waren stolz auf sie, und nur das zählte.

Entschlossen, seine Bemerkung einfach zu übergehen, schob sie ihm das Blatt wieder hin. »Versuchen wir’s noch einmal.«

»Nein, damit bin ich fertig«, entschied er. »Ich werde mit meinem Trainer reden. Er muss mich vom Zulassungstest abmelden.«

»Dich vom Test abmelden?«, fragte sie. »Das kann nicht dein Ernst sein.«

Er stand auf. »Mein heiligster Footballer-Ernst.« Und mit dieser klugen Bemerkung machte er sich auf den Weg zur Tür.

Becca warf ihren Bleistift hin und seufzte. Bitte, mach, dass der Sommer vorbeigeht. Sie konnte es gar nicht erwarten, nach Houston und ins College zu kommen.

Der Stuhl vor ihr bewegte sich, und der Snickers-Riegel schob sich in ihr Gesichtsfeld. »Du siehst ganz so aus, als würdest du das hier dringend brauchen.«

Sterling nahm ihr gegenüber Platz. Seine blaugrünen Augen bildeten einen grellen Kontrast zu den abstehenden blonden Haaren. In genau diesem Moment beschloss sie, dass ihr Ziel für diesen Sommer darin bestand, vor ihrer Abreise nach Houston wenigstens ein einziges Mal mit den Fingern durch dieses Haar zu fahren. Und ihn zu küssen. Sie wollte ihn unbedingt küssen.

»Der kluge und zuverlässige Mann bringt einer Burns Schokolade, wenn sie ungehalten ist. Die Jungs schwören darauf, dass das eine bessere Überlebensstrategie darstellt als alles, was sie in der Grundausbildung gelernt haben.« Sowohl ihr Vater als auch ihr Bruder waren Berufssoldaten, wie es auch ihr Großvater gewesen war. Sie griff nach dem Schokoriegel. »Danke, Sterling.«

Er schnappte sich das Arbeitsblatt, das Bobby liegen gelassen hatte, und begann sich mit einer solchen Leichtigkeit einer Algebra-Aufgabe zu widmen, dass sie annahm, dass er einfach nur draufloskritzelte. Sie plauderten weiter, während sie auf ihren nächsten Nachhilfeschüler wartete, und in ihr festigte sich die Überzeugung, dass er überhaupt das Allerbeste ihrer sommerlichen Wartezeit aufs College war. Er kümmerte sich um seine Großmutter und verdiente für sie beide etwas Geld, indem er Computer programmierte. In ihren Augen ließ ihn das ungeheuer nett erscheinen.

Als es fast Zeit für das Erscheinen ihres nächsten Schülers war, ließ er von dem Arbeitsblatt ab und blickte sie an. »Ich sollte jetzt gehen.«

»Okay.« Verdammt, sie wollte eigentlich nicht, dass er ging.

Er ging nicht. Er blieb sitzen und starrte sie an. Irgendetwas lag in der Luft – sie wusste nicht, was –, aber es ließ ihren Magen flattern.

»Willst du Freitagabend ins Kino gehen oder sonst was unternehmen?«

Sie lächelte sofort; ihr war klar, dass sie sich eigentlich ein wenig zieren müsste – schließlich war Sterling älter und viel erfahrener –, aber sie wusste nicht, wie sie das am besten anstellen sollte. Sich mit Jungs zu verabreden gehörte nicht gerade zu ihren Stärken.

»Ja«, sagte sie. »Ich würde gern ins Kino gehen.«

Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Und zwar mit mir, nicht wahr?«

Sie lachte. »Ja, mit dir.«

Sobald sie sich für Freitagabend um sieben in der Bibliothek als Treffpunkt verabredet hatten, kehrte Sterling zu seinen Computern zurück. Sie warf einen Blick auf die Rechenaufgaben, mit denen er sich beschäftigt hatte, und musste gleich noch einmal lächeln. Er hatte alle Aufgaben richtig gelöst. Gut aussehend und klug. Sie könnte sich glatt in ihren scharfen Cowboy verlieben.

Mit einem Lächeln auf den Lippen ließ Sterling seinen zerbeulten schwarzen Ford F150 in die Zufahrt zu dem nicht minder demolierten Wohnwagen brettern, den er sein Zuhause nannte, und würgte den Motor ab.

Er lehnte sich im Sitz zurück und zog das Bündel Bargeld aus der Tasche. Zehntausend Dollar und eine Verabredung mit Becca für morgen Abend. Er würde sie küssen, um festzustellen, wie Sonnenschein mit Honig schmeckte, denn daran erinnerte sie ihn. Oh ja! Das Leben war schön.

»Yeah«, flüsterte er und blickte wieder auf das Geld. Welcher Neunzehnjährige hatten so viel Knete? Sein neuer Job gefiel ihm. Einen Computer hacken, Bares einstecken. Er schnaubte verächtlich. »Und da behaupten sie, dass die Datenbanken der Regierung nicht gehackt werden können.« Er, der dreckige Wohnwagen-Penner, hatte bewiesen, dass sie sich irrten. So hatten die anderen in der Schule ihn genannt, als seine Großmutter wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit verhaftet worden war: Wohnwagen-Penner, Sonderling. »Leckt mich«, murmelte er an all diese Stimmen der Vergangenheit gewandt. »Ihr könnt mich alle mal.«

Sobald Sterling das Geld durchgezählt hatte, bis die Zehntausend voll waren, griff er sich einen Hunderter für sein Date mit Becca und stopfte den Rest zurück in die Tasche. Dann schnappte er sich den Blumenstrauß vom Sitz. Den Snickers-Riegel wollte er erst für sich selbst liegen lassen, besann sich dann aber doch eines Besseren. Immerhin hatte es bei Becca mit den Süßigkeiten funktioniert. Und jetzt würde er alles brauchen, was er an schmeichelnder Süßigkeit aufbieten konnte, um seine Großmutter zu überreden, sich in die schicke Entzugsklinik in Temple, Texas, zu begeben, in der er einen Platz für sie reserviert hatte. Die Klinik lag sogar ganz in der Nähe, nur dreißig Kilometer weit weg, und er hoffte, dass ihm das helfen würde, sie zu überzeugen. Sie würde ihn verfluchen und wahrscheinlich schlagen. Darin war sie gut, aber es tat nicht mehr weh. Seit Jahren nicht mehr.

Er wusste, dass sie sich nicht selbst helfen konnte. Er hatte genug über Alkoholismus gelesen, um zu verstehen, dass sie krank war. Doch trotzdem hatte sie ihn großgezogen. Verdammt, er war wahrscheinlich selbst schuld an alledem. Er war der Grund, warum seine Mutter gestorben war – der Auslöser, der seine Großmutter auf die schiefe Bahn gebracht hatte.

Er stieg aus dem Pick-up und legte pfeifend die paar Schritte zu dem Wohnwagen zurück. Aber sobald er ihn betrat, verstummte sein Pfeifen. Oma saß auf dem Sofa, in demselben verknitterten blauen Kleid, mit dem sie ins Bett gegangen war, eine große Flasche Wodka in der Hand. Zwei Männer in Anzügen saßen neben ihr.

»Sieh mal, was diese Männer mir mitgebracht haben«, sagte sie grinsend und hielt ihre Beute hoch.

»Wir wissen, dass du dich mit Hingabe um deine Großmutter kümmerst«, sagte einer der Männer, dessen kurz geschorenes Haar eng an seinem Schädel anlag.

»Ganz ähnlich hat sich auch dein Vater um seine Familie gekümmert«, ergänzte der andere Mann, der wie ein Klon des ersten wirkte. Sie mussten Soldaten oder Staatsbedienstete sein.

Verdammte Scheiße!

»Die Ähnlichkeit zwischen euch beiden ist wirklich erstaunlich«, befand der erste Mann und griff nach einem Bild von Sterlings Vater, auf dem er vor einem Hubschrauber stand. Weil er kein normaler Soldat gewesen war, hatte er sein blondes Haar länger getragen, als es eigentlich hätte sein dürfen. Er hatte einer Sondereinheit angehört, die überall auf dem Globus verdeckt eingesetzt worden war. Und seine Tätigkeit hatte ihn umgebracht, als Sterling kaum aus den Windeln heraus war. Der Mann stellte das Foto wieder auf den Couchtisch zurück.

Oma schnappte sich das Bild und murmelte: »Sie sind einander wie aus dem Gesicht geschnitten.« Dann hob sie den Blick und mit ihm die Stimme. »Aber Sterling hat keinen Schimmer, wer sein Daddy eigentlich war. Der Mann war nie hier. Und seine Mama auch nicht.« Sie nahm einen Schluck. »Sie sind gestorben. Nicht wahr, Ster… ling?«

Der Offizier konzentrierte sich auf Sterling. »Wir glauben, dass du ihm sehr ähnlich bist. Zum Beispiel habt ihr beide ein Interesse an offiziellen Regierungsgeschäften gezeigt.«

Sterlings Eingeweide verkrampften sich. Er war aufgeflogen. Ganz gründlich aufgeflogen, und er würde ins Gefängnis müssen. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« Er würde nichts zugeben. Er würde sich nicht kampflos geschlagen geben. Er musste sich um seine Großmutter kümmern.

»Weißt du«, sagte der zweite Mann, »wenn man seinem Land dient, kann einem eine Menge verziehen werden. Unter gewissen Umständen empfiehlt es sich, zur Army zu gehen.«

Der erste Mann nahm Oma das Foto ab. »Ich bin Hauptmann Sherman, mein Junge.« Er nickte in Richtung des zweiten Mannes. »Das ist Oberleutnant Jenson. Wir haben mit deinem Vater gedient.«

Dank sei Gott im Himmel. Sie waren nicht vom FBI. »Was wollen Sie von mir?«

Der Hauptmann antwortete: »Dein Vater war Teil einer Sondereinheit, in der gewisse ›Fähigkeiten‹ – sagen wir: Computerkenntnisse – nützlich sein können.« Er legte Oma den Arm um die Schultern. »Als Gegenleistung für den Dienst in dieser Einheit sorgen wir dafür, dass man sich gut um deine Familie kümmert. Es wird Zeit, dass du in die Army eintrittst, Junge. Gib alles, was du kannst, wie es auch dein Vater getan hat.«

Oma nahm einen Zug aus der Flasche, und plötzlich wurde Sterling bewusst, dass er immer noch die Blumen in der Hand hielt – diese verdammten Blumen, die sein Problem ebenso wenig lösen würden wie das Bündel Geldscheine in seiner Tasche.

»Und wenn ich Nein sage?«, fragte er.

»Ich kann mich gar nicht erinnern, dich gefragt zu haben«, antwortete der erste Mann.

»Ich bin kein Soldat«, betonte Sterling. Er war nur ein Junge in einer Wohnwagensiedlung, der wusste, wie man einen Computer hackte.

»Du bist deines Vaters Sohn«, gab der Mann zurück. »Merk dir, was ich dir sage, Junge. Wenn ich mit dir fertig bin, bist du ein Soldat.«

Sterling blickte seine Großmutter an und sah, wie sie aus der Flasche trank, sah ihre Augen, die blaugrün waren wie die seinen – das einzige Vertraute, was geblieben war. Er sah den Anflug von Verachtung, der in den Tiefen dieser Augen lauerte – die Schuldzuweisung am Tod seiner Mutter, die auch der Schnaps niemals ganz zu ertränken vermochte. In diesem Moment begriff Sterling, dass es das Beste war, was er für sie tun konnte – sie allein zu lassen und ihr eine Chance auf Heilung zu geben. So weit wie möglich von ihr wegzugehen und dort auch zu bleiben.

Er blickte zu dem Mann rechts von ihr und fixierte ihn mit einem auffordernden Blick. »Es wird sich auch wirklich jemand um sie kümmern?«

»Ich gebe dir mein Wort.«

»Hören Sie«, fuhr er fort. »Ich kenne Sie überhaupt nicht. Ich möchte das schriftlich haben.«

Ein Hauch von Respekt legte sich über die Züge des Mannes. »Womit du nur recht hast.«

»Ich vermute beinahe, dass Sie nicht noch bis übermorgen warten könnten, um mich zu verpflichten und wegzubringen?«

Zur Antwort musterten sie ihn mit ausdruckslosen Gesichtern.

»Nein? Das habe ich mir gedacht.«

Sein Rendezvous mit Becca war offiziell abgesagt.