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Auf keinen Fall würde Sterling zulassen, dass Becca mit dem, was da in Zodius City vorging, allein fertigwerden musste. Als der Feueralarm losging und Wasser auf ihn herabregnete, tat er endlich, was er seit Stunden hatte tun wollen: Er zerschlug das elektronische Steuerfeld an der Tür und entriegelte sie, dann begab er sich durch den verlassenen Flur zum Labor. Er wusste genau, wohin er gehen musste. Schließlich hatte dieser Bereich von Zodius City schon existiert, als hier noch Area 51 und somit seine Arbeitsstelle gewesen war, und außerdem hatte er die Lagepläne genau studiert, die ihnen Michael beschafft hatte, während er verdeckt als Adams Stellvertreter operiert hatte.

Eine Treppe weiter unten blieb er einen Moment an einer Tür stehen. Dann öffnete er sie, nur um festzustellen, dass sie von irgendetwas blockiert wurde. Verdammt. Hinter der Tür lag ein Zodius-Soldat, mit dem Gesicht nach unten. Was war hier passiert, und wo war Becca gewesen, als es geschah? Sterling wirbelte zurück und warf sich mit voller Wucht gegen die Tür. Die Wasserpfütze an ihrer Schwelle sorgte für zusätzlichen Widerstand. Es gelang ihm, die Tür weit genug aufzudrücken, damit er einen Blick in den leeren Korridor werfen konnte, bevor er durch den Türspalt hindurchglitt. Er bückte sich, nahm dem Soldaten seine Waffen ab und strich sich das nasse Haar aus der Stirn, während das Wasser unerbittlich weiter über sein Gesicht rann.

Er fiel in Laufschritt, sprang über zwei weitere mit dem Gesicht nach unten liegende Zodius-Soldaten hinweg und bog um die Ecke. Die Labortür stand offen. Sein Inneres krampfte sich zusammen, als er hindurchtrat, und er wagte nicht zu atmen, bis er sich davon überzeugt hatte, dass keiner der sechs Körper im Labor Becca war. Angst um sie machte sich in ihm breit und schnürte ihm die Kehle zu.

Sein Blick fiel auf den Computer neben der Tür, um ihn eine Pfütze aus Wasser. Ohne große Hoffnungen steuerte er auf den Rechner zu, legte seine Waffen ab und betätigte ein paar Tasten. Gegen alle Wahrscheinlichkeit erwachte der Bildschirm zum Leben, und Sterling konnte seine Zauberkünste spielen lassen. Es dauerte keine Minute, da hatte er die Überwachungskameras im Blick, mehrere Fenster gleichzeitig geöffnet und sich vergewissert, dass, was auch geschehen war, auf diesen Bereich der Stadt begrenzt blieb. In einem weiter entfernten Flur sammelten sich Soldaten, und Sterling zweifelte nicht daran, dass es hier nur deshalb nicht ebenfalls von ihnen wimmelte, weil das, was immer den Alarm ausgelöst und alle außer ihm und Becca flachgelegt hatte, auch den Überwachungskameras verborgen geblieben war.

Er schaltete sich durch einige weitere Kameras und hätte vor Erleichterung am liebsten laut aufgeschrien. Becca lebte und war unterwegs. Er tippte einen Code ein, um die Überwachungskameras auszuschalten, dann griff er sich seine Waffen. Seine anschließende Durchsuchung des Labors nach Ice blieb ohne Erfolg. Fluchend lief er Becca hinterher und schwor sich, in der Stadt einen Dealer und das Ice zu finden, das Becca brauchte.

Becca war in einem unterirdischen Belüftungstunnel unterwegs, von dem Sterling wusste, dass er zu einem verlassenen Areal in der Nähe eines Highways führte. Offensichtlich war sie nicht auf den Kopf gefallen und hatte diesen Weg durch eigene Überlegung gefunden. Oder sie war ein kalkuliertes Risiko eingegangen.

Er zog die Stahltür zum Tunnel auf und kletterte hinein, dann schloss er die Tür sorgfältig hinter sich. Er wagte es nicht, nach ihr zu rufen, aus Angst, von den anderen gehört zu werden. Doch je weiter er kam, ohne auf eine Spur von Becca zu stoßen, desto größer wurde seine Sorge. Als er das Tunnelende erreichte, blickte er sich draußen um, nur um festzustellen, dass Becca nirgends zu sehen war. Er hatte sie erneut verloren, und ihr lief die Zeit davon. Er wusste nicht, ob sie Ice-Nachschub bei sich hatte, und er hatte kein Serum.

Sobald die Feuerlöschberieselung ausgeschaltet und die Aufnahmen der Überwachungskameras analysiert worden waren, betrat Adam mit Dorian an seiner Seite das Labor. Beim Anblick seines bewusstlos auf dem Boden liegenden zweiten Mannes verzog er angewidert das Gesicht. Dieses nichtsnutzige Stück Scheiße. Die Hälfte der anderen Männer, die sich, dank Rebecca Burns, ein Nickerchen hatten gönnen dürfen, war bereits wieder wach, aber Tad lag noch immer schlafend in einer Pfütze. Adam versetzte ihm einen Tritt.

»Steh auf, du Idiot. Steh sofort auf!«

Tad setzte sich ruckartig auf, einen benommenen Ausdruck im Gesicht. »Verdammte Scheiße, was zum Henker ist passiert?« Er sprang auf und blickte sich um, sah einige der Wissenschaftler noch auf dem Boden liegen, genau wie auch er eben noch gelegen hatte. »Wo ist …«

»Sag du es mir!«, herrschte ihn Adam wütend an. »Sie und Sterling sind verschwunden. Wie konnte es gehen, dass deine Gefangene euch alle flach auf die Ärsche gelegt hat, ohne einen Finger zu rühren? Und jetzt ist sie verschwunden, und die Kameras sind ausgeschaltet. Wie kann so etwas passieren, wenn mein zweiter Mann hier vor Ort ist? Außerdem, du Idiot, sie hat deine Ausweiskarte genommen, um aus dem Labor zu kommen.« Adam gab Dorian ein Zeichen und deutete dann auf die noch schlafenden Männer. »Weck sie alle.«

Dorian begann sogleich, die Männer mit der Wucht eines wütenden Elefanten zu treten. Trotz seines Ärgers wirkte das Schauspiel unwillkürlich erheiternd auf Adam.

Die Türen zum Labor wurden geöffnet, und der führende Wissenschaftler des Ice-Programms kam in den Raum geeilt, den Laborkittel säuberlich zugeknöpft, die Brille auf der Nasenspitze. Adam hatte Wunder erwartet, als er General Powell diesen brillanten chinesischen Wissenschaftler vor der Nase weggeschnappt hatte. Was er bekommen hatte, war Ice in all seiner rasch schwindenden Herrlichkeit. Nun ging ihm Chin auf die Nerven, und er würde Adams Gastfreundschaft bald überstrapaziert haben, wenn er nicht aufpasste.

»Ich bin gerade damit fertig geworden, mir das Material der Überwachungskameras anzusehen«, begann Dr. Chin. »Die Frau hat Gegenstände im Labor durch die Luft schweben und die Männer ohnmächtig werden lassen. Es ist wirklich bemerkenswert; so etwas haben wir bisher noch nicht beobachtet.«

Adam knirschte mit den Zähnen und konnte dem Drang, dem Mann das Genick zu brechen, nur mit Mühe widerstehen. »Noch eine weitere Nebenwirkung von Ice, über die wir hätten Bescheid wissen sollen.«

Chin schob sich die Brille auf die Nase. »Tausende Menschen haben Ice genommen, und keiner hat auch nur annähernd ähnliche Fähigkeiten entwickelt, wie sie diese Frau gezeigt hat. Vielleicht liegt es an einer Wechselwirkung des Ice mit den Medikamenten ihrer vorausgegangenen Krebstherapie. Ich brauche die Frau und ihre Krankenakten aus dem deutschen Krankenhaus, um mich vergewissern zu können.« Er hob eine Hand. »Ich will nichts versprechen, aber sollte sich meine Theorie als richtig erweisen, könnten wir das Ice mit diesen Behandlungsmethoden kombinieren und dadurch die Fähigkeiten der Frau in unseren Männern nachbilden. Aber wir müssen sie schnell aufspüren, bevor der Ice-Entzug sie umbringt. Die Kameraaufnahmen haben festgehalten, dass sie einen kleinen Vorrat mitgenommen hat, aber das reicht ihr nicht länger als bestenfalls einige Tage.«

Für Adam kam es nicht infrage, dass irgendjemand jene Art Macht besaß, über die diese Frau verfügte; es sei denn, er selbst. Und nur er. Er richtete den Blick auf Tad. »Finde sie und bring sie um. Bring Chin ihren Leichnam, damit er ihn untersuchen kann.«

»Ich brauche sie lebend«, wandte Chin ein.

»Und ich will sie tot«, sagte Adam. »Sofort, bevor sie als Waffe gegen uns eingesetzt werden kann – also bevor Sterling es schafft, sie nach Sunrise City zu bringen und sie unter den Schutz meines Bruders zu stellen.«

Er warf den tropfnassen Wissenschaftlern einen finsteren Blick zu. »Ihr habt mich alle enttäuscht, und das hat seinen Preis.« Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Tad. »Töte sie, und dir ist verziehen. Vermassel die Sache … und du wirst Schlimmeres zu erleiden haben als sie alle zusammen.«

Als Becca den Highway erreicht hatte, zog sie ihre Jacke aus und verbarg die Waffe darunter. Mit rudernden Händen rannte sie vor einen herankommenden Lastwagen und betete, dass der Fahrer anhielt. Ihr Herz raste, während er näher und näher kam. Als der Sattelschlepper nur Zentimeter vor ihr mit quietschenden Reifen anhielt, entschlüpfte ihr ein gewaltiger Seufzer.

Zitternd rannte sie zur Beifahrertür. Als die Tür aufsprang, erwischte sie ihre Jacke – und fegte die Ice-Ampullen darin zu Boden. Nein! Oh nein! Sie bückte sich und versuchte zu retten, was zu retten war, aber sie waren zerbrochen. Sie hatte verloren, was sie hätte am Leben halten können.

»Kommen Sie jetzt rein, junge Frau?«, fragte der Lastwagenfahrer.

»Ja«, antwortete sie. Ihr blieb nichts anderes übrig. Sie konnte nicht zurück; sie konnte nur nach vorn und beten, dass sie irgendwo auf der Straße einen Vorrat an Ice fand. So oder so war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie sterben würde, aber sie wollte verflucht sein, wenn sie den Löffel abgab, bevor sie Adam daran hindern konnte, noch weiteren Menschen Leid anzutun.

Sie kletterte in den Laster und begann irgendwas von einem verrückten Freund zu faseln, der sie am Straßenrand hatte stehen lassen, während sie tatsächlich nur noch daran denken konnte, dass sie ihren ganzen Ice-Vorrat verloren hatte. Das Ice ist weg. Sterling war weg. Er hatte sie verraten, rief sie sich ins Gedächtnis. Er war nicht das, was er zu sein schien. Er war nie ihr Freund gewesen, niemals ihr Geliebter, und Gott sei dafür gedankt.

Aber als sich ihr Blick auf die Straße richtete und sie sich weiter und weiter von ihm entfernte, ertappte sie sich dabei, dass sie sich jeden Moment mit ihm noch einmal ins Gedächtnis rief und nach seinen wahren Absichten fragte. Ganz gleich, wie gut sie es auch vor sich selbst zu rechtfertigen wusste und wie überzeugend sie sich einredete, dass sie ihre einzige Chance genutzt hatte, Zodius City lebend zu verlassen und die Welt vor Adam zu warnen – es tat weh, ohne Sterling zu gehen.