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»Sterling!«, schrie Becca, während sie sich gegen den Griff des Mannes wehrte, der sie vom Haus wegtrug – jenes Mannes, der im Schlafzimmer auf Sterling geschossen hatte. Sie drehte und wand sich verzweifelt.
Ihr Blick wanderte über die bullige Schulter ihres Peinigers hinüber zu Sterling, und sein Anblick brachte einen Moment der Hoffnung. »Sterling!«
Er sah sie. Sie war sich sicher. Aber dann stolperte er. Er fiel. Becca schrie auf, begriff, dass er erneut getroffen worden war, und sah, wie eine Gruppe Soldaten auf ihn zustürmte. Sie betete, dass es seine Männer waren, dass sie ihn retten würden. Um ihretwillen hatte er diese Kugeln in Kauf genommen. Eigentlich sollte sie sterben, nicht er – und sie kämpften mit dem Tod.
Diese Ungerechtigkeit und die Angst um Sterling schnitten ihr ins Fleisch, und das Adrenalin ließ sie wieder aktiv werden. Sie kämpfte gegen den großen, stämmigen Mann, der sie festhielt – mit Zähnen, Nägeln, Fäusten. Sie kämpfte um ihr Leben, kämpfte darum, zu Sterling zurückzukommen. Gott, er würde sterben. Sie wusste es einfach. Sie musste Hilfe holen.
»Verfluchtes Biest«, murmelte der Mann, der sie festhielt, dann warf er sie auf die Ladefläche eines Lastwagens, der hinter ihrem Haus aufgetaucht war. Sie flog über harten Stahl und schlug keuchend gegen die Wand. Der Aufprall ließ ihre Knochen scheppern. Irgendwie rappelte sie sich in eine sitzende Position hoch – gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie ihr Sterlings blutender, gebrochener Körper über die Ladefläche entgegengeworfen wurde. Er zog eine Blutspur hinter sich her. So viel Blut … zu viel Blut.
Sie kroch zu ihm hinüber, nur um zu merken, dass der große Mann nun über ihr stand, als habe er sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegt. Er packte ihr Haar, griff sich ein großes Büschel und riss ihren Kopf zurück.
Dann holte er eine Ampulle mit einer durchsichtigen Flüssigkeit hervor. »Schluck das.«
»Nein!« Sie versuchte, den Kopf zu schütteln, und er zog weiter an ihrem Haar. »Nein!«
Eine Waffe erschien in seiner Hand, und er richtete sie auf Sterlings Kopf. »Eine Kugel ins Gehirn wird er nicht überleben. Du hast die Wahl. Soll er leben oder sterben?«
Er meinte es ernst. Sie sah es in seinen Augen. Er hasste Sterling und wollte ihn töten, falls ihm das nicht schon gelungen war. Auf dem Stahlboden hatte sich eine große Lache mit Sterlings Blut gebildet – zu groß, als dass er überleben konnte. Zu viele Kugeln steckten in seinem Fleisch, aber sie konnte – wollte – ihn nicht aufgeben.
»Gut, ich nehme es.« Sie streckte die Hand aus und erntete ein hämisches Lächeln. Der Mann legte seine Waffe weg und reichte ihr die Ampulle, aber der unbarmherzige Griff um ihr Haar wurde noch fester.
Becca ließ die kühle Flüssigkeit ihre Kehle hinablaufen und hustete, als ein eisiges Gefühl sie regelrecht schüttelte. Es brannte in ihrer Kehle, aber mehr wie Feuer als wie Eis – Ice. In der nächsten Sekunde brannte es auch in ihren Lungen.
Der Mann hockte sich neben sie, drückte seinen gewaltigen Körper dicht an sie heran und hielt seine Lippen an ihr Ohr. »Ich heiße Tad, und ich bin der Mann, der gerade deinen Krebs geheilt hat und zu deinem Drogendealer geworden ist. Das macht mich zu deinem neuen Sugar Daddy.« Er hielt eine weitere Ampulle Ice in die Höhe. »Wenn du zu zittern anfängst und einen weiteren Hit brauchst, werden wir darüber reden, welche Bezahlung wir als Gegenleistung erwarten. Und nur damit du Bescheid weißt und nicht etwa auf die Idee kommst, uns untreu zu werden: Falls du nur eine einzige Dosis deines neuen Heilmittels auslässt, wirst du an den Entzugserscheinungen sterben. Mit anderen Worten, du gehörst uns.« Er machte eine Bewegung auf Sterling zu. »Nicht ihm. Keinem von seinesgleichen.«
Seinesgleichen. Becca hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte. Er ließ sie los, stand auf und starrte mit einem dunklen, wollüstigen Blick auf sie herab, der dem Ice in ihren Adern eine geradezu arktische Kälte verlieh. Als er sich endlich abwandte, nahm sie nur noch eine verschwommene Bewegung wahr, dann krachten die Stahltüren zu und sperrten sie ein. Auf sie hatte das die gleiche erstickende Wirkung, als sei ihr eigener Sargdeckel über ihr zugeschlagen. Nur ein kleines Licht flackerte oben an der Decke.
Sie grub die Finger in Sterlings Hemd und spürte sein nasses, dickflüssiges Blut auf der Haut. Angst und Wut überschlugen sich in ihr, explodierten in einem wilden Brüllen aus ihr heraus. »Wer seid ihr?«
Die einzige Antwort war das Geräusch ihres schweren Atems. Es füllte den Lastwagenanhänger aus, prallte von den Wänden ab und zu ihr zurück. Ihr Körper kribbelte, ihre Lungen dehnten sich, und sie spürte, wie die Luft sie ohne einen Anflug von Schmerz oder Unbehagen füllte, durch sie hindurchströmte. Aber sie empfand keine Hoffnung, keine Freude. Die Heilung war eine trügerische, von Drogen herbeigeführte Fassade, und sie war von einem Albtraum umgeben.
»Wach auf«, flüsterte sie und presste die Hände auf Sterlings Körper, auf sein Gesicht, und das verfluchte Blut klebte an ihren Händen. »Wach auf! Verdammt, Sterling, wach auf!« Sie brach über ihm zusammen, drückte ihr Ohr an seine Brust und suchte verzweifelt nach einem Herzschlag. Als sie ihn fand, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus. Langsam entspannte sie sich an seiner Seite, und sein leiser, rhythmischer Herzschlag beruhigte sie, selbst als sich der Lastwagen nun in Bewegung setzte. Es war das Letzte, an das sie sich erinnerte, bevor sie das Bewusstsein verlor.
Sterling erwachte abrupt, aber er bewegte sich nicht, atmete nicht einmal. Seine Ausbildung und seine Instinkte sorgten dafür, dass seine Lider sicher geschlossen blieben und er sich zunächst einmal auf die Wahrnehmung des harten, unnachgiebigen Betons unter sich konzentrierte. Verstohlen atmete er ein und fühlte mit seinen verschärften GTECH-Sinnen um sich – um auf einen vertrauten Duft zu stoßen, von dem er gehofft hatte, ihn nie wieder riechen zu müssen: Area 51, jetzt Adams Zodius City.
Sein Hemd war verklebt, aber sein GTECH-Immunsystem hatte funktioniert – bemerkenswert, wenn man bedachte, wie viele Green Hornets in ihn hineingeschossen worden waren. Seine Wunden schienen fast verheilt. Zwei Dinge schloss er daraus: Sein Körper hatte, um zu heilen, mindestens zwölf Stunden Schlaf gebraucht. Vielleicht sogar das Doppelte. Und damit das geschehen konnte, hatte irgendjemand die Green Hornets aus seinen Wunden gepult und ihm eine Injektion Vitamin C verpasst, um den für GTECHs typischen chronischen Mangel auszugleichen, der sich während des Heilungsprozesses noch bedeutend verschlimmerte.
Er atmete tiefer ein, und ein anderer Duft drang in seine Nase, lieblicher, süßer. »Becca.« Ruckartig richtete er sich auf, den Rücken gegen die Betonwand gedrückt, und fand sich allein in einer Art Glaskäfig mit Blick auf ein Labor, in dem mehrere Weißkittel arbeiteten.
Er ließ den Kopf gegen die Wand fallen, presste die Augen fest zusammen und wollte durch bloße Willenskraft erzwingen, dass sie noch lebte – er würde sie finden und schleunigst mit ihr von hier verschwinden.
Ein in der Ecke hängender Bildschirm erwachte flimmernd zum Leben, und Sterling richtete den Blick darauf, nur um beim Anblick von Tad, der über Beccas schlaffem Körper kniete, unwillkürlich aufzuspringen – Tad, der unmissverständlich eine Ampulle Ice in der Hand hatte und sie Becca gerade in die Kehle schüttete. Jetzt drehte er sich zum Monitor um und lächelte, während er zugleich Becca durchs Haar strich.
»Du Mistkerl!«, brüllte Sterling. Jeder Nerv in seinem Körper stand in Flammen, aus jeder Pore kochte sein Zorn. »Ich werde dich umbringen. Ich werde dich umbringen und es genießen.«
Tad kam näher an die Kamera heran. »Du kannst dir sicherlich vorstellen, was ich alles so mit ihr vorhabe.« Der Bildschirm wurde schwarz, und die Türen hinter Sterling glitten auf.
Er wirbelte herum, bereit, sich auf den Besucher zu stürzen, und sah sich zwei Wölfen gegenüber, die ihn angriffslustig anknurrten. Adams Wölfe. Seine Macht über diese Raubtiere war bekannt, und genauso bekannt war, dass er sie zu Bestrafungs- und Unterhaltungszwecken einsetzte. Stell dich Adam entgegen, schau ihn auch nur falsch an, und du endest in einem Kolosseum im Stil des Alten Rom unter Area 51. Dort kämpfte man dann unter den Augen Tausender Zodius-Bürger gegen die Wölfe. Und wo Wölfe waren, da war … Adam.
Bekleidet mit einem Wüstentarnanzug betrat Adam den Raum und ließ die Glaswand hinter sich offen. Fast einen Meter neunzig groß, mit muskulösem Körper und hellbraunem Haar, war er der böse Doppelgänger seines Bruders, als hätte das GTECH-Serum sie irgendwie in Gut und Böse aufgeteilt.
»Du willst mich umbringen«, sagte Adam und musterte Sterling mit einem Lächeln auf den Lippen.
»Und ob ich das will, verdammt«, knirschte Sterling mit zusammengebissenen Zähnen.
»Du willst mich wegen dieser Frau umbringen.«
»Es gibt viele Gründe, dich umzubringen«, erwiderte Sterling vorsichtig, überzeugt, dass dieses Gespräch rasch einen üblen Verlauf nehmen würde. »Möchtest du, dass ich dir die Gründe aufzähle, oder soll ich dir lieber von den vielen Methoden erzählen, die ich mir fürs Umbringen überlegt habe?«
Adam brüllte vor Lachen. »Du hast den Mumm, hier in meinem Käfig, in meiner Welt zu stehen und es zu wagen, mich zu bedrohen. Du gefällst mir, Sterling.« Er lehnte sich gegen die Wand, und die Wölfe ließen sich zu seinen Füßen nieder. »Wichtiger noch – meinem Bruder gefällst du auch. Er mag dich und wird dich nicht tot sehen wollen, wenn wir uns schließlich versöhnen, um gemeinsam zu herrschen.«
»Er wird eher sterben, als sich dir anzuschließen.«
»Früher oder später wird er aufhören, gegen die Wahrheit anzukämpfen: dass ich in ihm bin, so wie er in mir ist«, sagte Adam und neigte den Kopf, um Sterling ins Auge zu fassen. »Wusstest du, dass deine kleine Rebecca Burns ihre erste Dosis Ice nur deshalb genommen hat, weil Tad dir eine Waffe an den Kopf hielt? Die Ironie besteht darin, dass das Ice ihren Krebs kuriert. Noch ein paar weitere Dosen, und sie sollte so gut wie neu sein.«
Sterling überlief es kälter als Ice, seine Gefühle ein einziges Chaos widersprüchlicher Regungen. Der Krebs wurde geheilt, aber Rebecca war süchtig nach Ice. Und genau wie beim ursprünglichen Serum gelang es niemandem, die Zusammensetzung von Ice herauszufinden, um es nachbauen zu können. Das machte Adam so lange zu Beccas einziger Überlebensmöglichkeit, bis ein Mittel gegen die Abhängigkeit gefunden war.
»Natürlich«, fuhr Adam fort, »besteht das Risiko, dass sie am Entzug stirbt, sollte sie das Ice absetzen, ganz zu schweigen von dem Risiko, dass dann ihr Krebs zurückkehren könnte. Ich bin mir sicher, du siehst das ganz genauso. Sie sollte da keine Risiken eingehen.«
»Du bist ein Bastard, Adam.«
»Aber ich bin der Bastard, der sich als ihr Held entpuppt.«
Zorn ballte sich in ihm zusammen, und Sterling machte einen Satz vorwärts. Die Wölfe knurrten und versperrten ihm den Weg.
»Du willst sie haben«, sagte Adam. »Gut. Ich werde sie dir geben. Ich werde Tad und all die anderen Männer von ihr fernhalten. Kann ich machen. So gern meine Frau sie für die Fruchtbarkeitstests haben würde, ich werde es ihr nicht erlauben.« Er machte eine Pause und ließ seine Worte in dem Schweigen nachhallen.
Sterlings Finger verkrampften sich, und seine Gedanken schlugen genau den vorgegebenen Weg ein. Er dachte an die Sexlager, wo die Frauen von Soldat zu Soldat weitergereicht wurden in der Hoffnung, dass einer von ihnen das seltene Lebensband fand, das ihn ergänzte und ihm erlaubte, Nachkommen zu zeugen.
»Du kannst sie vor einem solchen Schicksal retten«, offerierte Adam mit einem verschlagenen Blick. »Sie wird dir und nur dir allein gehören, und du brauchst nicht einmal die Geheimnisse meines Bruders zu verraten, um sie zu bekommen.«
Klar doch. Und Präsident der Vereinigten Staaten würde Sterling natürlich auch noch werden. Adam wollte ihn manipulieren, spielte sein Spiel, um zu bekommen, was er wollte. »Komm zur Sache, Adam.«
»Tote Ice-Süchtige nutzen mir nichts. Und auch keine Junkies, die an nichts anderes mehr denken können als an ihren nächsten Hit. Ich will sie süchtig, aber klar im Kopf und unter meinem Kommando. Becca wird meinen Absichten besser dienen können, wenn sie es aus freiem Willen tut. Du musst dafür sorgen, dass dem so ist. Solange du zusichern kannst, dass sie kooperiert, fasst sie keiner außer dir an.«