6

Fünf Minuten nach Einnahme der Dosis Ice, die Tad für sie dagelassen hatte, hatte Beccas Zittern aufgehört. Jetzt, eine Stunde später, saß sie an ihrem silbernen Küchentisch und studierte Forschungsmaterial, das man ihr vor ihrem Eintreffen offensichtlich extra bereitgelegt hatte. Der Raum war sogar mit Toilettenartikeln, Make-up und Kleidung ausgestattet – darunter auch das T-Shirt und die schwarze Jeans, die sie jetzt trug. Anscheinend sollte diese Fassade von Komfort eine Belohnung dafür darstellen, dass sie Adam bereitwillig half, das gewünschte Serum zu entwickeln – als könnten diese Annehmlichkeiten die abgeschlossene Vordertür vergessen machen, die ihnen unentwegt förmlich entgegenschrie, dass sie Gefangene waren.

»Du musst essen«, sagte Sterling, als er aus der Küche zurückkam, um sich ihr gegenüberzusetzen. Er warf einen missbilligenden Blick auf ihr bestenfalls angenagtes Sandwich.

Becca blinzelte ihn an und fragte sich, wie um alles in der Welt es gekommen war, dass sie wieder ins Leben des jeweils anderen zurückgekehrt waren. Er hatte sich geduscht und rasiert und trug jetzt ein braunes Army-T-Shirt und einen braunen Tarnanzug, der seinen Augen irgendwie ein noch strahlenderes Grün verlieh. Und für einen kurzen Moment fühlte sie sich wieder in jene Bibliothek in Texas zurückversetzt und saß ihm in einem beiläufigen Gespräch gegenüber, während sie sich fragte, wie es wohl wäre, ihn zu küssen. Nur, dass aus dem Fantasiekuss ihrer Vorstellung inzwischen die Erinnerung an seinen perfekten nackten Körper geworden war, den sie viel zu kurz hatte bewundern dürfen.

Er blickte sie an und zog die Brauen empor. Das Funkeln in seinen Augen sagte ihr, dass ihr Gesichtsausdruck mehr verraten hatte, als ihr lieb war, und so räusperte sie sich verlegen. »Der Stress hat wohl keinerlei Auswirkungen auf deinen Appetit, wie ich sehe«, bemerkte sie, den Blick auf seinen nun schon zweiten großen Stapel Sandwichs gerichtet. »Und dann der viele Orangensaft.«

Mit einem Zug leerte er sein Glas zur Hälfte. »GTECHs haben chronischen Vitamin-C-Mangel und einen schnellen Stoffwechsel, der ständig jede Menge Nachschub verlangt.«

Er hatte ihr über seinem ersten Sandwichstapel von der Superschnelligkeit und der Superstärke der GTECHs erzählt, aber das meiste davon hatte sie bereits gewusst – außer dass, wer Ice nahm, solche Fähigkeiten in begrenztem Ausmaß angeblich ebenfalls entwickelte.

»Interessant. Ice-Abhängige haben nach dem, was ich gelesen habe, weder einen schnellen Stoffwechsel, noch leiden sie unter Vitamin-C-Mangel. Alles, was ich bisher gespürt habe, ist eine vergrößerte Lungenkapazität und dieses schreckliche Zittern, wenn der Entzug anfängt.«

Er musterte sie eingehend. »Sonst wirklich nichts? Bist du dir sicher?«

»Ich habe jedenfalls nichts bemerkt«, antwortete sie und war selbst überrascht, dass sie lächelte. Das war etwas, das ihr von früher in Erinnerung geblieben war: Mit der Art, wie er Dinge sagte oder tat, brachte Sterling sie dazu, lockerer zu werden. »Wenn du mich auf die Palme bringst, werde ich meine Superstärke vielleicht ja an dir ausprobieren.«

Er ließ seine Augenbrauen zucken. »Das dürfte lustig werden.«

Ja, das würde es, aber erst ohne die Superstärke, die Stadt Zodius und ihre Ice-Sucht. Sie schüttelte den Gedanken ab, während sich ihre Stimmung verdüsterte, und klappte die Akte zu. »Das Material, das die mir hingelegt haben, ist bestenfalls allgemeiner Natur. Auf dieser Datenbasis werde ich niemals finden, was wir brauchen.«

Abrupt öffnete sich die Tür zu ihrem Apartment.

»Bleib, wo du bist«, befahl Sterling. Er war bereits aufgesprungen, um sich den beiden Soldaten in Wüstentarnanzügen entgegenzustellen, die ihr Quartier betreten hatten.

»Wir sollen die Frau zum Labor führen.«

»In Ordnung«, sagte Sterling und fügte, ohne mit der Wimper zu zucken, hinzu: »Dann lasst uns ins Labor gehen.«

»Nicht Sie«, stellte einer der Soldaten richtig und machte eine ruckartige Kopfbewegung zu Becca. »Nur sie.«

Becca bewegte sich nicht, aber ihr schlug das Herz in der Brust, als wollte es explodieren. Ohne Sterling würde sie sich Tad ganz allein stellen müssen, und ungeachtet ihrer früheren Behauptung, dass sie nichts mehr fürchtete als falsche Hoffnungen, machte dieser Mann ihr Angst.

»Wohin sie geht, gehe auch ich«, beharrte Sterling. »Das ist nicht verhandelbar.«

Beide Soldaten bewegten die Hände zu den Waffen in ihren Hüfthalftern. »Wir haben Anweisungen«, sagte einer von ihnen. »Nur sie kommt mit.«

Becca musste nur einen Blick auf Sterlings Gesicht werfen, um zu wissen, dass er gleich etwas Verrücktes tun würde, das ihn das Leben kosten könnte. Sie stand auf, und dabei musste sie irgendwie mit der Hand gegen das Glas Orangensaft gestoßen sein, denn es fiel vom Tisch und zerbrach. »Ich komme mit.« Sie sah Sterling an. »Ich werde schon zurechtkommen. Ich brauche ein Labor, um meine Arbeit machen zu können.«

»Vergiss es«, gab er zurück.

Becca stand jetzt vor ihm und legte ihm die Hand auf die Brust. »Ich muss das tun. Das schaff ich schon.«

Die beiden Soldaten traten hinter sie und richteten ihre Waffen auf Sterling. »Sie wird das unversehrt schaffen, aber Sie vielleicht nicht«, befand der eine.

»Ich gehe jetzt«, sagte sie leise und wandte sich zur Tür.

Sterling zog sie zurück und küsste sie. Dann ließ er sie mit einem gequälten Blick los.

Becca saß an einem hohen Tisch hinter den Betonwänden des Zodius-Labors und starrte auf den Objektträger unter dem Mikroskop, um etwas zu untersuchen, das sich als die DNA von Adams sechs Monate altem Sohn entpuppt hatte. Doch diese sechs Monate entsprachen bereits zwölf Jahren. Er wuchs und alterte mit einer Geschwindigkeit von zwei Jahren pro Monat. Und die DNA dieses Jungen lieferte die Droge, die sie zweimal am Tag konsumierte.

Ein Aktenordner klatschte vor ihr auf den Tisch, heißer Atem traf ihren Nacken. »Mach ihn auf.«

Tad. Sie kannte seine Stimme, erinnerte sich nur allzu lebhaft an sie, wie an einen schlimmen Traum. Sie klappte den Ordner auf. Darin befand sich ein Foto, das Sterling zusammen mit einem anderen Mann zeigte, zwei Wölfe zu ihren Füßen. Sie blätterte durch einige weitere Fotos, die alle ähnlich waren, aber offensichtlich an verschiedenen Orten aufgenommen worden waren.

Tad drehte sie zu sich um und stützte seine Hände links und rechts neben ihr auf den Tisch, sein riesiger Körper dem ihren zu nah. »Der, mit dem er da zu sehen ist, ist Adam«, erklärte er. »Er ist einer von uns. Er will die Nummer zwei nach Adam werden, und um sich diese Position unter den Nagel zu reißen, hat er versprochen, dich zu ficken, bis du dich Adam unterwirfst.«

In Beccas Magen bildete sich ein Knoten. »Sie lügen. Warum sollten Sie mir das verraten, wenn es doch genau das ist, was Adam will?«

»Weil ich Adams Nummer zwei bin«, antwortete er. »Und er hat vor, mich zu ersetzen. Ich werde ihn umbringen, bevor er die Gelegenheit dazu hat. Also schlage ich vor, du machst klar, dass du zu mir gehörst und mir schön die Treue hältst, oder ich werde dafür sorgen, dass du in eines der Sexlager geworfen wirst.« Er stieß sich vom Tisch ab und verschwand im hinteren Büro.

Becca hatte keine Ahnung, was ein »Sexlager« war, aber innerlich schrie sie auf. Neinneinneinnein! Sterling war kein Zodius. Er war keiner von ihnen. Unmöglich! Diese Bilder mussten Sterling mit Adams Bruder Caleb zeigen. Ihr Blick wanderte im Labor umher, auf der Suche nach einem Ausweg. Sie musste hier raus. Ein Wasserglas auf ihrem Tisch zerbarst. Dann ein Objektträger.

Milton Wright, der einzige Wissenschaftler unter den sechs Anwesenden, der ebenfalls kein GTECH war, eilte an ihren Tisch und begann die Glasscherben aufzulesen. Er war ein Mann in den Dreißigern, der als Wissenschaftler für das Militär gearbeitet hatte, und auch er war gekidnappt und gezwungen worden, Adam zu helfen.

»Das war eigenartig«, murmelte er, während er die Scherben in den Müll warf. »Das Glas ist einfach zersplittert. Ich habe überhaupt nicht gesehen, dass Sie es berührt hätten.«

Sie nickte und erinnerte sich an das Glas mit Orangensaft, das vor einigen Stunden auf ganz ähnliche Weise zersprungen war, aber Tads Besuch hatte sie zu sehr aufgewühlt, um dem große Beachtung zu schenken. »Was ist ein Sexlager?«

Er schaute von seiner Arbeit auf, trat dann neben sie und setzte sich an den Tisch neben ihrem. »Adams Sohn, Dorian, ist sehr stark und mächtig. Ich meine, auf unheimliche Weise mächtig. Sie wollen noch mehr, die so sind wie er, was bedeutet, dass sie die wenigen, seltenen Frauen finden müssen, die ein Lebensband mit einem der Männer eingehen und dadurch selbst zur GTECH werden können. Es ist wie eine körperliche Heirat. Sie haben Sex. Sie schließen ein Lebensband. Sie haben schauerliche Nachkommen, wie Dorian.«

Becca wurde schlecht. »Woher wissen sie, dass sie ein Lebensband eingehen? Werden sie einfach schwanger, oder was?«

»Direkt nach dem Sex taucht ein seltsames Tattoo im Nacken der Frau auf. Wie ich gehört habe, tut es weh, als schneide es ihnen jemand ins Fleisch. Dann machen sie einen Blutaustausch, und die Frau wird zur GTECH

»Blutaustausch?«, fragte sie. Eine erschreckende Vorstellung.

»Sie schneiden sich in die Handflächen und pressen sie aneinander. Das ist für die Frau auch mit Vorteilen verbunden. Sie wird mit Haut und Haar GTECH, mit allen Eigenschaften – ewige Jugend und Immunität gegen sämtliche menschliche Krankheiten. Natürlich hat sie im Gegenzug dauernd einen wirklich üblen Zodius-Soldaten am Hals, und wenn er sich umbringen lässt, zum Beispiel, indem er Adam wütend macht …« Er hob abwehrend die Hand. »Ich weiß, man kann es kaum glauben, aber so etwas kommt vor … nun, dann tritt sie zusammen mit ihm ab. Wenn er stirbt, stirbt also auch sie.«

Das Ganze wollte noch immer nicht so recht in ihren Kopf hinein. »Okay, warten Sie, ich habe das Gefühl, hier in einer verkehrten Welt zu leben, und brauche eine Sekunde. Wollen Sie mir tatsächlich erzählen, dass sie die Frauen praktisch von einem Soldaten zum anderen weiterreichen, bis einer von ihnen mit einer ein Lebensband bildet und dieses seltsame Symbol auftaucht?«

»Darauf läuft es im Wesentlichen hinaus.«

»Das ist barbarisch«, versetzte sie. »Es ist einfach nur …« Becca hielt inne und sah, wie er sich über die Stirn wischte. Er sah nicht gut aus. Schweißperlen hatten sich auf seiner Oberlippe und der Stirn gebildet, der Laborkittel klebte an seinen Kleidern. Sie rollte ihren Hocker an seinen Tisch. »Alles in Ordnung mit Ihnen, Milton?«

Er lehnte sich auf dem Laborhocker zurück und rieb sich die Oberschenkel. »Sie haben mir heute Morgen meine Dosis nicht gegeben.«

»Was?« Besorgt wandte sie sich ihm zu, um ihn eingehender zu betrachten. »Sind Sie sich sicher, dass sie nicht einfach gedacht haben, jemand hätte Ihnen das Ice bereits …«

»Nein, Becca«, unterbrach er sie bestimmt. »Die wissen, was sie tun. Und natürlich haben sie Ihnen Ihre Dosis gegeben. Ich habe versagt, nicht die Antworten gefunden, nach denen sie suchen. Sie sind jetzt die Neue, auf die sie ihre Hoffnungen setzen. Sie brauchen mich nicht mehr. Einer rein, einer raus.«

Sie fuhr zurück, erschrocken über die Unerbittlichkeit seiner Worte.

Er rieb sich das Kinn. »Es tut mir leid. Ich bin nicht ganz bei mir. Es fühlt sich an, als hätte ich Säure geschluckt … als fräße sie mich bei lebendigem Leib auf.«

Ihr Blick wurde sofort weicher, und sie berührte seine Hand. Sie war schweißnass, und doch zitterte er, als friere er. Sie warf einen raschen Blick zu den anderen Wissenschaftlern hinüber und spielte mit dem Gedanken, sich zu beschweren, aber die Männer bedachten sie nur mit einem bösartigen Lächeln. Miltons Leiden schien sie sichtlich zu erheitern.

Ein Summen ertönte, und die elektronisch gesicherten Stahltüren direkt vor ihrem Tisch – der einzige Ein- oder Ausgang des Labors – glitten auf. Ein hochgewachsener Mann im grünen Army-Tarnanzug mit zwei Wölfen an seiner Seite trat ein. Der Mann strahlte Macht aus. Becca hätte sich am liebsten übergeben. Dies war Adam Rain, und er und seine beiden Lieblingswölfe waren zusammen mit Sterling auf den Fotos zu sehen gewesen.

An seiner Seite befand sich sein Sohn Dorian, der einen ganz ähnlichen Tarnanzug trug. Mit seinen sechs Monaten sah er doch ganz und gar wie ein Zwölfjähriger aus. »Wie nett von Ihnen, sich uns anzuschließen, Frau Burns«, sagte Adam und deutete auf Dorian. »Ich darf Sie mit meinem Sohn bekannt machen, der Sie von Ihrem Krebs geheilt hat.«

Der Junge ließ seinen Blick auf Becca ruhen, und die schwarzen Augen bohrten sich mit solcher Dunkelheit und Tiefe in ihre, dass es ihr vorkam, als würde sie in diese Augen hineingesaugt.

»Welche guten Neuigkeiten haben Sie für mich, Milton?«

Adams Frage riss sie aus der eigentümlichen Gewalt, die die Augen des Jungen über sie hatten, und sie richtete den Blick auf Milton, der wirkte, als würde er gleich an seiner eigenen Zunge ersticken.

Becca eilte ihm flugs zu Hilfe. »Da nicht jeder Ice-Süchtige im Entzug stirbt, wären etwaige Vorerkrankungen oder mögliche Unregelmäßigkeiten bei der Dosierung ein erfolgversprechender Ansatz, um mit der Suche nach der Todesursache anzufangen.«

»Lesen Sie doch die Akten, Frau Burns«, blaffte Adam. »Es gab keine Vorerkrankungen und keinerlei Abweichungen zwischen der einen Ampulle mit Ice und der nächsten.«

»Es ist nur nichts bekannt, was …«

»Keine Vorerkrankungen und keinerlei Abweichungen zwischen der einen Ampulle und der nächsten«, wiederholte Adam. »Dass Sie es versäumt haben, sich besser in Kenntnis zu setzen, enttäuscht mich.«

Er richtete seinen Blick auf Dorian. »Zeig der Dame, was mit Leuten passiert, die mich enttäuschen.«

Die Lippen des Jungen wölbten sich nach oben, und seine dunklen Augen nahmen einen erregten Ausdruck an, als sei er mit einem Spielzeug belohnt worden – und als sei Becca dieses Spielzeug. Er hob die Hände, und die Wölfe stürzten ihr entgegen. Sie schrie; sie hatte keine Ahnung gehabt, dass der Junge die Wölfe ebenfalls kontrollieren konnte. Hastig sprang sie auf und wich gegen den Betonpfeiler hinter ihr zurück. Die Wölfe drängten sich so dicht an sie heran, dass ihr Atem den Saum ihres Laborkittels flattern ließ. Sie war gefangen.

Dorian lachte. »Ich glaube fast, sie hat Angst, Vater.«

In der irregeleiteten Hoffnung, er könne ihr zu Hilfe eilen, wanderte Beccas Blick zu Milton. Sein Kopf lag auf dem Tisch, er zitterte.

Mit einem Mut, den sie nicht in ihrem Inneren spürte, richtete sich Becca kerzengerade auf und hob den Kopf. »Ich werde tun, was Sie wollen. Aber, bitte, ich brauche Miltons Hilfe. Lassen Sie ihn nicht leiden.«

»Darf ich Ihrem Bedürfnis, sich an die Hilfe dieses menschlichen Wissenschaftlers zu klammern, entnehmen, dass mein wissenschaftliches Team Ihnen missfallen hat?«

»Nein«, antwortete sie schnell, voller Angst, dass eine Beleidigung seiner Männer ihnen beiden den Tod bringen könnte. »Sie sind in Ordnung. Wirklich großartig. Sehr hilfreich.«

»Dann ist es ja gut«, antwortete er. »Es wäre besser, Sie würden sich auf das große Ganze konzentrieren und nicht auf ein paar nutzlose Menschen.«

»Ich bin ein Mensch«, erwiderte sie leise.

»Sie sind eine Frau«, gab er zurück. »Sie werden bald erfahren, wie nützlich das hier ist.«

Die Sexlager. Vor ihrem geistigen Auge zogen die Fotos von Sterling mit Adam und den Wölfen vorbei, als Beweis, dass sie an diesem schrecklichen Ort keine Verbündeten hatte. Adrenalin und widersprüchliche Gefühle peitschten durch ihren Körper, aber irgendwie schaffte sie es, Fassung zu bewahren. Milton würde sterben. »Bitte«, beharrte Becca. »Ich brauche Miltons Erfahrung und Wissen.«

Adam sah seinen Sohn an. »Gib ihm sein Medikament.«

»Ganz, wie du willst, Vater«, sagte Dorian und näherte sich Milton.

Sein bösartiger Blick erfüllte Becca mit tiefem Grauen. Das beklemmende Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte, machte sich in ihrem Magen breit. Dorian packte Milton am Schopf, riss seinen Kopf zurück und schob ihm eine Tablette in den Mund.

Oh Gott. Panik durchzuckte Becca. »Das war kein Ice! Was hast du ihm gegeben?«

Dorian richtete seine Aufmerksamkeit auf Becca, und eine abgebrühte Herzlosigkeit, die seinen jungen Jahren hohnsprach, grub sich in seine klar konturierten Gesichtszüge, als er nun Miltons Kopf mit dem Gesicht voran auf die Tischplatte hämmerte.

Als Becca das harte Krachen von Schädelknochen auf Holz hörte, rebellierte ihr Magen.

»Gute Dame«, ergriff Dorian das Wort und legte den Kopf schräg, als sei sie ein besonderes Exemplar irgendeiner Spezies, das es zu beurteilen galt, »ich habe ihm gegeben, was Sie wünschten. Er muss nun nicht mehr leiden. Das sollte doch ganz in Ihrem Sinne sein.«

Milton zuckte krampfartig zusammen und fiel vom Stuhl.

»Was hat das zu bedeuten?«, schrie sie und machte einen Schritt vorwärts, nur um ein warnendes Knurren der Wölfe zu provozieren, das ihr bedeutete, sich nicht von der Stelle zu rühren. »Was soll das heißen, dass er nicht mehr leiden muss?« Sie richtete einen flehenden Blick auf Adam. »Adam, bitte! Bitte, helfen Sie ihm. Ich mache alles, was Sie wollen.«

»Sie werden so oder so machen, was ich will«, antwortete er. »Aber ohne ihn. Er ist tot. Und es gibt außer Ihnen unter meinem wissenschaftlichen Personal hier auch andere, die über so viel Fachkenntnis verfügen wie Sie. Aber Sie sind eine Frau, und ich will Sie nicht tot, sondern nur entsprechend motiviert sehen. Und als Motivationsschub habe ich die folgende Mitteilung für Sie: Jedes Mal, wenn Sie mich enttäuschen, werde ich einen dieser Menschen töten. Und Sie haben schon angefangen, mich zu enttäuschen. Bedenken Sie: Miltons Blut klebt an Ihren Händen, Becca.«

Becca schnappte verzweifelt nach Luft, und diesmal hatte es nichts mit dem Krebs zu tun. Das konnte nicht sein. Sie kniff die Augen fest zusammen und sagte sich, dass sie bald aufwachen würde. Das Ganze war nur ein schlimmer Albtraum, nichts als eine Nebenwirkung ihrer Behandlung in Deutschland. Es waren lediglich ein paar Minuten im Schlaf verstrichen, nicht Stunden in Gefangenschaft.

Plötzlich war Adam dicht vor ihr – die Wölfe hatten ihm Platz gemacht. Becca keuchte auf, entsetzt über seine Nähe. Er berührte sie nicht, doch sie hätte fast schwören können, dass sie seine Hände um ihre Kehle spürte. Sie versuchte, sich nicht zu bewegen, aber er starrte sie an, und das tiefe Böse in seinen schwindelerregenden schwarzen Augen ergoss sich in sie wie Säure und fraß sie bei lebendigem Leib.

»Ich schlage vor, Sie machen sich an die Arbeit«, sagte Adam mit leiser, giftiger Stimme. »Bevor ich mich entscheide, einen weiteren Menschen zu töten, einfach nur, weil … nun ja, es ist unterhaltsam. Vor allem wenn ich mit ansehen kann, wie Sie sich um ihn sorgen.« Er machte eine dramatische Pause, dann fügte er hinzu: »Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Sie nickte. »Ja«, flüsterte sie, aber das Wort war kaum hörbar, ihre Stimme verloren in der bitteren Wut, die seine Nähe in ihr aufsteigen ließ.

Einige Sekunden lang musterte er sie, die Züge steinern und eindringlich. »Dann tun Sie es auch«, sagte er schließlich. »Ich lasse Milton hier liegen, um Sie daran zu erinnern, welche Folgen es hat, mich zu verstimmen.«

Er drehte ihr den Rücken zu, und seine Wölfe folgten ihm auf dem Fuß. Nachdem er Becca noch einen höhnischen Blick zugeworfen hatte, schloss sich Dorian seinem Vater an. Der Junge war durch und durch böse. Schon böse geboren. Und mit jedem Tag, der verstrich, wurde er böser.

Gerade als Becca zu der Überzeugung gelangt war, dass dieser Tag nicht mehr schlimmer werden konnte – die Türen wollten sich gerade schließen –, trat Tad Bensen ein.

»Gute Neuigkeiten, Becca. Süße, Liebling, Honigschnäuzchen. Wir haben nun ein wenig Zeit ganz für uns. Ich soll auf dich aufpassen.« Er lächelte und zwinkerte ihr zu. Dann ging er zu Milton und stieß ihn zur Seite, als wäre er nichts als Abfall, der ihm im Weg war. »Ihr habt gehört, was Adam gesagt hat«, rief er den Übrigen zu. »Machen wir uns an die Arbeit!«

Zorn, Schmerz und Angst prallten mit solcher Wucht in Becca aufeinander, dass sie glaubte, zusammenbrechen zu müssen. Und irgendetwas geschah mit dieser Kraft – die Luft knisterte vor Energie. Glas zersprang an verschiedenen Stellen im Labor. Es war, als seien ihre Gefühle elektrisch geladene Wellen, die durch die Luft pulsten. Alles drehte sich in ihrem Kopf, und ihre Brust schnürte sich zu. Wie aus weiter Ferne hörte sie Tad brüllen. Und dann lag er auf dem Boden, genau wie die anderen Wissenschaftler. Sie waren umgekippt wie Steine und hart auf den Beton geklatscht.

Beccas Augen weiteten sich. Ihr Herz setzte einen Schlag aus und begann dann rasend zu hämmern. Was war gerade passiert? Sie drückte die geballte Faust an ihr Herz und befahl ihm, mit dem wilden Gehämmer aufzuhören, aber ihre Hand war unsicher und zittrig. Sie zwang sich, tief durchzuatmen und langsam bis zehn zu zählen. Das Schwindelgefühl ließ nach, und sie konnte sich wieder auf den Raum vor ihr konzentrieren.

Dann – und erst dann – begann sie sich Vorwürfe zu machen, so lange stillgestanden zu haben. Sie rannte zu Milton hinüber, rollte ihn herum und schrak vor seinen leeren, offenen Augen zurück, selbst als sie nach einem Puls suchte, von dem sie wusste, dass sie ihn nicht finden würde.

Ihr Magen krampfte sich zusammen, und sie streckte die Hand aus, um Milton die Augen zu schließen. Noch mehr Glas im Raum zerbarst, als sie seinem toten Körper zuflüsterte: »Es tut mir leid, dass ich dich nicht gerettet habe.« Aber sie weinte nicht – die Wut über diese Grausamkeit fraß sie nur bei lebendigem Leib auf.

Sie richtete sich auf und wandte sich den im Raum verstreuten Wissenschaftlern zu. Gegenstände begannen im Raum zu schweben. Ein Stuhl machte einen Sprung und drehte sich um. Becca konnte spüren, dass die Energie von ihr ausging – eine Macht, die ihr das verdammte Ice verlieh. Und sie wusste, dass sie selbst der Grund dafür war, dass diese Männer am Boden lagen.

Becca starrte ihre Körper an und dann die verschlossenen Türen. Ausweiskarten. Sie hatten Ausweiskarten, um die Tür zu öffnen. Tad würde wohl über die höchste Sicherheitsfreigabe verfügen, vermutete sie. Ohne sich Zeit zum Nachdenken zu geben, stürmte sie vor und beugte sich über Tad. Als sie nach seinem Handgelenk griff und einen Puls fand, schreckte sie angewidert zurück. Er war nicht tot – sie wusste nicht, ob sie erleichtert oder enttäuscht sein sollte. Sie hatte keine Ahnung, was mit den Männern nicht stimmte, wollte aber auf keinen Fall hierbleiben, bis sie wieder aufwachten.

Sie knipste die Ausweiskarte von Tads Hemd und eilte zur Tür. Dann blieb sie stehen, machte kehrt und riss ihm die Waffe aus dem Halfter.

Sie musste daran zurückdenken, wie ihr Bruder sie trotz all ihrer Einwände dazu genötigt hatte, den Umgang mit Waffen zu erlernen. »Danke, Kevin«, murmelte sie. Er hatte darauf bestanden, dass sie sich die entsprechenden Kenntnisse aneignete, damit sie geschützt war, wenn er sich irgendwo im Krieg befand. Und so hatte sie schießen gelernt.

Noch ein Gedanke durchfuhr sie. Geld. Konnte sie hoffen, dass Tad welches bei sich hatte? Sie schauderte vor der Vorstellung zurück, ihn zu berühren, doch dann griff sie trotzdem in seine Tasche. Nichts. Sie sprang über ihn hinweg und probierte es mit der anderen Tasche. Volltreffer! Eine Geldscheinklammer mit einer respektablen Menge an Barem.

Eine Sekunde später war sie am Ausgang und zog die Sicherheitskarte durch die entsprechende Vorrichtung. Ein Licht sprang auf Grün um, aber die Tür öffnete sich nicht. Willkürlich tippte sie auf der Tastatur daneben herum. Nichts. Sie versuchte es noch einmal. Plötzlich schoss Wasser aus der Feuerlöschanlage, und die Türen öffneten sich. Da stand Becca im Sprühnebel und hatte keine Ahnung, was sie als Nächstes tun sollte. Sie wusste nicht, wie sie hier herauskommen sollte, wusste nicht, wie sie zu Sterling gelangen konnte, ja, nicht einmal, ob sie ihm vertrauen durfte, wenn sie es wirklich irgendwie zu ihm schaffte. Oder ob sie überhaupt irgendjemandem vertrauen konnte. Weiter unten im Flur hörte sie gedämpfte Stimmen. Zu spät. Sie rannte in die entgegengesetzte Richtung davon.