8
Nachdem er das wüstenhafte Gelände von Area 51 gut drei Stunden lang erfolglos nach Becca abgesucht hatte, windwalkte Sterling zu den Bergen von Nevada, wo sich das unterirdische Hauptquartier der Renegades befand. Er betrat Sunrise City und hatte Mord im Sinn – Mord an Damion, um genau zu sein. Er stürmte durch die Anlage, und nach einigen kurzen Nachfragen begab er sich direkt zu seiner Zielperson in die Einsatzzentrale der Renegades.
Er trat die Tür auf und fand Damion zwischen Caleb und Michael am Konferenztisch. Außerdem waren noch vier weitere hochrangige Renegades im Raum. Ein Blick in Sterlings Richtung reichte, und alle im Raum schienen seine Botschaft verstanden zu haben. Niemand wagte es, irgendwelche Willkommensgrüße anzustimmen, und Caleb gab den Übrigen ein Zeichen zu gehen. Alle standen auf und beeilten sich, dem Folge zu leisten – alle außer Michael. Michael betrachtete sich als Calebs persönlichen Bodyguard, womit Sterling kein Problem hatte. Er und Michael hatten ihre persönlichen Zwistigkeiten, aber in ihrem tiefsten Inneren waren sie Freunde. Michael und Caleb waren so ungefähr die beiden Einzigen, denen er im Moment vertrauen würde, wenn sein Leben davon abhinge. Vor nicht allzu langer Zeit hätte auch noch Damions Name mit auf dieser kurzen Liste gestanden.
Sterling trat aus der Tür, um die vier anderen Männer passieren zu lassen, und wartete auf Damion. Als er sich näherte, schoss das Adrenalin durch Sterlings Glieder. Sobald Damion in Reichweite war, packte er ihn und schleuderte ihn auf den Konferenztisch.
Als Damion schlitternd zwischen ihm und Caleb zu liegen kam, zog Michael seine dunklen Augenbrauen in die Höhe. »Schlecht gelaunt, Sterling?«
»Schlechte Laune trifft es noch nicht einmal ansatzweise«, grollte Sterling und kam auf den Tisch zugeschritten.
»Mann, was soll der Scheiß?«, fragte Damion und versuchte sich hochzurappeln.
Sterling sprang auf den Tisch, war im Nu über Damion und packte ihn erneut am Hemd. Von seinem Zorn und der Angst um Becca befeuert, hatte er Damion einen Sekundenbruchteil später auch schon gegen die Wand geschleudert.
»Du falscher amerikanischer Supermann, der sich ja immer so schön an die Regeln hält, du verräterisches Stück Scheiße mit deinem sauberen GI-Helden-Haarschnitt und deiner stählernen Moral«, knirschte Sterling. »Du hast sie im Stich gelassen. Du hast mich im Stich gelassen.«
»Wovon zum Teufel redest du, verdammt?«, herrschte ihn Damion an.
»Tu nicht so, als wüsstest du das nicht«, entgegnete Sterling warnend. »Denn das bringt mich nur noch mehr auf die Palme, und das solltest du im Moment tunlichst vermeiden.«
»Verdammt«, sagte Caleb und riss die beiden mit Michaels Hilfe auseinander. »Worum geht es eigentlich?«
»Damion hat Rebecca Burns an Tad Benson ausgeliefert. Darum geht es, zum Teufel.«
Damion funkelte Sterling wütend an. »Du hast ihm diese Frau gegeben, nicht ich.«
Sterling stürzte sich auf Damion. »Du verlogener Drecksack.«
Michael fluchte und stieß Sterling zum Tisch hinüber. Dann stellte er sich breit zwischen Sterling und Damion. »Hol erst mal tief Luft, Mann. Gehen wir der Sache auf den Grund.«
»Er ist ein Zodius«, schäumte Sterling und spuckte jedes Wort förmlich aus. »Und du kennst mich gut genug, um zu wissen, dass ich eine solche Anschuldigung nicht vorbringen würde, wenn ich mir nicht todsicher wäre.«
Michael kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, dann trat er einen Schritt zur Seite, um mit Caleb Blicke zu wechseln – allerdings nicht, ohne Sterling sicherheitshalber am Hemd gepackt zu halten. Der Mistkerl. Sterling würde auch Michael eine Abreibung verpassen, wenn er ihn nicht losließ.
»Das ist doch Irrsinn«, murrte Damion an Caleb gerichtet, der ihm eine Hand fest auf die Schulter gelegt hatte und ihn so festhielt. »Er ist durchgedreht. Er war verletzt und im Delirium, und ich werde auf keinen Fall die Schuld für seine dummen, waghalsigen Fehler auf mich nehmen, die diese Frau umgebracht haben.« Wütend blickte er Sterling an. »Hör einfach auf, unbedingt beweisen zu wollen, dass du genauso GTECH bist wie wir Übrigen, bevor du noch jemanden umbringst.«
Die Anspielung auf seine begrenzten Fähigkeiten im Windwalken und einige andere Mängel, von deren Existenz nur eine Handvoll Leute wussten, ließ Sterling vor Wut platzen. Er machte einen Satz nach vorn und schaffte es gerade noch, eine Gerade auf Damions Kinn zu landen, bevor Michael und Caleb ihn wieder unter Kontrolle bekamen.
Michael drückte Sterling gegen den Tisch und sah über die Schulter zu Damion. »Warum bist du da hin, Mann? Im Ernst, warum? Wie ist das abgelaufen?« Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Sterling. »Vergiss den Scheiß, den er gerade gesagt hat.« In seinem Blick lag Verständnis. Sie beide wussten, wie es war, ein Ausgestoßener zu sein. Während es bei Sterling die eine oder andere Beeinträchtigung gab, besaß Michael ein paar zusätzliche Fähigkeiten, die anderen eine Scheißangst einjagten. »Ihr seid beide aufgebracht und sagt Dinge, die ihr nicht so meint.«
»Oh ja, ich bin aufgebracht«, unterstrich Sterling. »Ich habe niemals ein anderes Leben als mein eigenes aufs Spiel gesetzt, und ich habe verdammt noch mal bestimmt einen ganzen Stall Menschenleben mehr gerettet als er.«
»Mannomann, Sterling«, sagte Damion. »Warum holen wir nicht auch noch unsere Schwänze raus und messen, wer den längsten hat?«
Sterling hielt den Blick starr auf Michael gerichtet. »Vielleicht solltest du ihn mal daran erinnern, dass ich ebenso gut darin bin, Leben zu nehmen, wie sie zu retten.«
»Ich habe gesagt, wir treffen uns am Fenster im ersten Stock!«, brüllte Damion hinter ihnen. »Warum zum Teufel bist du durch die Hintertür raus? Und warum verdammt hast du sie dem Zodius kampflos überlassen?«
»Oh, das ist ja wirklich köstlich«, sagte Sterling mit einem bitteren Lachen, während Michael, der noch immer zwischen ihnen gestanden hatte, einen Schritt zur Seite machte. »Du warst am Fenster. Glaubst du, ich würde mich nicht daran erinnern? Und wir wissen beide, dass du auf der hinteren Veranda warst und dass ich dort Becca dir anvertraut habe.«
»Du bist durch die Hintertür gekommen, bevor ich es überhaupt zum Fenster geschafft hatte.«
Wut ballte sich in Sterling zusammen, doch nun ruhiger und kalkulierter. »Deine Lügen werden dich bald schnurstracks ins Grab bringen, Damion.«
»Ich arbeite nicht für Adam«, beharrte Damion nachdrücklich und reckte das Kinn in Richtung Michael. »Du warst bis vor ein paar Monaten unser Undercover-Mann in Zodius. Müsstest du dann nicht wissen, wenn ich für Adam arbeiten würde?«
»In ein paar Monaten kann eine Menge passieren«, stellte Michael fest.
Damion ließ einen frustrierten Seufzer hören. »Ich arbeite nicht für Adam!«
»Warum erfahren wir das alles erst jetzt, Damion?«, verlangte Caleb zu wissen.
»Weil sich die Sache erledigt hatte«, antwortete Damion. »Ich musste davon ausgehen, dass Sterling tot war, und ich hatte nicht vor, Anklage gegen einen Toten zu erheben, den wir alle als Freund betrachtet haben.«
Caleb fixierte ihn einen Moment lang, dann ließ er Damion los, sah Michael an und deutete auf die Tür. »Geh mit Damion raus und lasst Sterling und mich allein.«
Michael warf Sterling einen warnenden Blick zu und ließ ihn dann los. Sterling stand da wie ein Fels und ließ Damion nicht aus den Augen. »Sie ist nicht tot. Aber ich kann dir eins versprechen: Wenn ihr irgendetwas zustößt, bring ich dich um.«
Mehrere angespannte Sekunden verstrichen, dann stieß sich Damion von der Wand ab und ging ohne ein weiteres Wort hinaus. Weder Sterling noch Caleb sprachen, bis die Tür zur Einsatzzentrale hinter Michael zugefallen war.
»Er lügt nicht«, sagte Caleb leise.
»Verdammt, und ob er das tut«, antwortete Sterling. »Ich habe sie ihm gegeben, und einen Augenblick später hatte Adams Mann sie. Mir ist scheißegal, was deine verdammten Spiderman-Sinne dir eingeben.«
»Ich weiß, dass du davon überzeugt bist«, erwiderte Caleb. »Ich weiß, dass du nicht lügst; und ich würde meine ›Spiderman-Sinne‹ gar nicht brauchen, um das zu wissen, denn ich kenne dich. Aber ich kann dir mitteilen, dass ihr ohne jeden Zweifel beide glaubt, zu hundert Prozent die Wahrheit zu sagen.« Er zögerte einen Moment, dann setzte er hinzu: »Ich habe gedacht, du seist tot.«
Sterling fuhr sich mit der Hand durchs Haar und setzte sich auf die Tischkante. »Nun ja, ich sollte eigentlich tot sein, und sie wird es sein, wenn ich sie nicht finde, und zwar schnell.« Er gab einen kurzen Bericht über die vergangenen Tage, kam dabei auch auf Beccas Ice-Sucht zu sprechen und schloss mit den Details ihrer Flucht. »Ich habe keine Ahnung, was in diesem ganzen Bereich von Zodius City geschehen ist, aber Becca und ich waren die Einzigen, die bei Bewusstsein geblieben sind.«
»Waren die Männer tot?«, fragte Caleb von der Wand herüber, an die er sich gelehnt hatte.
»Keine Ahnung, ich hatte keine Zeit, es herauszufinden. Und es kann kein Gift gewesen sein, sonst hätte es auch Becca und mich erwischt.«
Sie unterhielten sich noch ein paar Minuten, und obwohl diese Nachbesprechung notwendig war, packte Sterling wieder einmal das Gefühl, es in seiner eigenen Haut nicht mehr auszuhalten. Er musste hier raus. Er musste Becca finden.
»Sie ist dir persönlich wichtig?«, hakte Caleb nach und sah ihn dabei eindringlich an.
»Ja«, bestätigte er. »Sie ist mir persönlich wichtig.« Es gab keinen Grund, die Wahrheit, die er selbst nicht ganz begriff, zu verleugnen. Nicht nur, dass Caleb seine Gefühle ohnehin spüren würde, er war auch so etwas wie der Bruder, den Sterling nie gehabt hatte. Und Becca bedeutete ihm mehr, als ihm seit sehr langer Zeit überhaupt irgendetwas bedeutet hatte.
Caleb stieß sich von der Wand ab. »Wir werden sie finden«, versprach er.
Aber würden sie sie auch finden, bevor es zu spät war?
Sterling verließ Sunrise City abends gegen zehn, früh für Vegas, vor allem an einem Freitagabend, und er hatte vor, jede Sekunde zu nutzen, um Becca zu finden. Nach einigen Telefonaten sowohl mit seinem Team auf der Straße als auch mit verschiedenen sonstigen Kontakten kam er zu dem Ergebnis, dass sich die Ice-Szene in den Untergrund verlagert hatte, wo die Droge über eine Art privates Clubsystem vertrieben wurde.
Wenn die Worte »privat« und »Geld« ins Spiel kamen, wusste Sterling – oder vielmehr der stadtbekannte Agent und Spürhund in ihm, der alles machte, solange nur der Preis stimmte –, wohin er sich wenden musste. Und so verließ Sterling um halb elf den Aufzug des Magnolia-Casinos, eines der umsatzstärksten Häuser auf dem Las Vegas Strip, und folgte einem weichen roten Teppich, der ihm den Weg wies. Im Wissen, dass er erwartet wurde, betrat er die Zentrale des Sicherheitsdienstes, wo man durch die vordere Fensterscheibe einen Blick auf das Casino hatte. Computermonitore reihten sich an den Wänden und hingen von der Decke.
In der Mitte des Raums stand Marcus Lyons, der Chef des Sicherheitsdienstes, der für drei der größten Casinounternehmen auf dem Strip zuständig war. Er hatte dunkles Haar, war hochgewachsen und athletisch und trug den gleichen schwarzen Anzug wie sein Personal, aber darüber hinaus noch eine blutrote Krawatte, die in etwa sagte: Schaut mich an, ich sehe verdammt noch mal aus wie George Clooney. Aber soweit es Sterling betraf, konnte sich der Typ ausstaffieren, wie er wollte. Marcus Lyons hatte in der Stadt die besten Beziehungen, und das war alles, was zählte. Und für Sterling wäre er der King, wenn er ihn zu Becca zu führen vermochte. Mit einer Kopfbewegung deutete Marcus auf das Büro im hinteren Teil des Raums, und Sterling folgte ihm. Dass er die Tür hinter sich schloss, verstand sich von selbst.
»Was gibt es so Dringendes?«, fragte Marcus und drehte sich zu ihm um.
»Ich habe einen Kunden, der einen großen Vorrat Ice will«, antwortete Sterling. »Er ist bereit, bestens dafür zu zahlen. Und erzähl mir nicht, du wüsstest nicht, was das ist. Hier geht es um zu viel Geld, um irgendwelche Spielchen zu spielen. Er will, was er will, und er will es heute Abend.«
Marcus musterte ihn eine ganze Weile. »Falls ich dir die gewünschte Information gebe und du einen Kontakt herstellen kannst, will ich mein Stückchen vom Kuchen.«
»Falls ich einen Kontakt herstellen kann?«
»Ich weiß einen Ort, und das ist alles«, antwortete Marcus. »Aber um an die Information heranzukommen, habe ich gehörigen Druck ausüben müssen.« Er zog die Mundwinkel leicht in die Höhe und fügte hinzu: »Ich bin gern auf Gelegenheiten wie diese vorbereitet. Falls du dich an besagten Ort begibst, könnte sich vielleicht eine Möglichkeit eröffnen, vielleicht aber auch nicht. Wie auch immer – ich habe einen Mann dort in der Nähe. Einen, der ein wenig aufpasst. Ich bekomme es in jedem Fall mit, wenn du einen Kontakt herstellst, also erwarte ich, bezahlt zu werden.«
»Ich habe immer bezahlt und mich für gute Informationen nie lumpen lassen«, betonte Sterling. Breitbeinig stand er da, die Arme vor der Brust verschränkt. Die Renegades verfügten über satte finanzielle Reserven, die zum Teil von Renegades wie Michael und Damion stammten, die als Kinder reicher Eltern geboren worden waren. »Warum sollte sich das jetzt ändern?«
»Wie hoch ist dein Anteil an dem Geschäft?«, fragte Marcus, und ein gespannter Ausdruck trat in seine blauen Augen.
Sterling zögerte absichtlich, spielte das Verhandlungsspiel, das von ihm erwartet wurde. Keine leichte Aufgabe, wo er doch Marcus viel lieber so lange schütteln wollte, bis er mit allem herausrückte, was er wissen wollte. »Fünfzig Riesen.«
Marcus zog die Stirn kraus. »Dann nehme ich dreißig.«
Sterling stieß ein verächtliches Lachen aus und fixierte Marcus mit einem Blick, als sei sein Gegenüber völlig durchgedreht. »Und der wahre Betrag wäre dann …«
»Wir wissen beide, dass du mir nicht deinen vollen Anteil genannt hast«, konterte Marcus. »Du hast die Zahl nach unten geschraubt. Ich will dreißig Mille, oder du bekommst gar nichts von mir.«
Sterling stieß einen Pfiff aus und zog seine Show weiter durch. »Das ist happig, geldgieriger Drecksack.«
»Nicht wenn es darum geht, dermaßen heiße Ware wie Ice zu horten, die dazu noch fast unmöglich aufzufinden ist«, gab Marcus zurück. »Du gehst also entweder auf mein Angebot ein«, er verschränkte die Arme, »oder lässt es bleiben.«
»Ich will wissen, was das für ein Ort ist. Sofort. Heute Abend.«
»Erst einmal bekomme ich jetzt einen Vorschuss«, setzte Marcus dagegen. »Oder das Geschäft ist geplatzt.«
Sterling schlenderte gemächlich zum Schreibtisch und setzte sich auf die Kante. Er griff in seine Tasche, zog ein mit einer Klammer zusammengehaltenes Bündel Bargeld heraus und warf es auf den Tisch. »Das sind zehn. Das sollte wohl genug sein, um dir eine dieser schnieken Maniküren zu besorgen, die du so sehr magst.«
Marcus lachte und entspannte sich sichtlich. »Ich weiß nicht, wer von uns beiden das größere Arschloch ist. Du? Oder ich?«
»Mir gefällt die Vorstellung, dass jeder von uns mit seiner ganz persönlichen Ausführung von Arschloch-Sein auftrumpfen kann«, sagte Sterling trocken. »Du repräsentierst mehr den Von-oben-herab-Anzugträger-und-dann-hau-ich-dir-deinen-Geldbeutel-in-die-Eier-Arschloch-Typ. Ich bin eher das Schmutzige-Hintergassen-Straßenkämpfer-Arschloch.« Er stieß sich vom Schreibtisch ab. »Also, wo muss ich hin?«
»Wann bekomme ich das restliche Geld?«
»Wenn ich das Ice bekomme.«
Marcus dachte einen Moment lang nach. »Wehe, du ziehst mich über den Tisch, Sterling.«
»Ganz meinerseits, Arschloch«, erwiderte er abfällig. »Du hast meine zehn Riesen.«
Marcus überlegte noch einmal kurz, dann sagte er: »Nebula.« Das Nebula war die jüngste Bereicherung der Clubszene und an einen Casinokomplex der Konkurrenz angeschlossen. Marcus warf einen kurzen prüfenden Blick auf Sterlings Kleidung – Jeans und T-Shirt. »Es würde sich vielleicht empfehlen, dort in der Menge nicht aufzufallen. Der Laden ist keiner von den üblichen angesagten Vegas-Schuppen. Dort sind eher Leder und Ketten angesagt als Jeans.«
Trocken versetzte Sterling: »Und da dachte ich, du würdest mich vielleicht begleiten.« Er zuckte die Achseln. »Schade.« Die Spannung zwischen ihnen verflog. Trotz des spöttischen Wortwechsels mochten sie einander beinahe. Sie hatten zu viele derartige Geschäfte miteinander durchgezogen, um den Wert des anderen nicht anzuerkennen. »Bis später, Marcus.«
»Bring uns beiden etwas Geld mit, Sterling.«
Sterling winkte und verließ den Raum. Seinetwegen konnte es losgehen.
Zum Teufel mit dieser Umzieherei, nur damit er in eine gruftimäßige Drogenbar passte. Um halb zwölf saß Sterling in der hintersten Ecke des verqualmten dreistöckigen Nebula im Empire Tower Casino. Zur Tarnung hielt er ein kaum angetrunkenes Bier in der Hand, und in Gedanken war er bei jenem Augenblick, in dem er Becca Damion anvertraut hatte. Es war Damion gewesen, davon war er überzeugt.
Lässig setzte er erneut sein Bier an und hielt den Blick auf das andere Ende der Bar gerichtet, wo sich zwei Punks – der eine mit Irokesenschnitt, der andere mit Igelfrisur – mit einer Frau unterhielten. Einer der Punks versperrte ihm teilweise die Sicht. Er erhaschte einen Blick auf langes schwarzes Haar und stellte mit einem dumpfen Knall das Bier ab, wartete auf einen besseren Sichtwinkel und hoffte idiotischerweise aus ganzer Seele, dass es Becca wäre. Dabei machte er sich nur selbst verrückt. In dem Club wimmelte es von schwarzen Grufti-Frisuren.
»He, Süßer«, ertönte eine schnurrende Frauenstimme. Eine Schönheit mit rabenschwarzem Haar drängte sich an seinen Stuhl heran und schmiegte ihren üppigen Busen an seinen Arm. Eine Dealerin … so das Gerücht, das an der Bar die Runde machte. Die Ice-Dealerinnen waren heiße Bräute, die einen erst prüfend musterten und dann entschieden, wem sie die Droge anboten. Anscheinend nahmen sie auch selbst Kostproben von ihrer Ware, denn diese hier hatte Clanner-Augen. Sie waren nicht direkt schwarz, aber doch fast; die Pupillen geweitet, der dunkle Rand um die Augäpfel breiter. Er fragte sich, ob auch Beccas Augen nach einigen weiteren Hits so aussehen würden … ob sie es bereits taten. Falls sie überhaupt noch lebt.
Er zwang sich zu einem Lächeln und rief sich ins Gedächtnis, dass jede Dosis Ice, die er bekommen konnte, für Becca und für ihr wissenschaftliches Team von großer Wichtigkeit war. »Für dich immer noch Süßer-Goldjunge- Honigschnäuzchen, mein Schatz.«
»Also«, sagte sie und schlang ihren Arm um seinen. »Möchtest du’s heiß zu deinem Ice?«
»Kommt drauf an«, antwortete er gedehnt, ließ den Blick in Richtung Bar wandern und versuchte, die mysteriöse Frau wiederzufinden, aber die Sicht war ihm noch immer versperrt. Widerstrebend richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Ice-Mieze. »Wie wär’s erst mal mit einer Runde coolem Ice-Geplauder?«
»Was krieg ich dafür, wenn ich mich darauf einlasse?«, fragte sie und streichelte seinen Arm.
Er warf einen weiteren schnellen Blick auf die geheimnisvolle Frau, gerade rechtzeitig, um sie im Profil zu sehen. Becca. Es war Becca. Er stand auf.
Die Frau klammerte sich an ihn und versperrte ihm die Sicht. »Wo gehst du hin?«
»Bier läuft bei mir einfach direkt durch, Baby«, antwortete er und wand sich aus ihrem Griff, nur um feststellen zu müssen, dass Becca verschwunden war. Verdammt.
Er stürmte zur Bar und sprang dem Barkeeper förmlich ins Gesicht. »Die spröde kleine schwarzhaarige Prinzessin, die hier gestanden hat … wo ist sie hingegangen und mit wem?«
»Ich bin kein Babysitter«, erklärte der Mann.
Sterling griff über die Theke und riss ihn am Kragen zu sich heran. Die Augen des Mannes waren geweitet und voller Panik. »Sie ist zur Hintertür raus, mit zwei Stammgästen.«
Verdammt! Sterling ließ den Mann los und zwängte sich durch die Menge in den seitlichen Flur, der an den Toiletten vorbeiführte. Er stürmte durch die stählerne Ausgangstür in einen rückwärtigen Anlieferungsbereich für das Hotel. Rechts von ihm eine Laderampe. Eine gedämpfte Stimme drang an sein Ohr, schnitt durch den Lärm des Industrieventilators im Inneren des Lagerhauses.
Er glitt unter den offenen Aufgang zur Laderampe und ließ den Blick über das nur schwach erleuchtete Lagerhaus schweifen, sah jedoch nichts. Ein schneller heimlicher GTECH-Sprung, und er stand auf der drei Meter hohen Rampe. Zu seiner Linken erstreckten sich übereinandergestapelte Paletten in säuberlichen Reihen, die mindestens so lang wie hoch waren. Der Betonboden dazwischen war blitzblank.
Langsam und vorsichtig schob sich Sterling an mehreren der Palettenstapel zu seiner Linken vorbei, bis hin zur letzten Reihe, wo er erstarrte. Ihn durchzog eine Kälte, die frostiger war, als es jede Ice-Dosis hätte bewirken können. Zwei Männer hatten Becca in eine Ecke gedrängt.
»Das Prinzip von Leistung und Gegenleistung, Baby«, sagte einer der beiden zu Becca. »Zieh deine Bluse hoch und zeig mir, was du hast. Du gibst mir ein Stück von dir, und ich geb dir Ice.«
Sterling handelte sofort. Der Einzige, der Becca berühren durfte, war er.