30

Gerade ging die Sonne unter. Ausgerüstet mit Waffen aus dem Kofferraum des Mustang, materialisierte sich Sterling in der Gasse hinter der Wohnung des Typen mit dem Irokesenschnitt. Sie zweigte hinter dem Tropicana von der Maryland Street ab – in einer Gegend, wo Schmutz und Gitter vor den Fenstern als schmückende Einrichtungsgegenstände galten. Einige Meter entfernt stand ein unscheinbarer schwarzer Wagen – ein polizeiliches Überwachungsfahrzeug, daran bestand für Sterling nicht der geringste Zweifel. Leer.

»Verdammt«, murmelte er. Er wollte nicht, dass Eddie und seine Männer hineingingen, bis … er warf einen Blick auf den Müllcontainer einige Schritte entfernt, hielt den Atem an und bewegte sich vorsichtig ein Stück näher heran. Dann fluchte er erneut. Das einzig Gute an dem Mann mit der Kugel zwischen den Augen im Innern des Containers war die Tatsache, dass es sich nicht um Eddie handelte.

Sterling spähte die Gasse hinab, sah ein paar Fußgänger in der Nähe vorbeigehen und ließ daraufhin seine Waffen widerstrebend unter der legeren Freizeitjacke im Armylook verstaut, die er sich übergeworfen hatte. Bei der Vorstellung, dass Eddie vielleicht mit einer Kugel des gleichen Kalibers im Hirn in einer anderen dunklen Ecke lag, krampfte sich sein Magen zusammen. Er hätte ihn nicht allein hierherkommen lassen sollen.

Er verschwand im Wind und tauchte dort wieder auf, wo die Gasse in die Straße einmündete. Er unterzog die Frontseite des Hauses einer raschen Musterung und versuchte, Eddie zu finden. Dann klappte er sein Handy auf und begann zu wählen, während er noch die Reihen von Autos inspizierte, die unter einem sich schnell verdunkelnden Himmel die schlecht beleuchtete Straße säumten. Eddies ähnlich unscheinbarer Buick stand in der Nähe der Straßenecke. Leer. Sterling wählte Eddies Nummer und begab sich wieder auf die Rückseite des Gebäudes. Er war nun bereit, es zu betreten.

Eddie antwortete beim ersten Klingeln. Sterlings Erleichterung machte sich in einer barschen Frage Luft. »Wo zum Teufel steckst du?«

»Es ist lange her, Sterling.«

Beim Klang von Tads Stimme blieb Sterling wie angewurzelt stehen. »Wo ist Eddie?«

»Eddie und ich warten oben auf dich«, sagte Tad. »Ich, er, die beiden Clanner, die du ja bereits kennst, und eine sehr nette Dame hier aus dem Haus, die mir erzählt hat, dass sich in ihrer Wohnung ihre zwei kleinen Zwillingstöchter befinden. Wir sitzen hier und warten darauf, dass du mir Rebecca Burns bringst. Ich weiß, dass sie in der Stadt ist. Du hast fünfzehn Minuten Zeit, um sie herzubringen, bevor der erste meiner Gäste stirbt.«

»Was willst du mit ihr machen, wenn du sie in die Finger bekommst, Tad?«, fragte Sterling. »Abgesehen davon, dass du flach auf den Boden kippen wirst, wie es dir dummem Tollpatsch nur recht geschieht?«

»Ich werde sie kaltmachen, lange bevor sie mir nahe genug kommt, um mir etwas anhaben zu können«, entgegnete Tad trocken. »Wer ist also der dumme Tollpatsch? Was immer du damit meinst. Los, geh sie holen.« Seine Stimme wurde weicher, nahm einen spöttischen Ton an. »Aber ich will mich umgänglich zeigen. Zuerst werde ich den töten, von dem Eddie mir erzählt hat, dass du ihn ›Irokesenschnitt‹ nennst. Ihn magst du am wenigsten. Aber danach werde ich die Frau umbringen müssen.« Er legte auf.

Sterling hatte einen Moment Zeit zum Nachdenken, mehr nicht. Tad erwartete von ihm, dass er verhandelte. Wenn er Caleb gewesen wäre, hätte er das getan, aber er war nicht Caleb. Er war Sterling. Und was ihm an magischen GTECH-Fähigkeiten fehlte, machte er durch Tatbereitschaft wett. Nicht länger um Unauffälligkeit bemüht, zog Sterling zwei Glocks heraus, überprüfte seine Munition und zählte die Feuerleitern, als sich plötzlich Damion vor ihm materialisierte.

»Becca hat mir erzählt, was hier los ist«, sagte er. »Ich habe Männer an allen Ecken des Gebäudes positioniert.«

Damions Gegenwart ließ Sterling das Gesicht verziehen, auch wenn er keineswegs die Absicht hatte, Verstärkung abzulehnen. »Drinnen sind Tad und vier Geiseln. Ein toter Bulle in der Mülltonne.«

»Irgendeine Vorstellung, worauf das Ganze hinauslaufen soll?«

»Tad beabsichtigt, in ungefähr acht Minuten eine der Geiseln zu erschießen, wenn ich ihm nicht Becca ausliefere.«

Damion fluchte. »Hast du irgendeine Ahnung, ob Tad allein ist?«

»Nicht die geringste«, antwortete Sterling. »Er ist ein Angeber, aber er ist auch schnell damit bei der Hand, andere die Kugel kassieren zu lassen, die eigentlich ihm gebührt.«

Damion schlug auf das Mikro in seinem Ohr. »Melde dich.« Er hörte zu, dann sah er Sterling an. »Nichts. Kein Anzeichen von Ärger.«

»Ich werde von hinten reingehen und Tad ausschalten«, sagte Sterling. »Du kommst durch die Vordertür und schnappst dir die Geiseln. Die Frau zuerst.«

Damion zog seine Waffen und lächelte. »Immer die Frauen zuerst.« Er sagte es mit einem doppeldeutigen Unterton. »Alles klar zwischen uns, Mann?«

»Überraschenderweise ja«, erwiderte Sterling. Die Zusammenarbeit mit Damion, nun ja … sie lief einfach gut. »An diesem Punkt sagst du normalerweise, dass ich warten und die Dinge noch mal durchdenken soll.«

»Und du sagst, dass ich dich am Arsch lecken kann, und wir ziehen die Sache trotzdem durch«, gab Damion zurück. »Und da nun mal die Uhr tickt … ich vertraue dir diesmal einfach.«

Sterling entging die Bedeutung von Damions Worten nicht, und seine eigene Entschlossenheit war unerschütterlich. Das hier war sein Gebiet, seine Sache, wo er mit seinen Instinkten viel häufiger richtig lag als falsch. Und was er tat, war seine Spezialität – er handelte. Ohne zu zaudern oder zu zweifeln.

Sterling schaute auf seine Armbanduhr. Damion tat es ihm nach. »Noch drei Minuten.«

Sie nickten sich zu, dann verschwanden beide im Wind.

Sterling tauchte in einer verdammt gefährlichen Position auf dem Betonsims neben der Metalltreppe auf. Aber Lautlosigkeit hatte eben ihren Preis.

Er tastete vorsichtig um sich, bis er festen Halt hatte, und schaute durch den Vorhang hinein. Irokesenschnitt und sein Kumpel in geduckter Haltung an der Wand, die Hände vor dem Bauch gefesselt. Gut, abgehakt. Weinende Frau, ebenfalls mit gefesselten Händen, die sich in eine Ecke presste, als wollte sie mit der Wand verschmelzen. Auch abgehakt.

Doch wo zum Teufel war Eddie? Verdammt. Gut möglich, dass auch er irgendwo in einem Müllcontainer lag. Und Tad hatte sein Telefon. Er hätte verlangen sollen, mit ihm zu sprechen.

Vorsichtig drückte sich Sterling wieder gegen die Wand zurück und blickte auf seine Armbanduhr. Noch dreißig Sekunden, und er hatte Tad nicht im Sichtfeld.

Genau in dem Moment flogen Green Hornets durch die Luft, eine Kugel krachte schmerzhaft in seinen Arm, eine andere zischte verdammt nah an seinem Kopf vorbei.

»So viel zum Thema Verstärkung, um mir den Rücken freizuhalten«, murmelte er und sprang auf die Feuerleiter, und das nicht eben lautlos. Wenn der Schütze Tad nicht schon verraten hatte, dass er da war, so hatte Sterling es eben selbst getan. Kugeln knallten in die Stahltreppe.

Dann hörte er Schreie aus dem Haus und unmittelbar danach das Brüllen eines Mannes, der von einem nahen Gebäude stürzte. Seine Verstärkung. Spät, aber auch hier konnte er sein Häkchen setzen.

In der Wohnung wurde die Tür aufgerissen. Sterling wirbelte herum, und da stand Eddie in der Tür – nicht Damion. Sterling schlug gegen das Fenster. Die Waffe in der Hand, kam Eddie herbeigestürmt, um ihn hereinzulassen.

»Wo ist Tad?«, fragte Sterling, während Eddie zu der Frau hinüberlief, um ihre Fesseln loszubinden und ihr dann zuzubrüllen, dass sie verschwinden solle. »Schnell, hauen Sie ab!«

»Du meinst das muskelbepackte Arschloch, das uns mit vorgehaltener Waffe festgehalten hat? Der kämpft auf der Treppe mit einem anderen Mann.« Er warf einen Blick auf die Frau. »Gehen Sie in Ihre Wohnung und schließen Sie die Tür ab.«

Mehr brauchte Sterling nicht zu hören. Schon war er durch die Tür und rannte durch den schmalen Flur, bis die Treppe in Sicht kam. Damion war fast oben angelangt, schleppte sich das Geländer hinauf und blutete wie ein abgestochenes Schwein aus der Seite und dem rechten Bein. Doch klammerte er sich immer noch an seine Waffen.

»Wo ist Tad?«, fragte Sterling.

Von unten kam Cäsar die Treppe hinaufgerannt, um Damion zu helfen.

»Irgendwo in deiner Richtung«, stöhnte Damion. »Er hat mich an der Treppe abgefangen und ist in Richtung der Wohnung verschwunden.«

Sterling wandte sich ab, die Waffen schussbereit, während er vorsichtig durch die Wohnungstür ging. Das Fenster stand offen. Keine Spur von Eddie. Die beiden Clanner waren immer noch gefesselt und hatten jetzt Kugeln im Kopf. Die Frau war verschwunden.

Seine Waffen in Händen, eilte Sterling zum Fenster. Nichts zu sehen. Dann drehte er sich wieder um und richtete seinen Blick auf den Schrank. Er riss ihn auf. Zu seinem Erschrecken entdeckte er Eddie, auf dem Boden in sich zusammengesunken in einer Blutlache, die Hände gefesselt – was bedeutete, dass jener Eddie, der ihn durch dieses Fenster eingelassen hatte …

»Mistkerl.«

Sterling kniete sich neben Eddie und tastete nach einem Puls. Er war schwach, aber Sterling fand einen. Unmöglich konnte sich Eddie mit gefesselten Händen in diesem Schrank befinden und so viel Blut verloren haben, wenn er nur Minuten zuvor noch mitten im Raum gestanden hatte. Da stimmte der Zeitrahmen nicht. Was zum Teufel ging hier vor?

Während Eddie operiert wurde, saß Sterling im Krankenhaus, inmitten des Gestanks von Blut und Tod, und durchlitt jede Minute. Wenn genau das auch Becca in diesem deutschen Therapiezentrum jede Sekunde umgeben hatte, fragte er sich, wie sie überhaupt so lange hatte überleben können. Er fragte sich, wie er wohl damit umgehen würde, wenn der Arzt durch diese stählerne Doppeltür am Ende des Flurs schreiten und ihm mitteilen würde, dass Eddie tot war – und er würde wissen, dass es daran lag, dass er es vermasselt hatte, indem er ihn allein in diese Wohnung hatte gehen lassen. Wie würde er damit fertigwerden, wenn Becca zusammenbrach und das Ice sie nicht mehr zurückbringen könnte?

Drei Stunden lang quälte er sich, bis Caleb eintraf und auf dem Stuhl neben ihm Platz nahm.

»Irgendwelche Neuigkeiten?«

»Nein«, antwortete Sterling und strich sich mit der Hand über das, was in Kürze die Stoppeln eines vollen Tagesbarts sein würden. »Damion?«

»Schläft, um sich auszukurieren«, berichtete Caleb. »Seine Wunden waren nicht ernst. Er wird in ein paar Stunden wieder auf dem Damm sein. Becca macht sich Sorgen. Sie sagt, sie habe dich auf deinem Handy angerufen, und du würdest nicht rangehen.«

»Ich kann im Moment nicht mit ihr reden«, erwiderte er, ging zur gegenüberliegenden Wand und lehnte sich dagegen. »Ich wusste, dass die ganze Geschichte heute Abend eine Falle war, und trotzdem habe ich Eddie dort hineingehen lassen.«

»Er ist ein Bulle, Sterling«, sagte Caleb. »Er ist dafür ausgebildet worden, seine Aufgabe zu erledigen und seine Sache gut zu machen. Er hat seine eigene Entscheidung getroffen.«

»Er kann nicht die richtige Entscheidung treffen, wenn er nicht weiß, womit er es zu tun hat«, wandte Sterling ein. »Ich habe ihn nicht gewarnt. Ich habe geglaubt, ich könnte Becca in Sicherheit bringen und rechtzeitig zu ihm zurückkehren. Aber was ich vor allem im Kopf hatte, war mein Bedürfnis, Becca zu retten.«

»Becca bedeutet dir mehr als irgendjemand sonst«, unterstrich Caleb. »Sie ist eine Waffe, die auf keinen Fall in die falschen Hände gelangen darf. Ich an deiner Stelle hätte genauso gehandelt.«

»Aber nicht aus denselben Gründen wie ich«, entgegnete Sterling. »Die Vorstellung, dass Becca etwas zustoßen könnte, war mir unerträglich. Sie hat meine Urteilskraft getrübt. Und jetzt ist Eddie in diesem Operationssaal und klammert sich an sein nacktes Leben, mit seiner kranken Mutter daheim, um die sich sonst niemand kümmert.«

»Eddie könnte immer noch in diesem Schrank liegen und inzwischen tot sein, wenn du nicht rechtzeitig gehandelt hättest«, gab Caleb zu bedenken. »Ich hätte versucht zu verhandeln. Und das wäre falsch gewesen.«

Sterling wandte den Blick ab und sah den engen Flur hinunter, dann drehte er sich wieder zu Caleb um.

Er lachte bitter, und es klang selbst für seine eigenen Ohren erstickt. »Ich wollte Beccas Lebensband sein. Ich wollte sie retten. Heute Abend ist mir klar geworden, dass ich nicht Michael bin. Ich kann nicht in den Kampf ziehen und mir Sorgen machen, dass mein Lebensband stirbt, falls ich sterbe. Wenn ich zögere, innehalte und nachdenke, statt zu handeln, sterben Menschen. Sie wird sterben.« Er atmete tief ein. »Das GTECH-Serum …«

»Sterling«, fiel ihm Caleb ins Wort. »Wir müssen über Becca reden, aber jetzt ist weder die Zeit noch der Ort dafür.«

Ein Arzt im OP-Kittel kam durch die Doppeltür; seinen Mundschutz hatte er heruntergezogen, sodass er ihm lose am Hals baumelte. Sterling und Caleb standen auf und eilten ihm entgegen. Das Gleiche taten mehrere Männer der Polizeibehörde von Las Vegas. Eine Familie hatte Eddie nicht.

»Er ist stabil, liegt jedoch im Koma«, berichtete der Arzt. »Wir müssen einfach abwarten. Die nächsten vierundzwanzig Stunden sind die kritische Phase.« Es wurden noch ein paar Fragen gestellt, und sie erfuhren, dass keine Besuche gestattet waren.

Caleb legte Sterling die Hand auf die Schulter. »Geh zu Becca«, riet er ihm. »Der Rest kann bis morgen warten.«

Sterling wandte sich zu Caleb um. »Was ich mich, während ich hier saß, wieder und wieder gefragt habe – wie ist Eddie so schnell in den Schrank gekommen? Weißt du, Caleb, ich war vielleicht ganze sechzig Sekunden auf dem Flur. Es ist einfach unmöglich.«

»Was willst du damit sagen?«

»Ich denke die ganze Zeit über das nach, was Becca über die Erinnerungen von Damion und mir zu ihrer Entführung gesagt hat. Sie meinte, es sei alles anders gewesen, als es den Anschein hat. Ich habe damals geglaubt, ich hätte Damion gesehen, als ich Becca übergeben habe.«

»Geglaubt?« Überrascht runzelte Caleb die Stirn.

Sterling strich sich mit der Hand übers Kinn. »Ich weiß nicht, Caleb. Jetzt in dieser Wohnung habe ich Eddie gesehen und sogar mit ihm gesprochen, und doch war er im Schrank. Er kann nicht an zwei Orten gleichzeitig gewesen sein. Ich habe mich gefragt, ob man mich in Beccas Haus unter Drogen gesetzt hat. Vielleicht war etwas in dem Rauch. Aber diesmal, diesmal war ich völlig klar im Kopf. Hier geht irgendetwas ganz Besonderes vor.«

»Vielleicht kann Eddie uns ein paar Hinweise geben.«

»Falls er wieder aufwacht«, befand Sterling finster. Er griff in seine Tasche und zog den USB-Stick hervor. »Marcus hat mir Fotos und persönliche Informationen zu einer Ice-Dealerin gegeben, die für mich verdammt nach Madame klingt.« Er verzog das Gesicht. »Wir wandeln hier auf sehr unsicherem Boden. Er hat uns wahrscheinlich heute an Tad verraten. Ich war mit ihm zusammen. Er hat Becca gesehen. Und plötzlich hatte ich Tad im Nacken.«

»Womöglich wurde auch Marcus verfolgt«, überlegte Caleb. »Schließlich hat er Informationen über Adams Dealer weitergegeben.«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Sterling skeptisch. »Ich hatte heute ein eigentümlich mulmiges Gefühl gegenüber Marcus. Die ganze Sache stinkt zum Himmel – das mit Marcus eingeschlossen.«

Caleb nahm den Stick. »Ich werde diese Frau aufspüren und Marcus zusätzlich überwachen lassen. Du hast eine schlimme Nacht gehabt. Geh zu deiner Frau und sieh zu, dass du eine Mütze Schlaf bekommst.«

Aber Sterling konnte nicht zu Becca gehen. Noch nicht. Nicht ohne zuvor noch einen schweren Gang absolviert zu haben. Er musste Eddies Mutter aufsuchen.

Obwohl es drei Uhr morgens war, saß Becca mit dem Laptop vor sich auf dem Bett, voll bekleidet mit Jeans und T-Shirt, und versuchte, sich auf die Untersuchungsergebnisse zu konzentrieren, die sie und Kelly per E-Mail austauschten. Aber das war unmöglich – kein Wunder, wenn man bedachte, dass sie fix und fertig war, darauf wartete, von Sterling zu hören, den Tränen nahe, weil er nicht auf ihre Anrufe antwortete. Außerdem ließ die Notwendigkeit, sich weggesperrt wie eine Gefangene vor Dorian zu verstecken, sie schier durchdrehen.

Immerhin hatte Caleb sie auf dem Laufenden gehalten, auch wenn das nichts dagegen ausrichten konnte, dass ihre Unsicherheit über das »Warum« von Sterlings Schweigen ihr den Magen zusammenkrampfte.

Sie hätte ihm von dem Bindungssymbol erzählen sollen. Und sie hätte es am Abend in dieser Gaststätte auch getan, wäre in diesem Moment nicht Eddie aufgetaucht.

Aber Michael wusste von dem Band, ebenso Caleb und Kelly. Irgendjemand könnte es Sterling gesagt haben, könnte ihr die Möglichkeit genommen haben, ihm auf ihre Art verständlich zu machen, warum sie ihr Band verborgen gehalten hatte.

Sie war kurz davor, das Warten zum Teufel zu wünschen und sich heimlich auf den Weg zum Krankenhaus zu machen, als sich knarrend die Vordertür öffnete. Schnell stellte Becca ihren Laptop beiseite und ging Richtung Tür. Sie brannte darauf, Sterling zu sehen, ihn zu berühren und zu wissen, dass es ihm gut ging.

Bevor sie es auch nur halb durch den Raum geschafft hatte, erschien er im Eingang zum Schlafzimmer. Er war übel zugerichtet, wirkte erschöpft und stützte sich mit den Händen am Türrahmen ab. Blut überzog das verblasste Blau seines rechten Hosenbeins, und sein schwarzes T-Shirt war von einem dunklen Fleck verklebt, von dem sie vermutete, dass es ebenfalls Blut war. Eddies Blut, kam es ihr in den Sinn.

»Eddie ist …« Seine Stimme verlor sich.

»… auf der Intensivstation«, beendete sie den Satz für ihn und eilte auf ihn zu. »Ich weiß.« Sie schlang die Arme um ihn und wollte ihn nie mehr loslassen. Ihre Wange an sein Herz gepresst, freute sie sich über das stete Pulsen unter ihrem Ohr.

Einen Moment lang berührte er sie nicht, bewegte sich nicht, und Angst durchbohrte ihr Herz. Er hatte ihre Anrufe nicht entgegengenommen. Er berührte sie nicht.

Dann entspannte er sich plötzlich, lehnte sich an sie und zog sie enger an sich. Im nächsten Moment begrub er sein Gesicht in ihrem Haar. Sie hatte immer noch die Möglichkeit, ihm alles zu erzählen, alles zu erklären, bevor ihr Schweigen eine Mauer entstehen ließ, die sie nicht würde durchdringen können.

»Ich habe seine Mutter besucht«, berichtete er heiser.

Sie reckte den Kopf, legte die Hand auf seine Brust. »War es sehr schlimm?«

»Hätte ihre Pflegerin sie nicht ruhiggestellt, wäre sie jetzt wahrscheinlich als Patientin im Krankenhaus, genau wie ihr Sohn.«

»Es war gut, dass du heute Nacht da hingegangen bist. Wenn Eddie aufwacht – und das wird er, Sterling –, wird er zu schätzen wissen, was du getan hast.«

»Dass ich beinahe seinen Tod verschuldet hätte?«, fragte er voller beißender Selbstvorwürfe.

»Du hast ihm das Leben gerettet«, gab sie zurück und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen. »Und erzähl mir jetzt nicht, dass du es nicht getan hast. Caleb hat mir bereits gesagt, was passiert ist.« Sie griff nach seiner Hand. »Du brauchst eine heiße Dusche und Ruhe.«

Er folgte ihr, und in seinem schweren, müden Blick spiegelte sich eine Erschöpfung, von der sie wusste, dass sie über das Körperliche hinausging. Sie drehte die Brause auf, damit das Wasser heiß wurde, und half ihm, sich auszuziehen. Sie wollte wieder hinausgehen, aber er zog sie an sich.

»Ich brauche dich, Becca. Komm zu mir.« Zärtlich strich er ihr übers Gesicht und ließ seine Finger durch eine Strähne ihres Haars gleiten. »Bitte.«

Er brauchte sie. Diese Worte erfüllten sie tief und innig, auf eine Weise, über die er restlos Bescheid wissen sollte. »Ich brauche dich ebenfalls«, flüsterte sie, aber ein Anflug von Unbehagen durchzuckte sie, als sie sich der Wahrheit hinter diesen Worten bewusst wurde. Sie brauchte ihn ganz buchstäblich, um weiterleben zu können. Wie konnte sie dafür sorgen, dass er wusste, dass ihr ihre Verbindung viel mehr bedeutete als nur das?

Schnell zog sie sich aus. Sie brannte darauf, alle Mauern und Hindernisse zwischen ihnen zu beseitigen, und begann mit der Kleidung. Sie stiegen unter das strömende Wasser, verschmolzen mit diesen heißen Strömen, verschmolzen miteinander.

»Becca«, raunte er, und ihr Name auf seiner Zunge sprach tausend unausgesprochene Worte. Schmerz. Sehnsucht. Verlangen. Schuldgefühle.

Sie musste ihm von dem Symbol in ihrem Nacken erzählen. »Sterling …«

Er küsste sie, ein langer, betäubender Kuss, der ihr den Atem raubte und bis in ihre Seele drang. Ein Kuss, der zu ihrem Atem wurde … der zu seinem Atem wurde. Er verschlang sie mit diesem Kuss und dem nächsten … und wieder dem nächsten, bis er mehr verschlang als ihren Mund. Er verschlang ihren Körper, berührte sie, leckte sie, knabberte an ihrem Hals, ihrer Schulter. Dann drückte er sie gegen die Duschwand und hob sie hoch, eine Hand um ihren Hintern gelegt, während er sich mit der anderen an der Wand neben ihrem Kopf abstützte.

All die innere Aufgewühltheit, die sie in seinen Augen gesehen hatte, spürte sie jetzt in ihm. Sein Blick traf den ihren und hielt sie fest, als er sich in sie hineinpresste, sie ausfüllte, sie dehnte.

Plötzlich war da etwas ungestüm Wildes, das sie verband; wild auf eine Weise, wie sie Becca noch nie in ihrem Leben erfahren hatte. Sie wölbte die Hüften und wollte mehr, stemmte sich ihm entgegen, während er in sie stieß. Doch noch immer war es nicht genug. Da war keine Hemmung, kein Nachdenken. Da war nur Verlangen. Verlangen, um dessen Erfüllung sie laut gebettelt hätte.

»Sterling, ich brauche …«

Sein Mund bedeckte ihren, seine Zunge saugte an ihrer, leckte und schmeckte. »Ich weiß«, murmelte er. »Ich brauche es auch.« Er wuchtete sie herum, weg von der Wand. »Halt dich fest.«

Becca griff nach der Duschstange und spannte die Beine noch enger um seine Hüften, drückte seinen Schwanz fester, tiefer in sich hinein. Er beugte sich vor, leckte das Wasser von ihren Brustwarzen, saugte an ihnen, dann stieß er heftig in sie hinein.

Becca schrie ihre pure Lust heraus, genoss den Druck seines Mundes auf ihrem Nippel, kleine Wonnepfeile schossen durch sie hindurch. Sie rief seinen Namen, vergaß alles außer ihm, wie er an ihrem Nippel saugte und in sie hineinstieß, bis es schier unerträglich wurde; doch zugleich konnte sie auch nicht genug von ihm bekommen. Sie explodierte in einer heftigen, bunten Woge der Wonne, explodierte mit krampfhaften Zuckungen, die seinen Schwanz packten und ihn noch tiefer in sie hineinzogen. Er stöhnte, leise und kehlig, und dann presste er sie hart und fest gegen seine Hüften.

Gleichzeitig brachen sie ineinander zusammen; er hielt sie, und sie ließ die Stange los, um die Arme um seinen Hals zu schlingen. »Geht es nur mir so«, fragte er schließlich, »oder ist das Wasser scheißkalt?«

»Es ist recht kalt, ja«, bestätigte sie, und ein Schauer jagte ihr über den Rücken. »Okay, es ist wirklich scheißkalt.«

Er trug sie aus der Dusche und setzte sie ab, dann griff er sich ein paar Handtücher aus dem Schrank. Becca stellte sich vor den Spiegel, um sich abzutrocknen. Plötzlich war Sterling hinter ihr, strich ihr Haar zur Seite und starrte auf ihren Nacken. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und das Handtuch fiel zu Boden, als sie nach der Ablage griff, um ihren plötzlich weichen Knien mehr Halt zu geben. Das hatte sie nun wirklich etwas anders geplant.

»Sterling«, flüsterte sie. Ihr Blick wanderte zum Spiegel, um ihm in die Augen zu schauen, und in der Sekunde, als sich ihre Blicke dort begegneten, wusste sie, dass es ein Fehler gewesen war. Er konnte die Schuldgefühle in ihren Augen sehen.

»Du hast es gewusst«, klagte er sie an. »Du hast es gewusst, und du hast es mir nicht gesagt.«

Sie spürte das Gefühl von Verrat in seiner Stimme mitschwingen und wirbelte zu ihm herum. »Ich kann alles erklären.«

»Es ist alles anders, als es den Anschein hat«, wiederholte er ihre Worte. Ein Zufall, der ganz und gar nicht Schicksal war – es war alles geplant gewesen. »Was für ein Spiel spielst du, Becca?«