20
Sterling und Becca materialisierten sich in einem engen Durchgang rechts vom Magnolia-Casino und Freizeitressort.
Sterling legte Becca die Hände aufs Gesicht und sah sie eindringlich an. »Alles in Ordnung?«
Sie blinzelte und musste erst einmal wieder zu sich finden. »Ja. Alles bestens.« Ihre Augen strahlten auf, kleine Strähnen rabenschwarzen Haares flatterten über seine Finger und erfüllten die Luft mit dem frischen, süßen Duft nach Frau. »Das war wirklich absolut unglaublich.« Sie schaute sich um. »Wo sind wir?«
»Wir materialisieren uns niemals auf offener Straße«, erklärte er, griff nach ihrer Hand und schlug, jetzt, da er wusste, dass sie in Ordnung war, sofort den Weg zum Ende des Durchgangs ein. Vorne an der Ecke blieb er stehen und sagte: »Du bist meine neue Assistentin. Alle in dieser Stadt kennen mich als mietbaren Spürhund und Prämienjäger, der alles macht, was Bares bringt. Du bist mit dabei, um eingearbeitet zu werden. Und damit hat sich’s – mehr sagst du nicht.« Er wartete gar nicht erst eine Antwort ab. Ihre Uhr tickte.
Sterling führte Becca ins Freie und entdeckte sofort den am Dienstboteneingang des Magnolia-Ressorts parkenden Rettungswagen. Das Magnolia war Marcus’ Hotel. Marcus würde sicher Fragen haben, wenn Sterling genau in dem Moment auftauchte, da gerade ein Ice-Clanner in seinem Club zusammengebrochen war. Aber, verdammt, Sterlings Leben war sowieso immer eine einzige Abfolge schwieriger Probleme gewesen. Da konnte er auch mit ein paar Dutzend weiteren fertig werden. Konfrontation lautete die Devise. Und er beherrschte dieses Spiel.
»Wieder ein Punkt für Eddie«, flüsterte Sterling, während sie auf den Rettungswagen zugingen.
»Eddie?«, wiederholte Becca.
Sterling deutete zu dem Polizisten in Zivil, der auf sie zukam. Ein Mann, der etwa dem entsprach, was Frauen gern einen »Teddybären« nannten – jung, mit extrem kurz geschorenem Haar und einem kräftigen Körperbau. »Eddie ist der Informant, von dem ich dir erzählt habe.«
»Hat lange genug gedauert«, sagte Eddie, als er sie direkt hinter dem Gewimmel der schaulustigen Passanten abfing. »Sie rollen den Burschen gerade hier rüber, und er sieht gar nicht gut aus.« Er warf einen Blick auf Becca. »Hi.« Dann sah er wieder Sterling an. »Teilnahme am üblichen Tod-durch-Ice-Ritual – nicht gerade das, was ich eine gute Dating-Strategie nennen würde, Ster.«
Sterling grinste mit kaum verborgener Belustigung. Wenn er wollte, konnte Eddie recht witzig sein. »Sie ist meine Assistentin.« Dann kam er zum Thema und fragte: »Was weißt du über den Ice-Konsumenten?«
»Er ist siebenundzwanzig«, antwortete Eddie. »Als Croupier verteilt er Karten, keine Drogen, obwohl er auch in beiden Bereichen aktiv sein könnte. Ich weiß noch nicht viel. Er hat seit einem Jahr für das Casino gearbeitet. Übrigens, wo ich schon einmal dein Informant bin: Diese beiden Typen, wegen denen du mich angerufen hast – die Clanner, die ich über ihre Ausweise ausfindig machen sollte –, sind seit deinem Anruf nicht mehr zu Hause gewesen. Will sagen: Sie sind verschwunden. Aber es gibt da ein interessantes Detail – sie haben in einem der an das Magnolia angeschlossenen Betriebe gearbeitet. Da könnte es eine Verbindung geben. Ich werde der Sache nachgehen. Im Moment haben wir keine Zeit für solche Kinkerlitzchen. Die Rettungsleute haben das Krankenhaus bereits per Funk verständigt. Es würde mich nicht überraschen, wenn die Army jeden Moment hier auftauchen würde. Wenn du dir noch Hoffnungen machst, den Mann befragen zu können, solltest du besser zusehen, dass du in diesen Krankenwagen hineinkommst, und zwar sofort.«
»Warten Sie«, meldete sich Becca zu Wort. »Er lebt? Ich dachte, er sei tot.«
»Er ist schon ziemlich hinüber«, antwortete Eddie. Dann griff er in seine Tasche und zog eine kleine braune Tüte heraus. »Ampullen mit Ice – jetzt habe ich aber was gut bei dir.«
Sterling und Becca wechselten einen erleichterten Blick.
»Nach diesem Blick zu urteilen, habe ich dann ja wohl wirklich mächtig was gut«, fügte Eddie hinzu. »Und damit mache ich mich jetzt vom Acker. Ich will nicht mit dir gesehen werden. Viel Glück. Du wirst noch einmal der Nagel zu meine Sarg sein, Sterling.«
Becca blickte Sterling an, und ihre bernsteinfarbenen Augen funkelten. »Du schaffst es aber auch wirklich, dich bei den Leuten beliebt zu machen.«
»Eine spezielle Begabung«, sagte er, nachdem Eddie in der Menge verschwunden war.
Die Rettungssanitäter rollten die Bahre im Laufschritt aus dem Gebäude. »Jetzt geht’s los, Süße. Und so ziehen wir die Sache durch: Du läufst zu den Rettungsleuten und machst ihnen irgendeine dramatische Szene. Erzähl ihnen, der Clanner sei dein Bruder, und sorg dafür, dass du mit in den Krankenwagen kommst.« Er zog sich den Rucksack von den Schultern und drückte ihn ihr in die Hand. »Ich kümmere mich um den Typ auf dem Fahrersitz und sorge dafür, dass dich niemand daran hindert, Blut abzunehmen und deine Untersuchungen durchzuführen. Sobald die Sache erledigt ist, schauen wir, dass wir per Windwalking von hier wegkommen. Das gilt auch für den Fall, dass irgendetwas schiefgeht. Wir machen sofort den Abflug und windwalken hier raus.«
Becca nickte. Ihre Wangen waren gerötet. Die Rettungsleute kamen näher. Sie wartete, bis der passende Moment gekommen war.
»Das ist mein Bruder!«, brüllte sie, und Sterling verfolgte, wie sie vor den Rettungssanitätern ihre Schau abzog. Klasse. Sie war gut darin, die Verzweifelte zu spielen. Dann runzelte er die Stirn. Okay, vielleicht doch nicht so klasse. Leises Unbehagen durchströmte ihn. Er wollte sich keine Gedanken darüber machen, dass Becca ihn womöglich täuschen könnte, aber sie war sich doch ein wenig zu sicher gewesen, dass sie das Windwalken überleben würde … als wüsste sie es bereits. Doch alle Instinkte seines Körpers schrien ihm zu, ihr zu vertrauen. Nein, begriff er. Becca war wie er. Sie war gegen die ständige Möglichkeit des Todes unempfindlich geworden, eine Erkenntnis, die ihm durch die Seele schnitt. Das war nicht das Leben, das er ihr wünschte.
Als Becca in den Rettungswagen sprang, schüttelte er den Gedanken ab. Sterling bahnte sich einen Weg zur Beifahrertür. Sobald der Motor startete, riss er die Tür auf und war im Wagen.
»Hey!«, blaffte der Fahrer, ein Mann in den mittleren Jahren, in dessen dunkles Haar sich graue Strähnen mischten.
Sterling richtete seine Glock auf ihn. »Gleichfalls hey.« Er riss das Funkgerät aus dem Armaturenbrett und befahl: »Fahren Sie ins Krankenhaus, damit wir diesem Mann das Leben retten können!«
Der Fahrer legte den Gang ein und fädelte sich in den Straßenverkehr ein.
»Was zum Teufel geht da vorne vor sich?«, brüllte jemand von hinten. Einen Moment später erschien ein kleiner untersetzter Mann mit kurz geschorenen Haaren.
Sterling richtete seine Waffe auf ihn. »Sie werden der Frau hinten bei Ihnen erlauben, alle Tests zu machen, die sie durchführen muss. Und Sie werden ihr dabei helfen. Also verschwinden Sie und helfen ihr.« Er hob die Stimme. »Wie kommst du dahinten zurecht, Becca?«
»Ich brauche dich hier!«
»Gehen Sie und helfen ihr«, befahl Sterling und folgte dem Mann nach hinten, wo er auf einen weiteren Sanitäter stieß, der sich direkt gegenüber von Becca befand.
»Er ist tot«, sagte Becca. Ihr Gesicht war bleich, sie drückte sich die Hand auf den Bauch.
Kaum hatte sie das verkündet, da kam der Rettungswagen auch schon mit kreischenden Bremsen zum Stehen. Alle wurden vor- und zurückgeschleudert. Flüche und medizinisches Zubehör flogen durch die Luft. In Sekundenschnelle war Sterling vorne im Wagen.
Als er sah, was der Grund für den unsanften Halt war, stieß er zischend ein paar eigene Flüche aus. Army-Jeeps. Drei an der Zahl. Und wenn sie vor ihnen waren, würden sie auch hinter ihnen sein.
Er ging wieder nach hinten und beugte sich zu Becca hinab. »Sobald sich die Türen öffnen, verschwinden wir.«
»So verrückt es klingen mag«, antwortete sie, »aber wir brauchen seinen Körper für unser Forschungsteam.«
»Den Körper!«, rief einer der Sanitäter. »Ihr wollt die Leiche stehlen?« Er machte einen Schritt Richtung Hecktür.
Sterling zielte mit seiner Glock auf ihn. »Ich schieße gern mit Pistolen«, bemerkte er. »Geben Sie mir ruhig einen Vorwand, es mit dieser hier zu beweisen.« Der Mann setzte sich wieder hin. Ungefähr im selben Moment hörte Sterling, dass sich die Vordertüren öffneten.
»Ich kann nicht dich und auch ihn mitnehmen«, sagte Sterling. In diesem Moment litt er sehr darunter, nicht wie die anderen Windwalker zu sein – dass ihm Grenzen auferlegt waren, die für die anderen nicht galten. »Immer nur einen nach dem anderen.«
»Nimm erst ihn, und komm dann zurück, um mich zu holen«, erwiderte sie. »Wir können es nicht riskieren, diesen Körper zu verlieren. Wir brauchen ihn.«
»Kommt überhaupt nicht infrage«, erklärte er. Da flogen die Hecktüren auf, und Sterling packte Becca.
In Neon tauchten sie wieder auf. Er drückte ihr die Fernbedienung in die Hand. »Ich habe dir gesagt, dass ich meine Entscheidungen so treffen würde, um dich am Leben zu halten, und es war mir ernst damit. Warte drinnen.« Er verschwand wieder im Wind.
Sterling materialisierte sich im Inneren des Rettungswagens, nur um sich drei Maschinenpistolen gegenüberzusehen. Eine befand sich in der Hand eines Mannes mit vertrautem Gesicht – Lieutenant Riker, Leiter der Ice-Sondereinheit, mit dem Sterling häufig zusammenarbeitete. Sie respektierten einander, waren aber weit davon entfernt, Freunde zu sein. Sobald er Sterling erkannte, bedeutete Riker seinen Soldaten wegzutreten und machte dann einen Schritt nach vorn.
»Verdammter Mist, was machen Sie hier, Sterling?« Er warf den Rettungssanitätern einen Blick zu. »Steigt aus.«
Die Männer kletterten aus dem Wagen, und Sterling antwortete: »Das Gleiche wie Sie, Blödmann. Ich rette die Welt, immer einen blöden Arsch nach dem anderen.«
»Kurze Bekanntmachung«, verkündete Riker, »der hier ist gestorben. Sie haben versagt.«
»Er könnte immer noch leben, wenn wir die medizinischen Daten hätten, die wir benötigen, damit unser Team seine Arbeit machen kann«, entgegnete Sterling.
Riker beugte sich ein Stück vor. »Euer medizinischer Stab ist bekanntlich herzlich dazu eingeladen, sich mit dem unseren zusammenzutun.«
»Sie meinen, Ihrem Stab beizutreten«, korrigierte Sterling. »Und Sie wissen genauso gut wie ich, dass das nicht passieren wird. Ihr könnt nicht beides zugleich haben. Uns zu eurem Schutz einsetzen und zugleich auf eine Gelegenheit lauern, uns in den Rücken zu fallen.«
»Ich bin Soldat, genau wie Sie«, erwiderte Riker. »Ich nehme Befehle entgegen.«
»Ein Soldat, wie ich es war«, gab Sterling zurück. »Ich gehöre nicht mehr der Regierung, so wie Sie. Was wird geschehen, wenn die beschließen, Ihnen das neue Was-auch-Immer zu injizieren, Riker? Was wird geschehen, wenn die nun Sie in den Feind verwandeln?«
»Ich weiß, dass das, was sie mit euch gemacht haben, ziemlich danebengegangen ist.«
»Unschuldige Leben stehen auf dem Spiel, Riker. Ich brauche diesen toten Körper, um sie beschützen zu können. Und ich werde ihn mitnehmen, mit oder ohne Ihre Zustimmung. Auf lange Sicht bin ich als Freund viel besser denn als Feind.«
Rikers stahlgraue Augen zogen sich für mehrere angespannte Sekunden zu Schlitzen zusammen. Dann nickte er plötzlich schroff, machte einen Schritt zurück und schlug die Türen des Rettungswagens zu. Sterling und der tote Körper waren schon verschwunden, bevor die Türen überhaupt ganz geschlossen waren.
Iceman saß in einem seiner Lieblingsrestaurants in einer Sitzecke. Sie bildete ein kleines Podest mit nur wenigen Sitzen und war durch mehrere Stufen vom übrigen Lokal abgetrennt. Er nippte an seinem Glas Lagavulin ohne Eis – die einzig angemessene Art, einen erstklassigen schottischen Single Malt Whisky zu genießen – und kostete das Aroma ebenso aus wie seinen wachsenden Erfolg.
Sabrina saß neben ihm, an seine Seite gekuschelt, und roch nach Mandarinen. Er wusste nicht, warum sie so roch, aber im Moment bedeutete dieser Duft für ihn nur eins – Lust. Also: Geld, Sex, Befriedigung.
»Die Mädchen haben ihre Sache heute Abend gut gemacht«, bemerkte sie, und das Bündel Geldscheine, das sie eingetrieben hatten, bewies es. Sie strich ihm unter seiner Jacke mit der Hand über die Brust. »Du siehst, dass Tad mich angefasst hat, hat meine Leistungsfähigkeit nicht beeinträchtigt. Ich weiß, wie ich meine Mädchen motivieren kann. Ich werde jede Menge Knete für dich an Land ziehen, mein Schatz.«
Er warf ihr einen Seitenblick zu und schaute sich dann im Restaurant um. Von seinem Platz aus hatte Iceman jede Ecke und jeden Sitz in dem Drei-Sterne-Luxusrestaurant im Auge.
Es ließ sich nicht bestreiten, dass Sabrina ihn heiß und hart machte. Oder vielleicht war es auch die Art, wie sie ihr Ding durchzog, sowohl im Bett als auch mit ihren Mädchen, was ihn hart machte. So oder so, er hatte über seinen nächsten Schritt entschieden.
Er nippte an seinem Scotch. »Ich habe über dein neues Band mit Tad nachgedacht«, sagte er. »Vielleicht kann es uns nützlich sein.«
Sie hob ihr Glas Merlot an den Mund. »Wie das?« Bewusst verführerisch ließ sie die Zunge über die Unterlippe gleiten. Sie mochte solche Spielchen.
Der Not gehorchend hatte er ihr bereits die Aufnahmen von Rebecca Burns im Club gezeigt. Und sie mussten diese Frau finden. Das bedeutete, dass sein Personal nach ihr Ausschau halten musste.
»Sobald wir die Frau haben – diese Rebecca Burns«, sagte er, »werden die Zodius uns nichts mehr anhaben können. Wir werden Tad loswerden, und genauso jeden anderen, der uns Ärger macht.« Er würde Rebecca Burns auf Schritt und Tritt bei sich haben, wenn es sein musste, als seinen persönlichen Ice-süchtigen Bodyguard. Und sosehr er Tad töten wollte, hatte er doch auch Verwendung für ihn – so wollte er zum Beispiel an die Quelle zur Herstellung des Ice herankommen, da Icemans wissenschaftliches Team es offenbar nicht nachzubilden vermochte.
Ein träges Lächeln glitt über Sabrinas Lippen. »Tad hat mich gefickt«, stellte sie fest, »und jetzt ficken wir ihn und zahlen es ihm heim.«
Er würde es Tad tatsächlich heimzahlen, und Adam gleich mit. Icemans Blick wanderte zur Tür und stieß auf J.C., der an den Tisch geschlendert kam. Doch seine zwanglose Lässigkeit war nur eine Fassade. Das verrieten seine zusammengebissenen Kiefer, der steife Nacken und die Tatsache, dass er Iceman in seiner Freizeit störte.
Mit zwei Schritten sprang J.C. die Treppe hinauf und schlüpfte gegenüber von Iceman und Sabrina in die Nische. »Ein weiterer Clanner ist gestorben«, berichtete er. »Im Magnolia-Ressort. Einer vom dortigen Personal.«
Iceman knirschte mit den Zähnen. Jetzt wusste er, warum J.C. so angespannt war. Sie hatten beschlossen, die großen Hotels und Ressorts zu infiltrieren und im Hinblick auf die zukünftige Verteilung der Droge das gesamte Personal miteinzubeziehen. Dabei waren sie vorsichtig vorgegangen, hatten sich immer nur ein Ressort nach dem anderen vorgenommen. Aber auch die beiden Clanner aus dem Lagerhaus waren Angestellte des Magnolia gewesen. Und jetzt der Dealer.
»Er hat gestern Nacht Eclipse genommen«, fuhr J.C. fort. »Man wird es in seinem Körper nachweisen können.« Er senkte die Stimme. »Alle Clanner, die gestorben sind, haben zuvor Ice-Eclipse genommen statt das reine Ice.«
Das war keine positive Entwicklung, aber damit konnte man umgehen. »Wir werden die Umsetzung unseres Plans fortsetzen.«
»Früher oder später werden die Hüter des Gesetzes dahinterkommen, dass der Eclipse-Flash für die Todesfälle verantwortlich ist, die nichts mit Entzug zu tun haben«, gab J.C. zu bedenken. »Sie werden das öffentlich bekannt machen. Sie werden den Leuten sagen, dass sie aufhören müssen, Ice zu nehmen, weil sie sonst ihren Tod riskieren.«
»Und wir werden unseren Eclipsern sagen, dass sie sicher sind«, gab Iceman zurück, »dass es die Nicht-Eclipser sind, die sterben – die Leute, die das unvermischte Ice nehmen.«
»Den Leuten wird doch jeden Tag eingetrichtert, dass Drogenkonsum sie umbringt«, fügte Sabrina hinzu. »Sie nehmen sie trotzdem weiter.«
»Da haben wir’s ja«, sagte Iceman. »Problem gelöst. Sonst noch was?«
»Sterling ist aufgetaucht, als die Rettungssanitäter im Magnolia waren«, fuhr J.C. fort. »Zusammen mit Rebecca Burns. Sie sind mit dem Rettungswagen weggefahren, und meine Informanten haben mir berichtet, dass die Leiche nie im Krankenhaus angekommen ist. Rebecca Burns hilft den Renegades.«
»Sterling hat einen Vorrat an Ice«, erwiderte Iceman. »Dessen bin ich mir sicher. Sie hilft also ihrem neuesten Ice-Lieferanten. Wir müssen dafür sorgen, dass das in Zukunft ich bin.«
»Du meinst Adam«, ertönte eine Männerstimme. Eine Sekunde später ließ sich Tad auf den Sitz neben J.C. gleiten. »Er will Rebecca Burns haben, und was Adam will, das kriegt er auch. Sobald du Adam krumm kommst, stirbst du.«
Iceman zwang seine Gesichtszüge, eine ungerührte Maske zu formen, während er innerlich völlig aufgewühlt war. Zum Teufel! Woher war der Mann gekommen? Hier war kein Wind. Sie befanden sich hundert Meter tief in einem Casino-Ressort. Er wusste, dass er verdammt noch mal jeden registriert hatte, der seit seiner Ankunft gekommen und gegangen war. Ganz zu schweigen davon, dass Tad in einem Etablissement, in dem Anzug und Krawatte zwingend vorgeschrieben waren, in Lederhose und Lederjacke ungehindert durch die Vordertür hatte passieren können.
Tad fixierte Iceman. Spott und Belustigung glitzerten in seinen Augen. »Du hältst dich für unersetzlich, aber das bist du nicht.« Er deutete auf den Sitz neben sich. »J.C. hier kennt sich doch bestens aus, nicht wahr? Ich wette, er hätte auch gern ein paar von diesen schicken Sportwagen, die du auf Adams Kosten fährst. Vielleicht solltest du ihm welche kaufen. Ein guter Stellvertreter verdient es, dass man sich um ihn kümmert.«
Er griff sich Icemans Scotch, prostete Sabrina mit einer saftigen Prise Wollust in seinen schwarzen Augen zu und kippte den Whisky runter. »Feiner Stoff.« Es war nicht ganz klar, ob er den Scotch meinte oder die Frau. Er sah Iceman an. »Kaum zu glauben, dass du aus einer Familie kommst, die Billigbier aus der Flasche trinkt.« Herausforderung glänzte in seinen Augen. Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Also, wir brauchen einen Plan. Wir müssen einen Weg finden, wie wir Rebecca Burns aus ihrem Versteck locken und einfangen können. Wenn sie auf der Bildfläche auftaucht, sobald ein Ice-Junkie gestorben ist, dann müssen wir eben noch einen anderen töten und dafür sorgen, dass es wie die anderen Todesfälle aussieht.« Er lachte ein trockenes, bellendes Lachen, als würde er versuchen, einen geschmacklosen Witz zu reißen. »Wenn wir einen umbringen, wird sie kommen.«
Iceman starrte Tad an, und Hass brannte wie Säure in seinen Eingeweiden. Niemand ließ Iceman wie einen Idioten dastehen, ohne den Preis dafür zu zahlen. Tad würde schon bald erfahren müssen, dass dieser Preis schmerzhaft war.
Becca warf ihren Bleistift auf den Labortisch und schlug die Hände vor ihr Gesicht. Es waren Stunden vergangen, seit der Clanner im Rettungswagen gestorben war. Seine Leiche war nach Sunrise City gebracht worden, um sie dort gründlich wissenschaftlich zu untersuchen, was Becca nur recht war. Leichen waren nicht ihr Ding. Sie war Astrobiologin, keine Gerichtsmedizinerin und Leichenbeschauerin – eine Astrobiologin, die müde, hungrig und frustriert war und sich wünschte, dass Sterling endlich zurückkehrte.
Er war jetzt schon seit geraumer Zeit in einer Besprechung mit Caleb und einigen der anderen Renegades. In der Besprechung ging es darum zu entscheiden, was sie wegen Dorian tun sollten. Da ihre eigenen Fortschritte zu wünschen übrig ließen, hoffte sie, dass er Antworten würde liefern können.
Becca nahm die Hände vom Gesicht, strich sich mit den Fingern über die Beine und schaute dann auf die Uhr auf dem Computer. Gütiger Gott. Sie hatte wirklich jedes Zeitgefühl verloren. War es wirklich schon zwei Uhr morgens? Kein Wunder, dass sie müde war. Bedauerlicherweise holte das Verlangen nach Schlaf selbst einen Ice-Abhängigen ein, wenn auch weniger schnell.
Am Computer ertönte ein Summton – das Zeichen, dass Kelly mit ihr sprechen wollte. Becca drückte auf eine Taste, und Kellys Gesicht füllte den Bildschirm. Ihr hellblondes Haar türmte sich auf ihrem Kopf auf, und sie hatte dunkle Ringe um die Augen. Becca hegte keinerlei Zweifel, dass sie selbst genauso erschöpft aussah.
Sie pflügten sich beide durch ein Meer von einer Million möglichen Antworten, während die davonlaufende Zeit sie drängte, die richtige zu finden. Und so hatten sie beschlossen, nach dem Motto »Teile und herrsche« zu arbeiten und sich dann alle paar Stunden über ihre Ergebnisse auszutauschen. Kelly und ihr Team arbeiteten an Wegen zur Rettung der bisherigen Ice-Abhängigen, während Becca ganz von der Idee der Entwicklung einer Methode zur Immunisierung gegen Ice eingenommen war. Sie suchte nach einer Substanz, durch die die Absorption der Droge verhindert werden sollte. »Bitte, sagen Sie mir, dass Sie mehr Erfolg hatten als ich«, bat Kelly mit einem schweren Seufzer.
»Ich würde nicht von Erfolg sprechen«, antwortete Becca. »Aber ich habe über einige meiner Erfahrungen bei der NASA nachgedacht. Wenn man es mit extraterrestrischen Mikroorganismen zu tun hat, erwartet man das Unerwartete. Wir arbeiten unter der Prämisse, dass es mikroskopisch kleine Lebensformen gibt, die wir nicht einmal als solche erkennen, weil wir nicht wissen, wie wir ihre Existenz mit unseren Messmethoden erfassen sollen – was dieses Problem kompliziert erscheinen lässt. Tatsächlich bin ich mir nicht sicher, ob es das wirklich ist. Was, wenn es so einfach ist wie die Frage, warum wir nicht auf einem fremden Planeten leben können und sie nicht auf unserem? Also könnte vielleicht etwas, das wir jeden Tag gebrauchen, auch genau das sein, was eine Immunisierung bewirken oder als Gegenmittel dienen könnte – etwas wie Sauerstoff, aber eben kein Sauerstoff. Ein Mineral. Ein Vitamin. Da Ice außerirdisch ist, sollten wir nach einem Element suchen, das die außerirdische DNA abstößt, und dann könnten wir es vielleicht so umwandeln, dass wir es zur Immunisierung einsetzen können. Ich werde die GTECH-Unterlagen jetzt noch einmal daraufhin durchsehen, ob sie mir in diesem Punkt irgendwelche Hinweise geben können.«
Sie besprachen diese Idee einige Minuten lang, beide ermutigt von den Möglichkeiten, die sich hier eröffneten, dann sagte Kelly: »Ich habe mir auch darüber Gedanken gemacht, wie wir mit den bisherigen Ice-Abhängigen umgehen sollen. Ich will mit Caleb darüber sprechen, energischere Maßnahmen zu ergreifen. Wir sollten ein paar dieser Abhängigen hierherbringen und sie unter medizinischer Überwachung einem Ice-Entzug unterziehen. Das sind nicht gerade meine bevorzugten Methoden, aber es dient dem Ziel, Leben zu retten. Ich werde morgen früh mit Caleb darüber reden.« Sie schaute auf ihre Armbanduhr. »Okay. Es ist schon fast Morgen. Wir brauchen beide etwas Schlaf.«
»Legen Sie sich ruhig hin«, antwortete Becca. »Ich bin noch fit. Ich möchte an meiner Idee zur Immunisierung arbeiten, solange ich sie neu und frisch im Kopf habe.«
»Ganz ausgeschlossen, dass in Ihrem Kopf im Moment noch irgendetwas neu und frisch sein kann, Becca.«
»Ich muss wirklich weiterarbeiten, Kelly. Ich muss mir Klarheit verschaffen.«
Kelly musterte sie für einen Moment. »Sie meinen, bevor es zu spät ist und Sie genauso tot sind wie dieser Clanner, den Sie heute haben sterben sehen? Wollten Sie das sagen?«
»Ja«, bestätigte Becca, und ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. »Wir wissen nicht, wann es so weit sein wird, Kelly.«
»Ich habe Ihr Blutbild gesehen«, erwiderte Kelly. »Mittlerweile schon mehrere Proben. Solange Sie weiter das Ice nehmen, wird Ihnen nichts passieren.«
»Selbst wenn wir über einen unendlichen Vorrat an Ice verfügten, könnten wir uns nicht sicher sein, welche Nebenwirkung es auf seine Konsumenten hat. Wir wissen nicht, wie lange ich noch von Nutzen sein kann.«
Kelly warf ihr einen eindringlichen Blick zu, dann sagte sie sanft: »Becca. Es ist okay, leben zu wollen. Sich um seine eigene Zukunft zu sorgen.«
Die Enge, die sie in der Kehle verspürt hatte, griff nun unerbittlich nach Beccas Brust. »Es ist leichter, die Zukunft aller anderen Menschen im Auge zu haben.« Eine Wahrheit, die ihr herausrutschte, ohne dass sie es gewollt hätte.
»Na schön«, antwortete Kelly nach einer kurzen Pause. Ihre Stimme war jetzt fester und wurde ein wenig störrisch. »Dann werden eben wir uns um Sie sorgen – und für Sie sorgen. Ich rufe jetzt Sterling an und werde ihm befehlen, Sie zu füttern und ins Bett zu bringen. Und damit genug für heute. Gute Nacht, Becca.« Der Bildschirm wurde schwarz.
Fast im selben Moment öffnete sich die Tür zum Labor, und Sterling trat ein. Er sah aus wie ein Junge vom Land, wie ein scharfer Cowboy zum Anbeißen, also ganz wie immer, und mit ihm schlug ihr eine Welle würziger Essensduft entgegen, die ihren Magen fordernd knurren ließ.
»Ich habe da jemanden an der Hand, bei dem ich mir auch spät nachts immer noch was besorgen kann«, sagte er und hielt die Essenstüte in die Höhe, während sein Handy zu klingeln begann. »Hab was vom Chinesen mitgebracht.«
»Das ist Kelly«, sagte Becca. »Sie will dir sagen, dass du mich füttern sollst.« Sie ließ den Teil mit dem »Ins-Bett-Bringen« weg, obwohl dieser Gedanke mindestens genauso reizvoll war wie das Essen.
Er grinste. »Wer hat wohl jetzt die hellseherischen Fähigkeiten?« Er schnappte sich sein Handy und nahm den Anruf entgegen. »Ich bin schon dabei, sie zu füttern, und dann …« Er zögerte, um dann hinzuzufügen: »… bringe ich sie ins Bett.« Ihre Blicke trafen sich, und der seine war erfüllt von der Verheißung, dass mit »ins Bett« sein Bett gemeint war.