5
Ich trage Ollies Jackett und habe meine Riemchensandaletten in der Hand, während wir den Privatstrand hinter Evelyns Haus entlanglaufen. Eigentlich dürften wir gar nicht hier sein, aber das ist mir egal. Ich ziehe meinen Fuß so beschwingt durchs Wasser, dass es spritzt. Es fühlt sich herrlich verboten an.
»Wie geht es Courtney?«, frage ich. »Freut sie sich, dass du wieder da bist?« Das ist eine heikle Frage: Courtney ist Ollies Mal-ja/mal-nein-Freundin. Mal ja, weil sie bezaubernd ist und Ollie dumm wäre, es sich mit ihr zu versauen. Mal nein, weil Ollie sich mehr als einmal danebenbenommen hat.
»Sie ist verlobt«, sagt er.
»Oh.« Ich kann meine Enttäuschung nicht verbergen. Ich sollte Ollie trösten, ihm sagen, dass er eine andere tolle Frau kennenlernen wird, aber ich bin mir sicher, dass er es vermasselt hat.
Plötzlich bricht er in lautes Gelächter aus. »Mit mir, du dummes Huhn!«
»Oh, Gott sei Dank!« Ich gebe ihm einen Stups. »Und ich dachte schon, du hättest es versaut!«
Seine Miene wird ernst. »Hätte ich auch beinahe. Die Zeit in New York war hart: Ich war von ihr getrennt und ständig in Versuchung. Aber damit ist es jetzt vorbei. Für mich kommt keine andere mehr infrage. Meine Güte, Nikki, womit habe ich sie nur verdient?«
»Du bist ein toller Kerl.«
»Ich bin gestört, und das weißt du auch.«
»Wir sind alle ein bisschen gestört. Aber Courtney sieht den Mann hinter der Maske. Und sie liebt dich.«
»Ja, das tut sie«, sagt er grinsend. »Das verwundert mich zwar jeden Tag aufs Neue, aber es ist die Wahrheit.« Er schaut mich verstohlen an. »Apropos gestört: Wie geht es dir eigentlich?«
Ich ziehe sein Jackett enger um mich. »Bestens, das sagte ich doch bereits.« Ich bleibe stehen und vergrabe meine Zehen im Sand. Die Wellen rollen auf mich zu, schwappen über meine nackten Füße, bevor sie sich wieder zurückziehen, sodass ich jedes Mal etwas tiefer einsinke.
Ollie sieht mich nur auf seine ganz bestimmte Art an. So als wüsste er alle meine Geheimnisse. Was ja auch der Fall ist. Ich runzle die Stirn.
Ich zucke mit den Achseln. »Es geht mir wieder einigermaßen. Auf dem College war es anfangs ziemlich scheiße, wurde dann aber immer besser. Und jetzt? Keine Ahnung. Aber es tut gut, aus Texas weg zu sein. Mir geht’s prima. Wirklich.« Ich zucke erneut mit den Achseln. Ich will im Moment nicht darüber reden.
»Wir sollten umkehren.« Ich drehe mich um und gehe zurück.
Er nickt und schlendert neben mir her. Wir laufen eine Weile schweigend auf die Lichter von Evelyns Haus zu. Das Rauschen des Ozeans durchbricht die Stille zwischen uns. Es ist ein tiefes, rhythmisches Raunen, in dem ich mich regelrecht verlieren könnte. Vielleicht habe ich das sogar bereits.
Wir legen noch etwa fünfzig Meter zurück, dann bleibt Ollie stehen. »Wie findest du Fracks?«, fragt er, als sei das die normalste Frage der Welt.
»Finde ich gut«, sage ich. »Fracks haben eine lange Tradition, was offizielle Anlässe anbelangt. Andererseits sind sie nicht unbedingt praktisch. Surfen im Frack? Schwer vorstellbar. Machbar, aber schwer vorstellbar.«
Er lacht. »Ich möchte, dass du mein Trauzeuge wirst«, sagt er, und ich bekomme einen kleinen Kloß im Hals. »Courtney hat kein Problem damit«, fährt er fort, »aber sie findet, auf dem Hochzeitsfoto würde dir ein Frack ganz gut stehen. Du weißt schon: Auf der Männerseite alle im Pinguin-Look, und die Frauenseite in Seide und Satin. Was sagst du dazu?«
Ich lege die Arme um meinen Oberkörper und blinzle die Tränen zurück. »Ich liebe dich. Das weißt du doch, oder?«
»Deshalb frage ich dich ja: Entweder das, oder ich heirate dich, und ich glaube, Letzteres würde Courtney ganz und gar nicht gefallen.« Er sieht mich an, erwartet offensichtlich, dass ich über seinen Vorschlag lache. Als ich das nicht tue, entspannt sich seine Miene. »Danke!«
»Wofür?«
»Dafür, dass du dich für mich freust.«
»Natürlich freue ich mich!«, sage ich, doch mein Lächeln ist künstlich. Alles ändert sich, und ich will nicht, dass Ollie sich auch ändert. Er ist schon so lange mein Fels in der Brandung. Was soll nur aus mir werden, wenn dieser Fels plötzlich nicht mehr da ist?
Aber das ist nicht fair von mir, und das weiß ich auch.
Ich gehe weiter.
»Nik?«
Ich wische mir eine Träne aus dem Auge. »Ach, nichts. Ich reagiere bloß äußerst emotional und seltsam. Frauen und Hochzeiten, du weißt schon.«
»Nichts wird sich ändern, Nik«, sagt er, weil er mein Hormonargument sofort als Unsinn entlarvt hat. »Ich bin immer für dich da, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Courtney hat nichts dagegen.«
Angst steigt in mir auf. »Weiß sie das mit …«
»Natürlich nicht! Ich meine, sie weiß das mit Ashley«, sagt er, aber das ist in Ordnung. Courtney und er waren bereits zusammen, als der unerwartete Selbstmord meiner Schwester mich in ein tiefes Loch fallen ließ. Sie war mehr als nur eine Schwester für mich – sie war meine Fluchtmöglichkeit aus dem Leben, das meine Mutter für mich vorgesehen hatte. Und obwohl sie bereits verheiratet und weggezogen war, geriet ich nach ihrem Tod in eine echte Abwärtsspirale. Jamie und Ollie waren meine Rettungsanker – logisch, dass er mit Courtney darüber gesprochen hat.
»Ich habe Courtney nur gesagt, dass sie gestorben ist und du um sie getrauert hast«, sagt Ollie eindringlich. »Du weißt, dass ich deine Geheimnisse niemals weitererzählen würde.«
Meine Erleichterung ist so enorm, dass sich nicht mal mein schlechtes Gewissen meldet, weil ich Ollie zugetraut habe, mein Vertrauen zu missbrauchen.
»Wir scheinen nicht die Einzigen zu sein, die dem Tumult entfliehen wollten.« Er schaut zu Evelyns Haus hinüber. Die Leute drängen sich auf dem Balkon und werden von dem erhellten Fenster indirekt beleuchtet. Aber die meint Ollie gar nicht, und ich brauche einen Moment, bis ich begreife, wen er erspäht hat. Und dann stockt mir der Atem.
Eine dunkle Wendeltreppe führt vom Balkon zum verwitterten Bürgersteig hinunter, und ein Mann sitzt auf der untersten Stufe. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen, sondern nur seine dunkle Silhouette. Aber aus irgendeinem Grund weiß ich ganz genau, wer das ist.
Wir kommen näher, und er steht auf. Ich habe mich nicht getäuscht.
»Miss Fairchild«, sagt Stark und kommt uns entgegen. Ollie würdigt er keines Blickes. Seine Augen ruhen nur auf mir – eines glüht bernsteinfarben, das andere ist gefährlich tiefschwarz. »Ich habe Sie gesucht.«
»Ach ja?« Ich versuche, gelassen zu klingen, auch wenn ich mich kein bisschen so fühle.
»Warum?«
»Ich bin für Sie verantwortlich.«
Ich lache laut auf. »Ich wüsste nicht, wieso. Ich kenne Sie doch kaum, Mr. Stark.«
»Ich habe Ihrem Chef versprochen, Sie heil nach Hause zu bringen.«
Ollie kommt näher und legt schützend die Hand auf meine Schulter. Seine Finger üben so viel Druck aus, dass ich sie noch durch den dicken Stoff seines Jacketts spüren kann. »Ich werde bald aufbrechen und nehme Nikki gerne mit. Sie sind also von Ihrer Verantwortung entbunden.«
Wortlos streckt Stark den Arm aus und nimmt das Revers von Ollies Jackett zwischen zwei Finger, so als wollte er die Stoffqualität prüfen. Seine Hand verharrt kurz über der Wölbung meiner Brust. Plötzlich wird mir bewusst, wie vertraut das alles auf ihn wirken muss: Ollie und ich gehen allein am Strand spazieren, ich trage sein Jackett …
Ich habe das seltsame Bedürfnis, ihm zu erklären, dass Ollie und mich weder romantische Gefühle noch etwas Sexuelles verbinden, und muss mich schwer zusammenreißen, den Mund zu halten. Ich lege den Kopf schief und sehe zu Ollie auf.
»Das wäre toll. Macht dir das wirklich keine Umstände?«
»Das ist gar kein Problem«, sagt er. Seine Hand liegt immer noch auf meiner Schulter, und er verstärkt den Druck, als wollte er mich dadurch zum Weitergehen auffordern. Aber wohin? Stark steht überlebensgroß vor mir, und die Luft zwischen uns knistert. Wenn ich auch nur einen Schritt weitergehe, denke ich idiotischerweise, werde ich mich in seinem Netz verfangen. Ein Gedanke, der nicht unbedingt unangenehm ist.
»Ich brauche niemanden, der mich von meiner Verantwortung entbindet«, sagt Stark zu Ollie. »Aber ich muss darauf bestehen, dass Miss Fairchild noch bleibt. Wir haben ein paar geschäftliche Dinge zu bereden.«
Ich will schon widersprechen, als mir sein Kommentar von vorhin wieder einfällt – nämlich dass ich mich nicht gerade geschickt dabei anstelle, Investoren für Carl zu finden. Ich nicke Ollie zu. »Das ist schon in Ordnung.«
»Bist du sicher?« Seine Stimme klingt angespannt. Sehr besorgt.
»Natürlich«, erwidere ich. »Fahr nach Hause.«
Er zögert und nickt dann. »Ich ruf dich morgen an«, sagt er, sieht aber Stark dabei an. Er tut so, als wäre er mein großer Bruder, und ich höre die versteckte Botschaft in seinen Worten: Und dann sollte sie gefälligst wohlauf sein, denn sonst gibt es Ärger.
Offenbar geht meine Fantasie mit mir durch.
Ollie küsst mich auf die Wange und nimmt die Wendeltreppe.
»Warten Sie!«, ruft Stark, und Ollie hält inne.
Ich frage mich, ob ich gleich Zeugin eines testosterongeschwängerten Rituals werde. Aber Stark greift nur nach den Schuhen, die ich noch in meiner rechten Hand halte. Verwirrt reiche ich sie ihm, bis er näher kommt und mich vorsichtig aus Ollies Jackett schält.
»Ist schon in Ordnung«, sagt Ollie. »Ich hole es ein andermal ab.«
Aber ich bin bereits aus dem Jackett geschlüpft und habe rasch den Abstand zwischen Stark und mir verkleinert.
»Das wird nicht nötig sein«, sagt Stark, und sein Lächeln ist offen und freundlich, als er Ollie das Jackett reicht.
Ollie zögert eine Nanosekunde und nimmt es ihm ab. Er schlüpft hinein, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. »Pass auf dich auf!«, sagt er und verschwindet dann die dunkle Wendeltreppe hinauf.
Ich soll auf mich aufpassen? Wieso denn das?
Ich sehe zu Stark hinüber, will wissen, ob er genauso amüsiert ist wie ich, aber er verschwendet offensichtlich keinen weiteren Gedanken an Ollie. Nein, er konzentriert sich ausschließlich auf mich.
Ich schnappe mir wieder meine Schuhe. »Müssen wir wirklich noch etwas Geschäftliches besprechen? Ich sollte nämlich in diesem Moment downtown bei Carl sein und mich auf das Meeting vorbereiten, an dem ich in ungefähr sechzehn Stunden teilnehmen werde.«
»Die Bilder«, sagt er unbekümmert. »Ich dachte, Sie wollten mir bei der Auswahl helfen?«
»Ich fürchte, da haben Sie falsch gedacht. Soweit ich weiß, habe ich Ihre Bitte unmissverständlich ausgeschlagen.«
»Da habe ich mich wohl geirrt: Ich dachte, Sie hätten Ihre Meinung geändert, nachdem ich deutlich gemacht habe, wie viel mir an Ihrem Urteil liegt.«
»Sie dachten, ich hätte meine Meinung geändert?«, wiederhole ich. »Wie, bitte schön, kommen Sie denn darauf? Weil ich Sie stehen gelassen habe? Weil ich Sie ignoriert habe?«
Er hebt nur kurz eine Braue, um mir damit zu signalisieren, dass meine verstohlenen Blicke auf ihn und Audrey Hepburn so verstohlen auch wieder nicht waren.
Er mustert mich, scheint auf eine schnippische Bemerkung zu warten, aber diesen Gefallen werde ich ihm nicht tun. Im Moment scheint mir Schweigen die beste Option.
Ich hebe das Kinn, sehe ihn direkt an. Die spärliche Beleuchtung auf Evelyns Balkon hüllt sein Gesicht in Schatten. Seine Augen dagegen scheinen das Licht aufzusaugen. Das bernsteinfarbene ist feurig und heiß. Das schwarze erinnert an geschmolzene Lava und ist so tiefdunkel, dass ich Angst habe, hineinzustürzen und mich darin zu verlieren. Die Fenster zur Seele, denke ich und zittere.
»Sie frieren«, sagt er und fährt mit einem Finger über meinen nackten Arm. »Sie haben ja eine Gänsehaut.«
Nun, spätestens jetzt habe ich eine …
»Vorhin habe ich noch nicht gefroren«, sage ich, woraufhin er laut loslacht. Das gefällt mir. Sein Lachen ist so gelöst und befreit und kommt stets unerwartet.
Er schlüpft aus seinem Jackett und legt es mir über die Schultern, wobei er meinen Protest ignoriert.
»Gehen wir wieder hinein«, sage ich, schüttle es ab und halte es ihm hin. »Es geht schon, wirklich!«
Er nimmt mir die Schuhe ab, ignoriert aber das Jackett. »Ziehen Sie es an! Ich möchte nicht, dass Sie sich erkälten.«
»Meine Güte!«, sage ich genervt und schlüpfe in die Ärmel. »Kriegen Sie immer, was Sie wollen?«
Seine Augen weiten sich, und ich merke, dass ich diesmal ihn überrascht habe. »Ja«, sagt er.
Nun, eines muss man ihm lassen: Der Kerl ist zumindest ehrlich. »Gut. Gehen wir hinein und schauen wir uns ein paar Bilder an. Ich sage Ihnen, welche mir gefallen, und dann machen Sie, was Sie wollen.«
Er sieht mich verwirrt an. »Wie bitte?«
»Sie scheinen nicht der Typ Mann zu sein, der auf fremden Rat hört.«
»Da täuschen Sie sich, Nikki«, sagt er. Mein Name schmilzt auf seiner Zunge wie Milchschokolade. »Ich berücksichtige jede Meinung, die mir etwas bedeutet.«
Die Hitze, die von ihm ausgeht, ist mit Händen zu greifen. Ich brauche das Jackett nicht mehr, jetzt drohe ich darin zu ersticken.
Ich schaue weg, hinüber zum Strand, zum Ozean und zum Himmel. Überallhin, nur nicht zu diesem Mann. Ich bin völlig durcheinander, aber das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass ich mich so gut dabei fühle.
»Nikki«, sagt er sanft. »Sehen Sie mich an!«
Ich gehorche ohne nachzudenken, habe jegliche Fassade fallen lassen. Ich bin nackt – ganz so, als hätte er mir das Kleid ausgezogen.
»Der Mann vorhin: Was bedeutet er Ihnen?«
Peng! Jetzt ist wieder eine perfekte Fassade gefragt. Ich spüre, wie sich meine Züge verhärten und mein Blick erkaltet. Damien Stark ist wie eine Spinne, und ich bin das dämliche Insekt, das er als Nächstes verschlingen wird.
Ich wende den Kopf ab, aber nur ganz kurz. Als ich mich wieder umdrehe, habe ich dasselbe künstliche Lächeln aufgesetzt, das er vor sechs Jahren auf der Bühne gesehen hat. Ich sollte es noch heller erstrahlen lassen und ihm sagen, dass Ollie ihn nicht das Geringste angeht.
Aber ich kann nicht.
Ich weiß nicht recht, warum ich mich auf meinen Instinkt verlasse, als ich antworte, aber genau das tue ich, und sobald ich es ausgesprochen habe, kehre ich ihm den Rücken zu und gehe die Treppe hinauf, während meine Worte in der Luft hängen bleiben.
»Der Mann vorhin? Das ist Orlando McKee. Wir haben ein paarmal miteinander geschlafen.«