22
»Hallo, schöne Frau! Sie sind heute ja in Bestform.« Blaine grinst mich an, während ich im roten Morgenmantel vor ihm stehe und das Morgenlicht durch die offenen Fenster fällt. »Alles in Ordnung? Wir können es ganz langsam angehen lassen, wenn Sie das wollen.«
»Alles bestens, danke. Damien hat Ihnen gesagt, warum ich so ausgeflippt bin?« Ich hatte Damien gebeten, Blaine meinen gestrigen Zusammenbruch zu erklären, damit er begreift, dass es nichts mit dem Modellstehen an sich zu tun hatte, sondern mit dem, was Blaine malen soll.
»Ja, und ich kann Ihnen auch sagen, was ich ihm geantwortet habe: Mal abgesehen davon, dass die Narben bestimmt mit Schmerzen verbunden waren, habe ich persönlich überhaupt kein Problem damit. Bei einigen Models, vor allem bei Profimodels, hat man das Gefühl, sie wären bereits mit der Airbrush-Pistole auf Hochglanz poliert worden. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich etwas Authentisches malen darf. Wirklich, Nikki: Ich werde Sie so malen, wie Sie sind.«
»Ich glaube Ihnen.« Ich rekle mich, lege eine Hand um den Bettpfosten am Fußende. Mit der anderen greife ich nach den Vorhängen. »So vielleicht?«
»Ich weiß nicht recht«, sagt Damien neben mir.
Er legte seine Hände auf meine Taille und schiebt mich in Richtung Fenster. »Vielleicht sollten wir draußen einen Ventilator aufstellen. Damit sich die Vorhänge so richtig bauschen?«
»Dann musst du aber auch die beiden wieder aufhängen, die du abgenommen hast«, sage ich grinsend.
»Hä?«, macht Blaine, und Damien lacht.
»Was meinst du?« Damien wendet sich mit dieser Frage an Blaine, ohne weiter auf meine Vorhang-Bemerkung einzugehen.
»Du bist der Chef.«
»Und du der Künstler.«
Blaine zieht eine Braue hoch und grinst mich an. »Das ist ja mal ganz was Neues! Laut Evelyn lässt sich unser Wohltäter von niemandem Anweisungen geben.«
»Tue ich auch nicht«, sagt Damien. »Ich bitte dich nur um deine Meinung. Aber das heißt nicht, dass ich sie beherzigen muss.«
Blaine mustert mich, geht einmal um mich herum und schiebt mich dann ein paar Zentimeter nach links. Gleich darauf wieder nach rechts. Anschließend dreht er mich ein wenig herum.
Er tritt zurück, stützt nachdenklich das Kinn auf und sieht zu Damien hinüber, der mich ein paar Zentimeter nach vorn schiebt. Dann dreht er mich ein Stückchen andersherum.
»Meine Güte, Jungs!« So langsam komme ich mir vor wie ein teures Ausstellungsstück. Aber das bin ich ja auch.
»Das sieht aber wirklich nicht schlecht aus«, sagt Blaine. »Bitte nicht bewegen! Ich habe gerade einen Geistesblitz.«
Ich bemühe mich, in Position zu bleiben, während ich ihn gleichzeitig von der Seite anschaue.
»Wie wär’s mit einer Reflexion?«, fragt Blaine und saust dann, ehe Damien etwas sagen kann, an mir vorbei. »Das sieht bestimmt super aus.« Er schiebt die Balkontüren bis auf eine Glasscheibe direkt vor mir zurück. »Siehst du? Nicht schlecht, oder?«
Blaine macht einen Schritt zurück, geht auf die riesige Leinwand zu, die er an einen Tisch gelehnt hat, und läuft ein paarmal hin und her, als suche er etwas. Dann streckt er den Zeigefinger aus: »Da! Die Brise, die Frau, die aufs Meer blickt und ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe. Fantastisch.«
»Und ihr Gesicht?«, fragt Damien.
»Das bleibt verborgen. Sie könnte den Kopf senken. Und das Spiegelbild ist verschwommen und undeutlich. Glaub mir, das wird überwältigend!«
»Die Idee gefällt mir«, sagt Damien. »Nikki?«
Ich zwinge mich, mich nicht umzudrehen, um die Bildkomposition nicht zu zerstören. »Ich darf auch ein Wörtchen mitreden?«, frage ich. »Ich dachte, du hast mich mit Haut und Haaren gekauft.«
»Haut und Haare sind auch sehr verführerisch«, brummt er, stellt sich vor mich und starrt Blaine begeistert an. »Ja, ich will das Spiegelbild! Ich will so viel von ihr wie möglich, denn ich hatte heute noch nicht genug.«
Ich erröte, weil das ein ziemlich privater Scherz ist. Wir waren gerade unter der Dusche, als Blaine ankam. Und wir haben uns dort nicht nur gewaschen. Nach einem köstlichen Frühstück aus Obst und Käse hatte ich mir eigentlich Damien zum Nachtisch gönnen wollen, als Blaine mir einen Strich durch die Rechnung gemacht und Damien wohl auch etwas verstimmt hat.
Ich schenke ihm wieder ein liebreizendes Lächeln. »Ist heute nicht Dienstag? Hast du nicht noch einen Termin?« Mir ist wieder eingefallen, dass Carl damals gesagt hat, dass unser Besprechungstermin auf Samstag vorverlegt worden sei, weil Damien an unserem eigentlichen Termin auf Geschäftsreise müsse.
Er sieht mich verständnislos an, aber dann fällt der Groschen. »Nein«, sagt er. »Ich muss heute nirgendwohin.«
»Oh.« Ich brauche einen Moment, bis ich mir alles zusammengereimt habe: Er wollte mich so bald wie möglich wiedersehen und hat Carl deshalb angelogen.
»Da hat wohl jemand gegen die Regeln verstoßen«, sage ich. »Keine Lügen.«
Sein Grinsen ist teuflisch. »Ich habe nie behauptet, dass diese Regel auch für mich gilt.«
Blaine lacht, und ich lache mit. Doch insgeheim zucke ich zusammen. Ich habe nie behauptet, dass diese Regel auch für mich gilt.
Ich weiß, dass er mich provozieren will, aber auch, dass das sein Ernst ist: Die Regel gilt nicht für ihn. Hat Damien mich angelogen? Nicht unbedingt aus Heimtücke, sondern weil er es sich erlauben kann? Weil es manchmal einfacher ist?
Ich denke an die Fragen, denen Damien ausgewichen ist, an die vielen Male, die er das Thema gewechselt hat. Ist das einfach nur typisch Mann, verschwiegen und wortkarg? Oder ist er wirklich undurchschaubar?
Verbirgt er etwas vor mir?
Mir fällt wieder ein, was Evelyn gesagt hat: Dass Damien eine schwere Kindheit hatte, dass es kein Wunder sei, dass er so zurückgezogen lebt und dass er die eine oder andere Narbe davongetragen hätte.
Ich denke an den Damien, der mich in den Armen gehalten und geküsst hat, der mit mir gelacht und mich geneckt hat. Ich habe die helle Seite von Damien Stark kennengelernt. Eine Seite, die nur die wenigsten kennen. Doch was ist mit seiner dunklen Seite?
»He, Blondie!«
Blaines Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Er scheucht mich erneut durch den Raum, bis er endlich, endlich die perfekte Pose für mich gefunden hat.
Damien drückt mir einen Kuss auf die Stirn. »Bis heute Abend!«, sagt er. »Ich habe heute den ganzen Tag über Besprechungen, aber ich schreibe dir eine SMS. Edward wird dich nach Hause bringen, wenn ihr hier fertig seid.«
»Ich könnte sie den ganzen Tag dabehalten«, schwärmt Blaine. »Sie ist ein fantastisches Sujet.«
»Den ganzen Tag?«, ächze ich. Ich habe gerade erst mit dem Posieren angefangen und bin jetzt schon ganz steif.
»Ich sagte, ich könnte«, betont Blaine. »Aber ich fürchte, der Big Boss hier wird mich feuern, wenn ich Sie zu sehr anstrenge oder zu lange in Beschlag nehme.«
»Allerdings!«, sagt Damien und senkt dann die Stimme: »Ich habe nämlich noch so einiges mit ihr vor.«
Seine Stimme hüllt mich ein, geht mir durch Mark und Bein und führt dazu, dass sehr intime Körperregionen durchblutet werden.
»Sehr gut!«, ruft Blaine. »Diese Röte auf deinen Wangen gefällt mir, Blondie!«
Ich darf mich natürlich nicht rühren, koche aber innerlich vor Wut, als Damien leise vor sich hin lachend die Marmortreppe hinuntergeht.
Kaum ist er weg, legt Blaine erst so richtig los. Er ist ständig in Bewegung, schaut hin und her, skizziert, gibt Anweisungen und passt die Beleuchtung an. Trotz der erotischen Atmosphäre gibt er eher den Spaßvogel, und es ist einfach nur toll, mit ihm zu arbeiten. Soweit ich das beurteilen kann, hat er keine dunkle Seite.
»Evelyn kann es kaum erwarten, Sie wiederzusehen«, sagt Blaine, als die Sitzung endlich beendet ist. »Sie will unbedingt den neuesten Klatsch über Damien hören.«
Ich schlüpfe wieder in den Morgenmantel und binde die Schärpe zu. »Tatsächlich? Dabei dachte ich, dass sie am besten informiert ist: über Damien, aber auch über alle anderen Promis.«
»Ich glaube, damit haben Sie meine Liebste ausgezeichnet beschrieben.«
»Ich muss sie wirklich unbedingt anrufen«, gestehe ich. »Ich will sie auch dringend sehen. Vielleicht können wir uns morgen treffen?«
Er sieht mich mit so einem seltsamen Blick an und schüttelt den Kopf. »Raus hier, Blondie! Sonst kann ich mich nicht mehr konzentrieren.«
»Oh.« Ich verstehe nicht ganz, warum er das Gespräch so abrupt beendet hat, aber vielleicht liegt das auch nur an Blaines impulsiver Künstlernatur. »Sind Sie sicher, dass ich jetzt gehen soll? Wie wollen Sie mich denn malen, wenn ich gar nicht da bin?«
»Sie würden sich wundern, wie gut man nach dem Leben malen kann, ohne es tatsächlich vor sich zu haben.« Er fuchtelt mit seinem Pinsel herum. »Los, gehen Sie! Edward langweilt sich bestimmt schon zu Tode.«
»Er hat nichts anderes zu tun, als draußen auf mich zu warten?« Ich dachte, ich müsste ihn anrufen oder so.
Rasch ziehe ich mich an, sammle meine Sachen ein und eile die Treppe hinunter. Aber vorher nehme ich die Leica und mache ein paar Schnappschüsse vom Zimmer, dem angefangenen Bild und von Blaine. »So etwas passiert mir schließlich nicht alle Tage. Ich möchte es dokumentieren.«
»Das Gefühl kenne ich«, sagt Blaine.
Edward ist kein bisschen verstimmt, dass ich so lange gebraucht habe. Er vertreibt sich die Zeit damit, im Town Car zu sitzen und Hörbücher anzuhören. »Letzte Woche war Tom Clancy dran«, sagt er. »Und diese Woche ist es Stephen King.«
Während wir von Malibu nach Studio City fahren, lauscht Edward seinem Hörbuch und ich meinen Gedanken. Zumindest versuche ich das. In meinem Kopf herrscht ein einziges Durcheinander – Damien, meine Jobsuche, Damien, das Porträt, die Million Dollar, Damien, Jamie und Ollie. Und natürlich … Damien.
Ich lehne den Kopf zurück. Halb döse ich vor mich hin, halb denke ich nach, und ehe ich mich’s versehe, hat Edward vor meiner Wohnung angehalten, geht um den Wagen herum und hält mir die Tür auf.
»Danke fürs Fahren«, sage ich beim Aussteigen.
»Es war mir ein großes Vergnügen! Mr. Stark hat mich auch gebeten, Ihnen das hier zu überreichen. Er meint, es sei für heute Abend.« Er gibt mir eine weiße Schachtel mit weißem Band. Ich nehme sie und staune, weil sie so gut wie nichts wiegt.
Ich bin neugierig, was darin ist, aber noch viel neugieriger bin ich auf meine berufliche Zukunft. Deshalb werfe ich die Schachtel aufs Bett, als ich mein Zimmer betrete, und fahre sofort den Computer hoch. Als Erstes öffne ich das Dokument mit meinem Lebenslauf. Das mag spießig klingen, aber ich möchte Thom, meinen Headhunter, nicht anrufen, ohne meinen Lebenslauf vor mir zu haben. Was, wenn er wissen will, wann eine meiner Apps in den Handel gelangt ist? Was, wenn er nach dem Thema einer Forschungsarbeit fragt, die ich während eines Praktikums vor zwei Jahren verfasst habe? Was, wenn er möchte, dass ich die Formatierung ändere und ihm alles noch mal schicke?
Ich drucke den Lebenslauf aus und rufe Thom an. »Ich weiß, dass Sie meine Bewerbung erst gestern bekommen haben«, sage ich. »Aber vielleicht hat ja schon jemand Interesse angemeldet.«
»Mehr als das!«, sagt er. »Es hat sogar schon jemand angebissen.«
»Im Ernst?« Damien fällt mir wieder ein. Und dass er gefragt hat, warum ich eigentlich nicht für ihn arbeite. »Moment, wer denn?«
»Innovative Resources«, sagt Thom. »Kennen Sie die Firma?«
»Nein«, muss ich zugeben und entspanne mich deutlich. Ich verliere mich gern in Fantasien, in denen Damien vorkommt. Seidenschärpen und Augenbinden im Schlafzimmer machen mich scharf – dem Vorstandsvorsitzenden Damien möchte ich mich allerdings nicht unterwerfen. »Was haben die genau gesagt?«
»Sie möchten Sie zu einem Vorstellungsgespräch einladen. Sie haben viele Aufträge und zu wenig Personal. Wenn möglich gleich morgen Nachmittag, geht das?«
»Selbstverständlich«, sage ich. Blaine wird bestimmt nichts dagegen haben. Ich vereinbare einen Termin für zwei Uhr. Dann kann ich vorher Modell stehen und nach Studio City zurück, mich umziehen und anschließend dorthin fahren, wo auch immer Innovative seinen Sitz hat.
Thom verspricht mir, alles zu organisieren und ein paar Informationen über die Firma einzuholen, damit ich mich vorbereiten kann. Ich lege auf und führe einen kleinen Freudentanz auf. Dann klopfe ich an Jamies Tür, aber sie ist nicht da. Also tanze ich weiter in die Küche, mache eine Cola Light auf und vergreife mich zur Feier des Tages sogar an meinem geheimen Milky-Way-Vorrat, den ich hinter den Fertiggerichten in der Tiefkühltruhe versteckt habe.
Himmlisch!
Mit dem Schokoriegel im Mund will ich gerade zurück in mein Zimmer eilen, als ich den Monet sehe, der nach wie vor neben dem Küchentisch auf dem Boden steht. Jamie hat versprochen, mir beim Aufhängen zu helfen – nicht ohne wiederholt zu witzeln, dass wir erst mal einen Hammer kaufen müssen, um anständig »nageln« zu können. Aber noch bin ich nicht dazu gekommen. Das Bild soll in meinem Zimmer hängen, und ich räume Platz auf meiner Kommode frei und lehne ihn an den Spiegel. Wenn ich mich jetzt darin betrachte, sehe ich mich über einem impressionistischen Sonnenuntergang. Vornehm geht die Welt zugrunde!
Im Spiegel sehe ich außerdem die weiße Schachtel, die Edward mir gegeben hat. Für heute Abend, hat er gesagt. Zitternd drehe ich mich danach um.
Ich schneide das Geschenkband mit einer Nagelschere durch und nehme dann den Deckel ab. In der Schachtel liegen ein Stück Stoff und eine Perlenschnur. Ich starre kurz ratlos darauf und hebe die Perlenschnur dann mit dem Zeigefinger an. Da merke ich, dass der Spitzenstoff daran befestigt ist.
Ein Höschen.
Ein Stringtanga, um genauer zu sein. Und die Perlen – nun ja, sie sind der String.
Ich lasse ihn auf meinem Kissen liegen und greife zum Handy. Wahrscheinlich kauft er gerade das Universum oder so, aber ich schicke ihm trotzdem eine SMS: Dein Geschenk ist 1getroffen. Sehr schön. Aber ist es auch bequem?
Er antwortet umgehend: Sagt ausgerechnet die Frau, die nicht in ihren Schuhen laufen kann?
Stirnrunzelnd tippe ich mit beiden Daumen: Kalt erwischt! Aber sollte ein Mann, der Kontinente & kl1ne Planeten kaufen kann, nicht vernünftiger sein?
Ich sehe sein Grinsen vor mir, als ich seine Antwort lese: Vertrau mir, du wirst hochbefriedigt über mein Geschenk sein. Hast du die Karte gelesen?
Hä? Ich fasse mich kurz: ???
Unter dem Tanga. Lies sie! Befolge die Anweisung. Und nicht gegen die Regeln verstoßen.
Und dann, kurz darauf: Muss jetzt los, einen großen Planeten kaufen. Bis heute Abend.
Ich strahle übers ganze Gesicht, als ich mein Telefon aufs Bett fallen lasse und die Schachtel zu mir herziehe. Tatsächlich liegt eine Karte unter dem Seidenpapier. Ich lese sie und greife dann erneut zu dem Höschen. Ich lasse die Perlenschnur zwischen den Fingern hindurchgleiten, mein Atem geht rascher, und mir wird so heiß, dass sich winzige Schweißperlen zwischen meinen Brüsten sammeln.
Ich schließe die Augen und sehe vor mir, was Damien geschrieben hat:
Zieh das heute Abend an. Ich werde Dich gegen 7 abholen.
Abendgarderobe erwünscht.
Du wirst Dich berühren wollen. Lass es bleiben!
Denn das bleibt allein mir vorbehalten.
D. S.