16. Kapitel

Ella blieb eine Babykarotte im Hals stecken. Onyx, die exotische Tänzerin, war auf der Uni gewesen? Liebe Güte, war das nicht fast wie bei Belle de Jour oder so ähnlich? War die nicht auch bei Nacht ein Oberklasse-Callgirl gewesen und bei Tag irgendeine hochqualifizierte und angesehene Wissenschaftlerin?

War Onyx womöglich die weltweit führende Expertin in Teilchenphysik oder Nukleartechnik oder Meeresbiologie oder etwas ähnlich Abgehobenem?

»Uni?«, fragte Ella schwach. »Ich wusste gar nicht, dass Ash an der Uni war.«

Onyx nickte. »Oh doch. Wir waren beide in Reading, haben beide im Studentenwohnheim gewohnt und uns im ersten Semester als Zimmernachbarn kennengelernt. Ash hat Gastronomie und Betriebswirtschaft studiert – in der Absicht, eines Tages ein eigenes Restaurant zu führen – und ich englische Literatur – eigentlich ohne konkreten Plan, was ich damit anfangen wollte. Obwohl wir auch ordentlich gefeiert haben, haben wir beide gute Abschlüsse gemacht.«

Ella schluckte endlich die Babykarotte herunter. »Tatsächlich? Warum dann das, ähm, Tanzen?«

Onyx zuckte die Schultern. »Ach, angeborene Geldgier wahrscheinlich. Und eine Portion Bequemlichkeit obendrein. Weißt du, wir haben beide während des Studiums abends gejobbt, um über die Runden zu kommen – Ash hat in anderer Leute Restaurants gekocht, und ich habe immer getanzt, sodass es mir leichtfiel, Arbeit in Clubs zu bekommen –, und als wir das Studium abgeschlossen hatten, haben wir mit unseren Teilzeitjobs einfach weitergemacht und sind dadurch in die entsprechenden Vollzeitjobs hineingerutscht. Eine Verschwendung unserer Ausbildung, wie meine Eltern mir immer wieder vorhalten.«

Ella atmete tief aus und schob eine weitere Karotte auf ihrem Teller umher. Onyx, die Nachtclubtänzerin, hatte einen sehr viel höheren Bildungsabschluss als sie selbst … Und Ash ebenso …

Oooh!

»Ich habe meiner Mum und meinem Dad versprochen, dass ich, wenn ich eines Tages für das Herumgehopse zu alt geworden bin, sesshaft werde und mit etwas anfange, das meinem Abschluss entspricht«, fuhr Onyx unbekümmert fort. »Und Ash bekommt hoffentlich die Anerkennung, die er verdient, und eröffnet sein erstes Restaurant. Aber bis dahin können wir von Jobs wie Nachtclubtänzerin und Eisverkäufer unsere Rechnungen bezahlen.«

»Ähm, ja, stimmt schon.« Ella wusste nicht, was sie sonst hätte sagen sollen.

Nun, eigentlich lag ihr Unzähliges auf der Zunge, aber nichts davon wäre auch nur im Entferntesten passend gewesen. Sie entschied sich für etwas Sicheres und Unverbindliches, das nicht zu Haareausreißen oder Augenauskratzen führen würde. »Irre, dass ihr euch schon so lange kennt, Ash und du. Seit ihr achtzehn wart!« Ella rechnete nach. Eine Langzeitbeziehung also. Sehr viel länger, als sie mit Mark zusammen gewesen war. Lieber Himmel … ein halbes Leben lang!

»Ja, wirkt wie für die Ewigkeit gemacht.«

»Und trotzdem ist er nicht zu dir gezogen, als er aus seiner Wohnung rausmusste?«

Oh nein! Ella wand sich innerlich. Warum hatte sie das gesagt?! »Entschuldige«, sie schüttelte den Kopf, »das geht mich gar nichts an. Vergiss es.«

Onyx lachte. »Ach, frag nur. Ich habe nichts dagegen. Aber da ich noch immer zu Hause bei meinen Eltern wohne, genau wie Jett und Ebony, weil wir erstens alle wenig Geld haben und zweitens dazu erzogen wurden, dass die Familie an erster Stelle kommt, und weil unser Haus so klein ist, dass ich ein Zimmer mit Ebony teile und Jett in einem kleinen Kämmerchen schläft, wäre es völlig unmöglich gewesen, dass er bei uns einzieht, selbst wenn ich es gewollt hätte.«

»Ach so.« Ella boxte im Geiste in die Luft. Zahlreiche Fragen mit einem Schlag beantwortet. Super.

»Oh, vielen Dank!«, sagte Onyx lächelnd zu Poll, als diese die Teller einsammelte. »Das war köstlich. Die beste Pastete, die ich je gekostet habe. Und als Vegetarierin habe ich alles aufgegessen – wie du siehst.«

Poll sah erfreut auf den leeren Teller hinab. »Es freut mich sehr, dass es dir geschmeckt hat. Habt ihr euch ein bisschen kennengelernt, Ella und du?«

Onyx nickte angetan. Ella nickte einfach nur.

Poll zog die Augenbrauen hoch und eilte weiter. »Gut, gut – nun wollen wir hoffen, dass ihr alle noch Platz habt für Ellas sagenhaftes Dessert.«

Rund um den Tisch erklangen gespieltes Stöhnen und die einstimmige Erklärung, man könne unmöglich noch etwas Weiteres essen. Abgesehen von Onyx, die Ella wieder anlächelte.

»Ich bin schon gespannt auf dein Dessert. Ich liebe Essen, und Ash sagt, du bist auf nostalgische Nachspeisen spezialisiert.« Onyx räkelte sich wie eine wohlgefütterte Katze. »Er sagt, du wärst unheimlich gut darin. Er sagt, du könntest Berufsköchin werden.«

An ihrer erst kurzen Bekanntschaft gemessen, schien Ash ja unheimlich viel von ihr erzählt zu haben, dachte Ella und fragte sich erneut, ob das ein gutes Zeichen war oder nicht. Wohl eher schon.

»Ach ja? Das ist sehr nett von ihm. Ja, ich mache gern altmodische Süßspeisen.«

»Und genau deshalb solltet ihr unbedingt bei Dewberry’s Dinners mitmachen«, sagte Onyx, als Poll die Brown Betty auftischte. »Alle zusammen. Das habe ich auch Ash gesagt, als ich heute in Winterbrook die Plakate gesehen habe. Ihr würdet dort unheimlich gut ankommen.«

»Wir haben die Plakate auch gesehen«, sagte Ella. »Aber wir haben uns schon dagegen entschieden. Wir haben einhellig beschlossen, dass wir das nicht aushalten würden.«

»Wirklich?« Onyx sah überrascht aus. »Aber wenn ihr gewinnt, kriegt ihr die Chance, ein Restaurant zu eröffnen, und die Dewberrys haben Millionen zu investieren und …«

»Vanillesauce?« Poll ließ den Krug am Tisch herumgehen. »Die ist selbst gemacht. Nicht aus der Tüte. Ella hat sie traditionell aus Vanilleschoten und was noch immer gekocht.«

Alle nahmen sich Vanillesauce.

»Ja, ich weiß«, setzte Ella nach einem ersten zögerlichen Happen Brown Betty das Gespräch fort. Sie war hervorragend gelungen. Gott sei Dank. »Aber wir wollen kein Restaurant, und wir wollen uns nicht im Fernsehen zum Affen machen.«

»Ach, das schmeckt ja fantastisch.« Onyx wedelte mit dem Löffel über der Brown Betty. »Wirklich köstlich. Die ganze Mahlzeit ist unglaublich. Und genau deshalb solltet ihr euch unbedingt bei Dewberry’s Dinners bewerben. Ihr würdet alle anderen haushoch schlagen. Und selbst wenn du vielleicht kein Restaurant willst, Ash will eines.«

»Sprecht ihr von mir?« Ash sah fragend über den Tisch.

»Jawohl«, antwortete Onyx vergnügt. »Hör nicht hin. Ich bin gerade dabei, Ella all deine ekligen Angewohnheiten zu verraten.«

Ash lachte.

Ach herrje, dachte Ella, was war er hinreißend. Und er musste all seine Kochkünste vergeuden und in einem Eiswagen arbeiten, obwohl er sich doch sooo sehr ein eigenes Restaurant wünschte …