1. Kapitel
»Bitte, bitte, bitte …«, beschwor Ella Maloney sämtliche strohhalmkauenden ländlichen Götter, als sie mit zusammengekniffenen Augen den Wegweiser beäugte. »Bitte lasst mich hier richtig sein. Bitte lasst das hier nicht wieder ins Nirgendwo führen!«
Ella hatte den Wagen angehalten und die Sonnenbrille in ihr seidiges, zimt- und honigfarbenes Haar, frisch vom Friseur, hochgeschoben, um die verblasste Schrift zu entziffern, machte sich jedoch keine allzu großen Hoffnungen mehr.
Kaum hatte sie London und dessen weitläufige Vororte hinter sich gelassen, hatte sie feststellen müssen, dass eine zugewucherte Landstraßenkreuzung jeder anderen zugewucherten Landstraßenkreuzung ziemlich ähnlich sah. Und dass leider auch ein verwitterter ländlicher Wegweiser jedem anderen verwitterten ländlichen Wegweiser ziemlich ähnlich sah.
Nachdem sie bereits mehrere vergebliche Anläufe unternommen hatte und in einige ausweglose Sackgassen geraten war – einmal wäre sie fast über die Uferkante eines Ententeichs gekippt, und zweimal war sie geradewegs in fremder Leute Garten gelandet –, gab es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass diese Kombination von Straßenkreuzung und Wegweiser hier irgendwie vielversprechender war als eine der anderen.
Nur keinen übertriebenen Optimismus aufkommen lassen, dachte Ella und blinzelte in die blendende Helligkeit des herrlichen Maimorgens, denn hier war sie doch wohl nicht etwa richtig, oder?
Doch … halleluja! So war es!
Und da stand es ja: Fiddlesticks … Lovers Knot … Hazy Hassocks … Bagley-cum-Russet …
Die verblassten Namen der Orte, die, so hoffte sie, ihr Leben verändern würden.
»Ja, ja, jaaa!« Indem sie triumphierend auf das Lenkrad trommelte und mit den Füßen neben den Pedalen einen kleinen Freudentanz vollführte, beging Ella im Auto ihre eigene kleine Ein-Personen-Feier. »Endlich!«
Die verschlafenen Namen klangen wie nach verwunschenen Märchenorten. Ella spürte schon, wie alle Anspannung und Müdigkeit von ihr abfielen.
»Juhu!« Mit beiden Händen blies Ella dem windschiefen Wegweiser, dessen verheißungsvolle Ziele von Wicken und knospendem Hirtentäschel fast vollständig verdeckt wurden, einen überschwänglichen Luftkuss zu. »Ich hab’s wirklich und tatsächlich geschafft!«
Während der letzten dreißig Meilen hatte sie eine Soloversion von »Wann sind wir endlich da?« gespielt. Das Navi hatte Ella ausgeschaltet, weil sowohl ihre Route als auch das von ihr eingegebene Ziel das Gerät offenbar in heillose Verwirrung gestürzt hatten, und so begrüßte sie nun das Auftauchen des uralten Wegweisers mit dem Enthusiasmus eines müden, einsamen Forschungsreisenden, der unverhofft in freundliche menschliche Zivilisation stolpert.
Natürlich, dachte sie, war ihre Reise vom Norden Londons nach Berkshire nicht im Entferntesten mit der Polarexpedition eines Ranulph Fiennes zu vergleichen, aber für eine eingefleischte Stadtmaus wie sie hatten die letzten Stunden doch einen echten Belastungstest dargestellt.
So einige Male während ihrer Fahrt durch die grüne und goldene Landschaft hatte sie an diesem herrlich frühlingshaften Maimorgen schon angefangen, sich zu fragen, ob ihr Bestimmungsort überhaupt irgendwo in der Wirklichkeit existierte.
Hideaway Farm, hatte Poll Andrews in einem ihrer Briefe – richtige Briefe, keine SMS oder E-Mails – geschrieben, lag auf halbem Weg zwischen Orten mit so köstlichen Namen wie Lovers Knot und Fiddlesticks, gehörte aber eigentlich zu keinem der beiden Dörfer, und falls sie nach Hazy Hassocks käme, wäre sie eindeutig zu weit gefahren.
Die Farm war ausgeschildert, hatte Poll erklärt, vom Ende der Cattle Drovers Passage aus – sofern das Schild nicht heruntergefallen war, was es wohl gerne mal tat –, und dann müsse sie nur der Hideaway Lane mit ihren zahlreichen Kurven und Windungen folgen, bis sie am Ende das Farmhaus fand.
Wenn sie unsicher sei, solle Ella irgendwen nach dem Weg fragen. Jeder in der Gegend, hatten Polls Briefe ihr versichert, kenne den Weg zur Hideaway Farm.
Hideaway, Schlupfwinkel … Ella hatte entzückt vor sich hin gekichert. Wie verwunschen das klang! Allein schon der Name beschwor Erinnerungen an die Märchenbücher ihrer Kindheit herauf und an Geschichten von wilden, freien, übermütigen Abenteuern in einem ländlichen Paradies.
Hideaway Farm – ja, sie sah es schon buchstäblich vor sich – Heuhaufen und träge brummende Traktoren und weidende, äh, Schafe? Oder vielleicht Kühe? Und Schweine? Ella hatte etwas verschwommene Vorstellungen davon, was für Tiere die Hideaway Farm bevölkern könnten. Aber gewiss gäbe es lächelnde rotbackige Frauen und strahlende sonnengebräunte Männer und glückliche barfüßige Kinder, die durch Wiesen voller Butterblumen und Gänseblümchen tollten.
Es würde alles einfach ganz wunderbar werden.
Vorhin, als sie mindestens eine Viertelstunde lang kein menschliches Wesen gesehen hatte und beängstigenderweise eine halbe Ewigkeit von nichts als Feldern und Bäumen und einem endlos weiten Himmel umgeben gewesen war, hatte Ella sich doch ein wenig Sorgen gemacht, aber das war jetzt vorbei. Sie war hier auf dem Land, Himmel noch mal, was konnte man denn da auch anderes erwarten?
Auch hatte es sie dann doch ein wenig belastet, dass ringsherum alles so ausgesprochen grün war. Nun, abgesehen von der unendlichen Weite des Himmels natürlich. Und der war wirklich unglaublich blau. Viel blauer als der Himmel, den sie in London hinter sich gelassen hatte. Und irgendwie gab es hier auch sehr viel mehr davon. Offen gestanden waren die Weite des Himmels und die Mengen von Grün ihr fast ein bisschen zu viel geworden.
Aber jetzt, dachte Ella mit freudigem Blick auf den Wegweiser, würde alles gut werden.
Wie herrlich entspannend es sein müsste, in Dörfern mit so verschlafenen, idyllischen Namen zu leben und Nachbarn zu haben, die wahrscheinlich noch immer um Maibäume tanzten, wahrscheinlich noch nie eine Excel-Tabelle gesehen oder von einem iPod Nano gehört hatten und die Gok Wan für eine kleine indonesische Insel und nicht für einen Modezar hielten.
Jetzt waren alle Zweifel wie weggeblasen. Es war die richtige Entscheidung gewesen, aus ihrem festgefahrenen Leben auszusteigen, ihren Job in der City hinzuschmeißen, bevor sie mit siebenundzwanzig ausgebrannt wäre, und auf Poll Andrews’ Annonce in einem dieser Nobel-Magazine zu antworten, in denen lauter Stellenangebote standen wie »Gräfin Hermine Mopsley-Pummelwanst sucht Gesellschafterin. Anforderungen: Führerschein, Sprachkenntnisse in Mandarin fließend sowie Tierkommunikation mit Lamas« – auch wenn Mark da ganz anderer Auffassung war.
Mark … Ella schüttelte den Kopf. Nein, an Mark wollte sie nicht denken. Nicht jetzt. Schließlich würde sie das alles gar nicht tun, wenn Mark nicht wäre. Und wenn sie jetzt zu viel an Mark dächte, würde sie womöglich einfach aufgeben und umkehren und nach London zurücksausen, und das würde überhaupt nichts lösen … Nein, sie würde das hier durchziehen …
Entschlossen klappte Ella die Sonnenbrille wieder herunter, ließ den Wagen an und steuerte in Richtung Fiddlesticks und Lovers Knot. Und überhaupt, nach all dem Ärger und den Streitereien der letzten Wochen würde Hideaway Farm bestimmt der Himmel auf Erden. Das wusste sie einfach.