2. Kapitel
Zehn Minuten später hatte sie sich in einem neuerlichen Irrgarten verschlungener Landstraßen und verlassener schläfriger Cottages und Sackgassen, die nirgendwo hinführten, hoffnungslos verirrt, alle Begeisterung war verflogen, und Ella wünschte allmählich, sie hätte nie von Hideaway Farm gehört.
Irgendwo zwischen der Abzweigung nach Fiddlesticks und der Gabelung bei Lovers Knot hatte sie die Orientierung verloren. Mal wieder. Jemanden nach dem Weg fragen, hatte Poll Andrews empfohlen. Ha! Wen denn bitte schön? Dazu müsste man erst mal Gelegenheit haben!
Es war doch wirklich nicht zu fassen.
Verschwitzt, müde und völlig entnervt fuhr Ella noch langsamer und hielt durch das weitere Dickicht unnachgiebig grün-goldener Landschaft Ausschau nach einer sicheren Stelle, um anzuhalten und Poll anzurufen. Nirgends gab es eine … nirgends auf diesen wahnwitzig engen Landstraßen könnte sie parken, ohne die ganze Fahrbahn zu blockieren, und wo waren all diese breiten Einfahrten von vorhin geblieben, jetzt, wo sie wirklich mal eine brauchte …?
Auf dem Beifahrersitz begann in den Tiefen ihrer Handtasche das Telefon zu klingeln. Okay, dachte Ella mit einem Seitenblick, lass mich nur eben einen Platz zum Anhalten finden – und wenn du Poll Andrews mit einer narrensicheren Wegbeschreibung bist, könnte ich dich küssen.
Das Telefonklingeln erstarb. Ach ja …
Nachdem sie um eine weitere zugewachsene, ununterscheidbare Landstraßenkurve gefahren war, hellte sich Ellas Miene plötzlich auf. Geradeaus, kaum erkennbar, erhob sich ein von Kies umgebener gedrungener Hügel aus struppigem Gras – oh, und welche Freude! – seitlich davon befand sich ein kleines Haus mit Natursteinmauern und Schieferdach und – oh, und welch Jubel! – vor dem kleinen Gebäude stand eine hölzerne Bank – und ja! Auf der Bank saßen zwei Leute! Leute, die ganz sicher bereit und in der Lage waren, ihr den richtigen Weg zu weisen.
Mit frischem Mut parkte Ella bei dem grasigen Hügel vorsichtig hinter einem Lieferwagen, drei Fahrrädern und einem Kleinbus. Vielleicht, dachte sie, ist dieses Gebäude ein Gemeindesaal – auch wenn in der näheren Umgebung nichts auf ein Dorf hingedeutet hatte – oder vielleicht die Praxis des hiesigen Arztes? Eine kleine Landarztpraxis für all die winzigen Weiler und abgelegenen Farmen?
Was auch immer es war, es zeugte von Zivilisation, und darum herum existierte eindeutig menschliches Leben, und irgendwer würde bestimmt in der Lage sein, ihr den Weg zur Hideaway Farm zu erklären.
So oder so war es wahrscheinlich aber doch besser, erst einmal nachzusehen, wer angerufen hatte, falls es Poll gewesen war …
Sie kramte in ihrer Tasche herum, klickte sich auf dem Display bis zur Nummer des entgangenen Anrufs und stöhnte.
Mark.
Ella sah ihn vor sich, wie er mit seinem stachelig gegelten Haar und dem Designerhemd im Büro saß, das ihrem gegenüberlag – beziehungsweise dem, das früher ihres gewesen war –, wahrscheinlich die designerbeschuhten Füße auf den Schreibtisch gelegt, wo wahrscheinlich bereits der tägliche Stapel leerer Kaffeebecher und Sandwich-Papierhüllen in die Höhe wuchs. Vermutlich tippte er mit einer Hand an seinem Computer oder iPhone herum, bediente mit der anderen das Schreibtischtelefon, arbeitete irgendwas, aber lachte auch mit den anderen Männern im Büro und unterhielt sich mit ihnen über Football und Formel Eins. Und dachte an sie?
Sie hoffte es. Bei dem reichlich frostigen Abschied am Abend zuvor, als er offenbar erwartet hatte, dass sie es sich im allerletzten Moment noch anders überlegte, hatten sie beide Dinge gesagt, die sie besser nicht hätten sagen sollen. Ella seufzte und stopfte das Handy wieder in die Tasche. Auf gar keinen Fall würde sie ihn jetzt zurückrufen. Es war noch keine vierundzwanzig Stunden her, seit ihre Wege sich getrennt hatten, und sie hatten ausgemacht, dass sie ihn anriefe, wenn sie in der Hideaway Farm angekommen war. Reumütig lachte sie in sich hinein. Typisch Mark … Wie in aller Welt sollten sie jemals ihren Konflikt bereinigen, wenn er sich nicht einmal an die Grundregeln hielt?
Nachdem sie aus dem Wagen gekrabbelt war und in der Hitze etwas wackelig die verkrampften Beine gestreckt hatte, marschierte Ella knirschend über den Kies. Im blendend hellen Sonnenlicht erinnerte er sie an Kindheitsferien am Meer, und für einen flüchtigen Moment – einen sehr flüchtigen – packte sie heftiges Heimweh nach ihrer Familie, die sie in London zurückgelassen hatte, wie auch Mark. Aussichtslos …
Sie riss sich zusammen, und während sie auf das ältere Paar auf der Bank zuging, klebte sie sich ihr bestes »Ich bin fremd hier und hab mich völlig verfahren, könnten Sie mir bitte helfen?«-Lächeln ins Gesicht.
Als sie näher kam, erkannte sie, dass sie sowohl die zwei als auch das Gebäude völlig falsch eingeschätzt hatte.
Da beide trotz der Hitze mit abgewetzten Tweedjacketts und dicken Cordhosen bekleidet waren, hatte sie angenommen, es wären zwei Männer, da aber eine der beiden Personen unter dem Stoppelhaar einen Querstrich Lippenstift im Gesicht hatte, wollte sie das nun doch lieber nicht hoffen. Und auch das Gebäude war weder ein Gemeindesaal noch eine Arztpraxis.
Mit den aufeinandergestapelten Obst- und Gemüsekisten vor der Tür, den Ständern voller Postkarten und Zeitungen sowie den Küchenutensilien aus Plastik, die neben dem Eingang an Seilen baumelten, war es eindeutig ein kleiner Gemischtwarenladen.
WEBB’S MIRACLE MART verkündete das Schild über der Tür stolz. HIER GIBT ES ALLES!
Na, ob das mit den Einzelhandelsbestimmungen vereinbar ist?, dachte Ella düster und fand, dass das einzig Wunderbare an diesem Laden war, dass überhaupt irgendwer dorthin fand.
»Entschuldigen Sie bitte.«
Das Paar auf der Bank blinzelte, ohne zu lächeln, mit glasigen Blicken zu ihr empor und sagte nichts.
»Äh, hallo, ich wollte nur fragen, ob Sie mir nicht bitte den Weg zur Hideaway Farm beschreiben könnten?«
Im Duett schürzten die beiden die runzeligen Lippen, kniffen die wässrigen Augen zusammen und holten pfeifend Luft.
»Ah ja«, meinte der Lippenstift und nickte. »Denke schon.«
Ihr Gefährte zeigte ein plötzliches zahnloses Grinsen. »Sie wollen wohl zu dieser verrückten Poll Andrews?«
Ella nickte. Das Wort »verrückt« behagte ihr wirklich ganz und gar nicht.
»Na dann viel Glück!« Jetzt bleckte auch der Lippenstift ein Zahnfleischlächeln. »Das werden Sie echt brauchen.«
Na großartig, dachte Ella. »Ähm, ja, aber ich wäre wirklich dankbar, wenn Sie mir einfach nur sagen könnten, wie ich hinkomme.«
»Ach … tja, Sie müssen eigentlich nur umkehren und von Angel Meadows aus wieder zurückfahren.«
Ella zog fragend die Augenbrauen hoch. »Wo ist Angel Meadows?«
Gackernd lachten die beiden. »Na hier! Wo wir gerade sind, Schätzchen. Kennen Sie sich denn gar nicht aus? Aber egal, wenn Sie erst mal gewendet haben, fahren Sie die Straße Richtung Fiddlesticks zurück – genau da lang, wo Sie hergekommen sind, okay?«
Ella nickte.
»Gut, dann einfach immer geradeaus, vorbei an der Abzweigung nach Lovers Knot, vorbei an allen Abzweigungen, bis Sie zu einer Stelle kommen, wo es nach Sackgasse aussieht. Das ist es, was die Leute verwirrt – der Weg sieht aus, als würde er nirgendwo hinführen, aber das ist Cattle Drovers Passage. Und Hideaway Lane kommt am hinteren Ende davon, klar?«
Ella nickte wieder und bedankte sich mit einem Lächeln.
Der Lippenstift machte ein erfreutes Gesicht, dass die Information so gut angekommen war. »Das Haus von Poll Andrews ist das einzige da oben, Schätzchen. Fahren Sie bis zum Ende des Wegs, und Sie können es gar nicht verfehlen.«
Ella lächelte noch mehr. »Prima. Vielen Dank. Klingt ja ganz einfach. Jetzt werde ich die Hideaway Farm bestimmt finden.«
Das Paar nickte im Takt. »Aber sicher – nur ob Sie dort auch bleiben wollen, das ist eine ganz andere Frage. Viel Glück, Schätzchen.«