4. Kapitel

Ellas Lächeln erstarrte, alle Zuversicht im Sinkflug begriffen, und sie blickte Poll erschrocken an. »Ach ja? Ähm, inwiefern nicht vollkommen aufrichtig? Welcher Teil der Annonce entsprach denn nicht ganz der Wahrheit?«

»Nur eine Kleinigkeit«, antwortete Poll unbekümmert. »Und wenn Ash Lawrence nicht allzu bald ankommt, erkläre ich dir alles ausführlich beim Mittagessen. Dann können wir uns in Ruhe unterhalten und uns besser kennenlernen. Ich verspreche dir, es ist nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.«

Hmmm, dachte Ella düster. Ihrer Erfahrung nach bedeutete diese Phrase normalerweise, dass man sich in Wirklichkeit sehr große Sorgen machen musste.

War dieser kurze Traum vom Landleben womöglich viel zu schön, um wahr zu sein? War Poll Andrews womöglich durch ihr Raster gefallen, obwohl sie das Nobelmagazin so überaus gründlich durchkämmt hatte? Was hatte gleich noch mal genau in Polls Annonce gestanden?

Umgängliche, ehrliche, vorurteilsfreie Person,

die ihr Leben ändern und entschleunigen möchte,

gegen bescheidene Vergütung

als Hilfe zur Kinderbetreuung

in idyllischem, ländlichem Farmhaus gesucht.

Führerschein erwünscht.

Tierliebe erforderlich.

Eigenes Zimmer und volle Verpflegung.

Eigentlich recht offen gehalten, dachte Ella jetzt. Und natürlich waren es die Stichworte Kinderbetreuung, gefolgt von entschleunigen und idyllisches, ländliches Farmhaus gewesen, die an jenem oberstressigen Tag in der City ihre Aufmerksamkeit geweckt hatten. Aber was hatte es wohl auf sich mit vorurteilsfrei? Was sollte das denn heißen?

Damals hatte sie angenommen, damit sei ein liberal denkender Mensch gemeint, ohne irgendwelche radikalen Ansichten, weder links noch rechts, der sich in keinerlei Kreuzzüge verwickeln ließ – und dieser Eindruck war in Polls Briefen mehr oder weniger bestätigt worden.

Mehr oder weniger …

Ella runzelte die Stirn, und ihre Fantasie ging im Galopp mit ihr durch.

So, und wenn Poll Andrews und die Hideaway Farm nur eine heimelige Fassade für irgendetwas sehr viel Anrüchigeres darstellten? Waren vor vielen, vielen Jahren nicht auch die Täter des großen Eisenbahnraubs mit ihrer Beute in irgendeiner ländlichen Farm untergetaucht? Was, wenn Poll Mitglied einer Verbrecherbande war? Oder eine Gangsterbraut? Oder eine Internet-Betrügerin? Oder eine Drogenbaronin? Oder eine Geldwäscherin?

Was, wenn …?

Poll unterbrach diesen zügellos dahinrasenden Gedankenfluss. »Ach bitte, mach doch nicht so ein besorgtes Gesicht; es ist nichts Schlimmes, ehrlich. Hör mal, lass mich George hinunterbringen und füttern und tränken, während du auspackst, und dann essen wir zu Mittag und besprechen alles …«

George war zum Fenster hinübergetrappelt und winkte aufgeregt.

»Oh nein!«, stöhnte Poll.

Ella zog fragend die Augenbrauen hoch. »Was ist los? Wem winkt George denn zu?«

»Da biegt ein Wagen von der Cattle Drovers Passage ab«, sagte Poll knapp. »George liebt Autos und Lastwagen und Busse. Er winkt ihnen allen zu. Ich hoffe, es ist der Klempner aus Hazy Hassocks, der endlich kommt, um den Küchenwasserhahn zu reparieren, aber ich wette, es sind schon Ash und Roy – ach herrje. Zwei mehr zum Mittagessen und keine Zeit für unser Gespräch unter vier Augen …«

Mist, dachte Ella. Wieder runzelte sie die Stirn. Das wurde wohl neuerdings zur Angewohnheit. »Wer genau ist dieser Ash Lawrence? Er scheint dir ja reichlich Unannehmlichkeiten zu bereiten.«

»Ach, der Gute. Er kann nichts dafür. Liegt alles an mir – ich bringe wohl öfters so einiges durcheinander. Ash ist reizend. Wirklich reizend. Du wirst ihn mögen. Es ist nur – ich dachte, er käme erst am Fünfzehnten …«

»Heute ist der Fünfzehnte.«

»Das weiß ich inzwischen auch«, antwortete Poll gereizt und eilte durchs Zimmer, um den noch immer winkenden George von den Sprossen des Schiebefensters wegzuholen. »Ash hat es mir heute Morgen am Telefon gesagt, als er mir erklärt hat, dass er sich jetzt auf den Weg macht. Ich hatte im Kalender auf den falschen Monat gesehen. Weil das Blatt mit der Ansicht von Derwentwater so hübsch war, hatte ich es oben hängen lassen.«

Ella nickte. Nach dem, was sie bis jetzt von Poll so mitbekommen hatte, klang das erschreckend einleuchtend.

»Und«, fuhr Poll fort, die jetzt mit dem widerstrebenden George herumkicherte, »ich dachte, Ash und Roy würden erst nächste Woche einziehen.«

»Einziehen? Hier? Zu zweit? Also ist er – sind sie – deine Untermieter? Ist Hideaway eine Frühstücks-Pension? Ist es das, was du nicht erwähnt hast und weshalb du mich einstellst, damit ich mich um George kümmere?«

»So in der Richtung«, sagte Poll ausweichend, während George und sein Gefolge von Tieren die Treppe hinuntertobten. »Es ist sehr traurig. Ash und Roy haben ihr bisheriges Zuhause verloren, die Armen. Ach, aber du wirst kaum glauben, was Ash für ein wunderbarer Mann ist. Ende zwanzig, wahnsinnig gut aussehend, und er ist Koch. Oder war es vielmehr – obwohl er sich jetzt natürlich nach einer anderen Stelle umsieht. Seine Unterkunft war an den Arbeitsplatz gebunden, aber der Restaurantbesitzer war mit Roy, Ashs Lebensgefährten, nicht einverstanden – eindeutig ein übler Fall von Homophobie –, und Ash wurde entlassen.«

»Ach herrje«, sagte Ella. »Das klingt wirklich unfair. Aber es muss doch einen wirklich triftigen Grund dafür gegeben haben, denn ansonsten hätte dieser Ash ja wegen unzulässiger Kündigung vor Gericht ziehen können, oder? Man kann Leute wegen ihrer sexuellen Neigungen doch nicht einfach so feuern? Ist er denn ein Freund von dir? Hast du ihm deshalb ein Dach überm Kopf angeboten?«

»Nein, nicht wirklich. Es ist alles noch ein bisschen komplizierter.«

Ella stand bereits kurz vor dem Hirnkollaps und fragte nicht weiter, in der Annahme, dass Polls Erklärung der komplizierten Hintergründe alles wahrscheinlich nur noch verworrener machen würde. »Und was ist mit dem, äh, unerwünschten Lebensgefährten? Roy? Ist der auch Koch? Was ist er für ein Typ?«

»Keine Ahnung«, antwortete Poll unbekümmert. »Aber Koch ist er nicht. Ich glaube, er ist ein etwas älterer Mann, und mir ist, als hätte Ash gesagt, er sei Konstrukteur und macht irgendetwas mit Beton.«

»Beton? Du meinst, so wie ein Architekt oder Statiker?«

»Vermutlich. Bei dem Job ist er wahrscheinlich viel unterwegs, und das erklärt vielleicht auch, warum er bei keinem meiner Treffen mit Ash dabei war. Oder es war ihm vielleicht auch zu peinlich, weil er ja der Grund für den Rauswurf aus der bisherigen Wohnung war.«

Und wahrscheinlich ist er außerdem ein Hundert-Kilo-Biker voller Tätowierungen, der lauten Thrash-Slash-Clash-Rock hört, einen Hang zum Satanismus hat und Fledermäusen die Köpfe abbeißt, dachte Ella düster. »Aber mit Rücksicht auf George hast du doch sicher auch diesen Roy überprüft, bevor du ihn hier einziehen lässt, oder?«

»Aber ja. Äh, eigentlich nein. Ich habe, äh, in der Vergangenheit so einige unkluge Geschäftsentscheidungen getroffen, und deshalb habe ich es diesmal meinem Rechtsbeistand überlassen, sich um all die Hintergrundinformationen und so weiter zu kümmern. Er hat mir versichert, dass er absolut nichts Zweifelhaftes hat finden können. Von daher können wir unbesorgt davon ausgehen, dass Roy eine schneeweiße Weste hat.«

Hmmm, dachte Ella, alles andere als überzeugt. Roy hatte wahrscheinlich einfach seinen Namen geändert, um sich dem Netz der Ermittlungen zu entziehen.

Oh Gott – nicht nur, dass sie gar nicht mehr so genau wusste, wozu sie auf der Hideaway Farm war, nun sollte sie auch noch mit einem obdachlosen Koch und dem schwulen Berkshire-Gegenstück des frühen Ozzy Osbourne zusammenwohnen.

Na toll.

Poll fummelte an ihren Perlen herum. »Hör mal, da ist so viel, was ich dir noch erzählen muss, aber jetzt geh ich erst mal runter und begrüße Ash und mache mich mit Roy bekannt und weise die beiden ein, sofern sie das sind in dem Auto da draußen, und gebe George sein Mittagessen, und danach werden wir hoffentlich alles klären können … okay?«

»Okay.« Ella nickte und versuchte ein sorgloses Ich-komme-mit-allem-klar-Lächeln zustande zu bringen. »Klingt gut.«

Ella wartete, bis Poll die Tür hinter sich zugezogen hatte, dann atmete sie völlig verwirrt tief aus. Nun, wie auch immer es laufen würde, sie hatten eine auf drei Monate befristete Anstellung vereinbart, und sie würde jetzt einfach das Beste daraus machen müssen.

Und immerhin war die Hideaway Farm genau so, wie Poll sie in ihren Briefen beschrieben hatte. Nachdem sie ihr Handy aus der Handtasche hervorgekramt hatte, schrieb Ella rasch SMS-Nachrichten an ihre Eltern, ihre Schwester, ihre früheren Mitbewohnerinnen, drei ehemalige Arbeitskollegen und ihre beiden besten Freundinnen, um alle wissen zu lassen, dass sie gut angekommen war, ihre Entscheidung nicht bereute, die Umgebung, das Haus und vor allem ihr Zimmer wunderschön und alles bestens war und sie selbst, ehe man sich’s versah, wahrscheinlich ein Gänseblumenkränzchen und Kirschen-Ohrringe tragen und Dialekt sprechen würde.

Sie zögerte etwas, bevor sie Mark eine SMS schrieb. Sie hätte gerne mit ihm gesprochen, seine Stimme gehört, wusste aber, dass das wahrscheinlich in Tränen enden würde, und schickte daher schnell eine unverbindliche und kurze Nachricht: »Gut angekommen. Schönes Haus. Nette Leute. Alles okay. Sprechen uns bald. Gruß und Kuss, E.«

Dann tippelte sie unter der niedrigen durchhängenden Decke über die polierten Bodendielen und betrachtete aus einem der großen offenen Sprossenfenster die Rückseite der Hideaway Farm.

Unter ihr lag ein staubiger Hof, umgeben von einer hohen Mauer, eine pastellfarbene Wand aus grauen Schieferplatten und goldfarbenem Sandstein, der in der Sonne glitzerte wie voll eingeschlossener Edelsteine und mit Flechten und Moos bewachsen war – und tatsächlich, da waren jede Menge Hühner, die vergnügt in den üppigen farbenfrohen Blumenrabatten scharrten.

Hinter dem Hof schlängelte sich die Hideaway Lane über die Mauer hinweg und zwischen den Fliederbüschen hindurch, gerade so zu erkennen, und man sah das Ende der nach ihrem früheren Zweck als Furt der Viehtreiber so nett altmodisch benannten Cattle Drovers Passage – und sonst war da gar nichts.

Keine Häuser, keine Leute, kein Verkehr. Nur Bäume und Blüten und Feld und sehr viel Himmel – so weit das Auge reichte –, alles in warmes, schläfriges Schweigen gehüllt.

Es war, wie sie es sich gedacht hatte, rundherum herrlich.

Nun, abgesehen natürlich von dem kleinen Haar in der Suppe mit Poll. Dass Poll in den Vierzigern war und geschieden, hatte sie bereits gewusst – Poll hatte ihre Lebensumstände in ihren Briefen ganz offen geschildert –, und jetzt wusste sie außerdem, dass Poll, wie sie selbst zugegeben hatte, nicht uneingeschränkt ehrlich gewesen war.

Ja nun, dachte Ella, während sie ihre ausgedünnte Garderobe auf der herrlichen Daunenbettdecke zu ordentlichen Stapeln zusammenlegte, beim Mittagessen würde sie dann ja mehr erfahren. Es sei denn, natürlich, das Mittagessen würde ganz und gar von dem heimatlosen Schwulenpärchen dominiert.

Hey-ho …

Ella verstaute ihre Sachen in nach Lavendel duftenden Schubladen und Schrankfächern und umarmte sich selbst vor lauter Freude über dieses atemberaubend schöne Zimmer. Es war ganz wie eine Suite in einem Landgasthof – einfach unbeschreiblich schön. Poll hatte für alles Denkbare gesorgt. Angenehm kühl an so einem glutheißen Tag wehten vor den Fenstern sinnliche Voile-Vorhänge, überall waren Vasen mit Blumen verteilt, und ein kleiner Fernseher nebst Stereoanlage stand auf einem Bücherregal, das wiederum mit einer Mischung aus leinengebundenen Bänden und aktuellen Taschenbüchern gefüllt war.

Wie lange war es her, dass sie zuletzt die Nase in ein Buch gesteckt hatte? Aber vielleicht würde sie in ihrem neuen Leben als Landmädchen ja wieder zum Lesen kommen, das wäre wunderbar …

Und – du liebe Zeit! Man sehe sich das mal an!

Neben dem Bett standen sogar ein winziger Kühlschrank, ein Willkommenstablett und ein »Teasmade«-Wecker mit eingebautem Wasserkocher!

Fantastisch!

Ella lachte entzückt. Ihre Großeltern hatten so einen »Teasmade« gehabt. Sie hatte geglaubt, die Dinger wären seit den Siebzigerjahren so gut wie ausgestorben.

Ach, dieser Ort war einfach herrlich …

»Ella!«, hallte Polls Stimme von fern die Treppe empor. »Tut mir schrecklich leid, aber wie es aussieht, müssen wir unser kleines Gespräch noch etwas aufschieben. Komm doch bitte zum Mittagessen herunter, wenn du fertig bist. George isst im Garten, aber gerade eben ist Ash Lawrence angekommen.«