42. Muffins und Pullover
Lucy, 43, Sensor Stufe 10
Seit Katya von ihrem Kontrollgang durchs Weiße Haus zurückgekommen war, saß ich mit ihr und Erykah im Wohnzimmer. Draußen schneite es. Die Temperatur war wieder unter null gefallen. Wir nahmen ein zweites Frühstück, bestehend aus Milch und Blaubeermuffins, zu uns. Als wir gerade zusammenräumen wollten, betrat Evelyn atemlos die Wohnung und warf uns triumphierend einige Tüten zu. Ihre Wangen waren gerötet von der Kälte draußen, in ihrem Haar und auf dem Mantel schmolzen ein paar Schneeflocken.
»Schaut mal. Ein Pulli, drei Paar Socken, ein T-Shirt und zwei sündhaft teure Lippenstifte«, verkündete sie mit frischem Besitzerstolz. Katya und Erykah nickten amüsiert.
»Ich wollte mir eigentlich noch Slips kaufen, aber es war mir peinlich, weil George dabei war und mich keine Sekunde aus den Augen gelassen hat.« Dann flitzte sie hinaus in den Flur, um Mantel, Schuhe und Schal abzulegen.
»Und wo ist dein George jetzt? Sitzt er auf der anderen Straßenseite im Auto und passt auf, dass du nicht abhaust?«, rief Katya ihr hinterher.
»Hoffentlich hat er Standheizung.«
Ev kam zurück ins Wohnzimmer und warf sich neben Erykah aufs Sofa. Sie schaute auf den Tisch.
»Gibt’s noch Milch?«
»In der Küche.«
Ev stand auf und verschwand in der Küche.
»Die kann einen echt nervös machen mit ihrem Herumgerenne«, fand Erykah.
Katya lachte. »Lass sie doch. Wie warst du denn drauf, als du zum ersten Mal aus dem Lager herauskamst?«
»Das hat Jahre gedauert, wie du weißt. Und dann bin ich keineswegs wie von der Hummel gestochen in der Gegend rumgerast und hab mir Pullis gekauft. Ich lag zwei Tage und zwei Nächte im Bett. Mit einer wunderschönen Inderin.«
Ev kam mit der Milch zurück.
»Ist der Pulli nicht traumhaft?«, fragte sie mich. Ich begutachtete die Neuerwerbung gerade anerkennend.
»Sehr hübsch. Vor allem die Elche auf dem Rollkragen. Oder sind das Rentiere? Ein bisschen zu warm für Roswell, findest du nicht?«
»Schon«, erwiderte Ev, und ein kleiner Schatten zog über ihr Gesicht. »Aber jetzt bin ich ja erst einmal in Washington. Und hier ist es schließlich verdammt kalt.« Dann fügte sie kleinlaut hinzu: »Am liebsten würde ich ganz hierbleiben.«
»Das geht aber nicht«, sagte Katya milde.
»Ich weiß.«
»Gar nichts weißt du«, belehrte Katya sie in gespielt strengem Ton.
»Was meinst du damit?«
Ich warf Katya einen warnenden Blick zu. Wir hatten beschlossen, Evely nichts von unserem Plan zu sagen, sondern sie im gegebenen Moment vor vollendete Tatsachen zu stellen. Es erschien uns sicherer so. Ev war zu unerfahren, um in heiklen Situationen, mit denen wir allemal rechnen mussten, richtig zu reagieren. Wir fanden sie zu naiv, das Spiel perfekt mitzuspielen. Mochte sein, dass wir sie unterschätzten. Aber das war in jedem Falle besser, als sie zu überfordern. Doch Katya hatte nicht vor, von dieser Marschroute abzuweichen. Sie grinste Evelyn an, wuschelte ihr durchs Blondhaar und meinte beschwichtigend: »Nichts Spezielles. Du kommst mir nur so verdammt jung vor. Vor allem wenn ich mir Lucy und Erykah ansehe.«
Das Telefon klingelte. Katya reichte mir das Handy nach einer knapp bemessenen Begrüßung an mich weiter. Sie zog die Augenbrauen hoch und flüsterte: »Butterfly.« Ich nahm an.
»Ja … Vergiss es. Schon gut … Weiß nicht … Vielleicht morgen … Ja, ich werde die anderen fragen … Okay … Ja, du auch. Bis dann.«
Drei Augenpaare sahen mich fragend an. »Sie hat sich entschuldigt.«
»Wer’s glaubt?«, maulte Erykah.
»Sie möchte uns gerne auf einen Kaffee besuchen.«
Katya stöhnte. »Muss das sein?«
»Ich kann darauf verzichten«, stimmte Erykah Katya zu.
Evelyn schüttelte protestierend den Kopf: »Ich verstehe euch nicht. Klar, Butterfly hat sich scheußlich benommen an Silvester. Aber sie war betrunken, da passiert so was schon mal …«
»Alkohol verändert nicht den Charakter, sondern fördert ihn glasklar zutage. Butterfly benimmt sich nicht wie eine miese Schlange, sie ist eine!«, widersprach Katya energisch.
»Und wenn sie freundlich zu dir ist, musst du doppelt aufpassen«, fügte ich hinzu.
»Aber sie ist doch eine von euch. Oder von uns, besser gesagt. Müssen wir nicht alle zusammenhalten?« Evelyn war wirklich ein realitätsferner Gutmensch.
»Schätzchen, du bist unglaublich naiv.« Erykah schlug nun einen schärferen Ton an. »Du glaubst, weil wir alle im gleichen beschissenen Boot sitzen und gemeinsam in den stürmischen Ozean des Lebens kotzen, sind wir auf ewig Schwestern und in tiefster Zuneigung verbunden? Butterfly ist die Erste, die dich den Haien zum Fraß vorwirft, wenn es um ihre eigene Haut geht. Die fischt noch dein angeknabbertes Bein raus und nagt selbst daran, wenn sie Hunger hat! Wir sind keine verschworene Gemeinschaft, in der eine für alle kämpft und alle für eine. Wir sind eine Truppe von Verlierern, intelligent, aber charakterschwach bis total marode. Bestimmt keine Vorkämpfer in Sachen Solidarität. Oder Menschlichkeit. Oder Sanftmut. Die meisten von uns haben einen wenig vertrauenswürdigen Charakter. Das ist das Einzige, was uns verbindet. Schau dir doch mal ein paar unserer Biografien an! Du glaubst doch nicht, dass wir alle unschuldig im Knast gelandet sind?«
»So schlimm seid ihr auch nicht«, wehrte Ev trotzig ab. Sie stand auf, kämpfte mit den Tränen, wollte nicht hören, was Erykah womöglich noch alles zu sagen hätte. »Ich gehe ein Bad nehmen.«
Erykah zuckte mit den Schultern. »Hummeln im Hintern hast du. Und Rosinen im Kopf.«
Katya zeigte Erykah missbilligend einen Vogel und folgte Ev in Richtung Badezimmer. »Warte, ich gebe dir meine Honigcreme.«
Erykah wandte sich an mich: »War ich zu hart?«
»Nur ehrlich. Wir können Ev nicht mit Samthandschuhen anfassen. Dann lernt sie nichts.« Wir hörten, wie im Bad Wasser eingelassen wurde. Katya redete leise mit Ev, wahrscheinlich tröstete sie sie ein wenig.
Ich hatte ein ganz anderes Problem, mit dem ich mich an Erykah wandte: »Marc hätte Katya nicht stecken dürfen, dass Nicolas sie ausspioniert hat.«
»Warum nicht?«, fragte Erykah verständnislos. »Wir können verdammt froh sein, dass Marc das von diesem Conrad erfahren hat! Wer weiß, was Katya noch alles ausgeplaudert hätte …«
»Nichts, was für uns gefährlich wäre«, bemerkte ich bitter. Auch ich war sauer auf Katya. Aber ich hielt sie nicht für verblödet.
»Dennoch ist es besser, wir wissen Bescheid. Außerdem war Katya offensichtlich gar nicht so sehr schockiert. Sie hat keinen Ton dazu gesagt.«
»Genau das macht mir Sorgen.«
Katya kam ins Wohnzimmer zurück. Erykah wechselte abrupt das Thema: »Was machen wir mit Butterfly?«
»Von mir aus kann sie zum Kaffee kommen«, meinte ich ohne große Überzeugung.
»Von mir aus auch«, fügte Katya hinzu.
»Das meine ich nicht. Was machen wir mit Butterfly an dem Tag?«
Nun verstanden wir. Ich sah Erykah entschlossen ins Gesicht. »Butterfly wird die Außensicherung übernehmen. Dann ist sie aus der Schusslinie. Anders geht es nicht. Sie darf nicht in den Westflügel. Sonst vermasselt sie uns die Tour. Und dann sind wir dran.«
Erykah antwortete nicht. Sie schaute mir in die Augen, als suche sie nach etwas.
»Lucy hat recht. Es geht nicht anders«, stimmte Katya mir zu.
»Ihr wisst, was das heißt?«, fragte Erykah.
Ich nickte langsam. Katya hob die Stimme und fluchte: »Verdammt, das ist nicht gesagt! Butterfly hat keine Ahnung. Keiner kann sie zur Verantwortung ziehen. Nichts wird ihr passieren, nichts!«
»Träum weiter«, widersprach Erykah bissig.
»Was schlägst du vor?« Ich suchte schon seit Längerem nach einem Ausweg. Mir war keiner eingefallen.
»Nichts. Es geht nicht anders.«
»Ich habe Angst«, sagte Katya plötzlich mit zitternder Stimme. »Vor uns. Wir sind doch keine Mörder …«
»Doch sind wir. Alle drei. Wie wir hier sitzen. Irre ich mich da, Katya?« Ich zündete mir gleichmütig eine Zigarette an und schnippte eine Staubflocke von der Sofalehne.
Katya gab keine Antwort.