11. Ein nervöser Präsident

Pete, 36, Geheimagent

Ich sah keine Chance, an diesem Abend früh zu Bett zu kommen. Angespannt durch die Ereignisse der letzten anderthalb Stunden, fuhr ich zum Weißen Haus, um dem Präsidenten und dem Stabschef Bericht zu erstatten. Mit überhöhtem Tempo durchquerte ich Georgetown, bog in die Pennsylvania Avenue ein und parkte wenige Minuten danach vor dem Wohnsitz des Präsidenten. Meinen Ausweis vorschriftsmäßig ans Revers heftend, stürmte ich durch die Flure mit den protzigen Ölgemälden, die die glorreiche amerikanische Vergangenheit priesen, also Landnahme, Völkermord, Bürgerkrieg. Jedes Land hat seine Helden und Höhepunkte, grinste ich in mich hinein und grüßte die vor mir liegende Galerie mit militärischem Gestus – ein Ritual, das ich jedes Mal in diesen Hallen vollführte und das mir bei den patrouillierenden Bodyguards den Ruf eines vaterlandsverliebten Spinners eingebracht hatte.

Ich wandte mich zum Oval Office, klopfte an und trat ein. March saß entspannt in einem Sessel. Der Präsident stand mit hochrotem Kopf mitten im Zimmer. Ich gesellte mich zu March und grüßte den Präsidenten mit einem ehrerbietigen Kopfnicken, um meinen gerade in einem Tobsuchtsanfall befindlichen Oberboss nicht zu unterbrechen.

Der Präsident wuchtete seinen untersetzten Körper hin und her, schwitzend, wild gestikulierend und schreiend: »Diese Schweine, diese Drecksäue! Ich sage Ihnen, die sind hinter mir her, aber mir glaubt ja keiner, Sie halten mich ja für paranoid … Dabei bin ich nirgends mehr sicher! Man muss dieses Geschmeiß auslöschen, ein für alle Mal, koste es, was es wolle! Ich werde ihnen die Eier mit einem Baseballschläger zerquetschen und den Matsch mit glühenden Zangen auseinanderreißen!«

Ich schlug die Beine übereinander. March zeigte ob dieser meiner unwillkürlichen Vorsichtsmaßnahme den Anflug eines Lächelns. Der Präsident kehrte uns den Rücken zu und holte Luft – eine lebensnotwendige Maßnahme, denn er drohte an seiner Wut schier zu ersticken. »Woher wussten die, dass ich bei Noxville essen wollte? March, das ist Ihr verdammtes Ressort!«

March antwortete völlig ruhig: »Selbstverständlich hausiert keiner von uns mit Ihrem Terminkalender, Herr Präsident. Bei solchen Geschichten ist absolute Diskretion jedoch fast unmöglich. Mit Verlaub, Sie kennen Noxville, Herr Präsident. Wir können davon ausgehen, dass er mit stolzgeschwellter Brust sein gesamtes Personal um äußerste Perfektion gebeten hat, da Sie sein Haus beehren. Für Noxvilles Leute können wir nicht garantieren. Schnell erzählt ein Hausmädchen im Supermarkt, dass der Präsident zu Gast sein wird. Solche beiläufig erwähnten Neuigkeiten reisen mit Überschallgeschwindigkeit. Wir können natürlich dafür sorgen, Herr Präsident, dass in Zukunft auch bei solchen außerhäusigen Terminen nur noch unser eigenes Personal verwandt wird. Das wäre aufwendig, aber machbar.« March hatte sowohl den richtigen Tonfall als auch das richtige Vokabular gewählt, um den Präsidenten zu beruhigen.

»Das wird nicht nötig sein, March. Wir werden andere Lösungen finden. Bessere. Endgültige. Wo bleibt Ihr Boss, Pete?«

»Der muss jede Sekunde hier sein, ebenso der Bericht der Sondereinheit.«

Die Gesichtsfarbe des Präsidenten ging allmählich von Kirschtomatenrot zu seinem üblichen Schweinchenrosa über. Er hatte sich wieder im Griff. »Pete, schicken Sie dieser Katya einen Strauß Blumen, ach was, kaufen Sie ihr Diamantohrringe, sie hat’s verdient. Nützliche Tierchen, diese Ratten, nicht wahr?«

In diesem Moment trafen Andrew Snyder, der Secret-Service-Boss, und Sam Rodkin, der Leiter der Sondereinheit, ein. Sam begann noch im Stehen mit einer knappen Zusammenfassung der Ereignisse nach meiner Abfahrt bei Noxville: »Kontrollierte Sprengung, Sachschäden an Noxvilles Grundstück, gesprungene Fensterscheiben in der Nachbarschaft. Keine Verletzten, eine aufgebrochene Dachluke auf einem der gegenüberliegenden Häuser, vermutlich der Lauerposten des Terroristen. Es gibt noch keine verwertbaren Spuren. Es kann davon ausgegangen werden, dass der Anschlag eine Aktion der Stadtguerilla war, denn keine der anderen Gruppierungen hat diesen Spezialsprengstoff bisher benutzt.«

»Woher haben die das Zeug?«, richtete sich der Präsident an Snyder. »Soweit ich weiß, wird dieser Sprengstoff in Militärlabors hergestellt und gelagert. Ist da irgendwo eine undichte Stelle?«

Snyder ergriff zum ersten Mal das Wort: »Die Bestände sind katalogisiert, da fehlt nichts. Allerdings hat die Stadtguerilla gute Verbindungen nach Europa, wo der HSR-Sprengstoff schon seit einigen Jahren gekocht wird. Europol geht davon aus, dass Proben davon in den Untergrund gelangt sind oder möglicherweise sogar die Formel entschlüsselt wurde. Ein Desaster, nicht nur für die Europäer. Per Schiff werden illegale Frachten zwischen den Kontinenten verschoben, eine missliebige Angelegenheit, die sich kaum kontrollieren lässt. Wahrscheinlich sind die Guerilleros auf diesem Wege in den Besitz des HSR gelangt. Wir verfolgen zurzeit Hinweise, die uns Aufschluss über eine bestimmte weitverzweigte Connection zwischen Europa und Amerika geben könnten.«

Ich wusste, dass die Fortschritte, die mein Boss dem Präsidenten zum Fraß vorwarf, lediglich Knochen ohne Fleisch waren. Mochte der Präsident hoffnungsfroh darauf herumkauen. Hauptsache, er war erst einmal ruhiggestellt.

Doch so einfach schien es heute nicht zu sein: »Mir ist zu Ohren gekommen, Snyder, dass Ihr wichtigster V-Mann in Europa eliminiert worden ist und Sie jetzt entweder auf eine neue Taktik umschwenken oder in zeitraubender Kleinarbeit ein paar Neue bei den Europäern einschleusen müssen. Wie steht es damit?«

Ich war genauso überrascht wie Snyder, doch wir ließen es uns nicht anmerken. Es stimmte. Vor wenigen Wochen war uns aus Europa ein Foto von dem abgetrennten Kopf unseres besten Undercoveragenten zugespielt worden. Es gab keinen Anhaltspunkt dafür, dieses Foto für eine Fälschung zu halten. Wie jedoch der Präsident davon erfahren hatte, war mir ein Rätsel. Snyder hatte ihn erst offiziell in Kenntnis setzen wollen, wenn wir einen überzeugenden Plan B plus Ergebnisse präsentieren konnten. Jedenfalls bestätigte die Informiertheit des Präsidenten Snyders Verdacht, dass March beim Secret Service genauso wie im Pentagon, bei der CIA, dem FBI, der NSA und NRO seine eigenen Leute sitzen hatte.

Snyder war jedoch klug genug, dieses heikle Thema hier und jetzt nicht anzuschneiden. Er erklärte dem Präsidenten lediglich, dass der angesprochene Verlust nicht tragisch und für Ersatz schnell gesorgt sei. Das viel größere Problem sei Frenet, der Boss von Europol. Wenn der französische Präsident von der Zusammenarbeit beziehungsweise der amerikanischen Einmischung in sein Hoheitsgebiet Wind bekommen würde, wäre Frenet seine Position los, was für den CIA und den Secret Service den Verlust eines zwar teuren, aber ungemein kooperativen Partners bedeuten würde.

Der Präsident, inzwischen wieder einigermaßen in seine Rolle des souveränen Staatsmannes zurückgekehrt, nickte nur. »Sie werden die Probleme in Europa in den Griff bekommen, Snyder. Mir geht es in erster Linie darum, die Verbindungen unserer Terroristen zu kappen. Das muss bald passieren. Am besten gestern! Ich verspüre keinerlei Verlangen, auf Schritt und Tritt eine Ratte an meiner Seite zu haben, damit ich mich sicher fühlen kann. Im ganzen Land häufen sich die Anschläge, die schlimmsten gehen auf das Konto der Stadtguerilla. Von mir aus können ruhig ein paar Halbstarke mit ihren Molotowcocktails die Heuschober in Nebraska oder Wyoming hochgehen lassen. Dann schreit das Volk nach starken Sicherheitskräften, und das kann uns schließlich nur recht sein.«

Keiner von uns mochte sich auch nur mit einem Nicken zu dieser Perfidie bekennen. Der Präsident jedoch fuhr ungerührt fort: »Was diese Guerilla allerdings veranstaltet, ist nicht akzeptabel. Ich erwarte, dass jeder Einzelne dieser Gruppierung gefasst wird. Ich erwarte weiterhin, über die diesbezüglichen Fortschritte auf dem Laufenden gehalten zu werden. Jederzeit und unverzüglich, Sie verstehen, Snyder?«

Snyder verstand. Er wurde beauftragt, mit einer handverlesenen Truppe von Fachleuten innerhalb der nächsten vierzehn Tage einen Maßnahmenkatalog zur aktiven Terroristenbekämpfung zu erstellen. Der Präsident wünschte sich einen neuen, noch härteren, noch schlagkräftigeren, einen ultimativen und finalen Plan. Eine Endlösung, wie er betonte. Für die Legalisierung einer jeden noch so ungewöhnlichen Vorgangsweise, sei es im Angriff oder in der Vergeltung, werde er höchstpersönlich sorgen. Und wenn nicht, auch egal. Als hätte man sich je darum gekümmert.

Diese klaren Ansagen riefen bei Snyder leichtes Stirnrunzeln hervor. Er versuchte es mit einem vorsichtigen Einwand: »Es gibt Grenzen, Herr Präsident.«

»Nicht mehr«, war dessen lapidare Antwort.

Spätestens jetzt war allen Anwesenden klar, dass unser Präsident den heutigen Anschlag sehr persönlich nahm. Die Vorstellung, dass sein Körper, wäre die Ratte nicht gewesen, nun atomisiert über die Straße stauben würde, schien ihm extrem zuzusetzen.

Ich begriff, dass die Terroristenbekämpfung in eine neue Phase eintrat. Noch wusste ich nicht genau, wie ich mir das vorzustellen hatte. Ich wusste nur, dass mein Präsident, ein cholerischer und unberechenbarer Charakter, sein Steak blutig haben wollte.

Snyder beschloss, nicht weiter zu insistieren. Er war kein Politiker und Moral noch nie ein eigener Paragraf in den Leitfäden der Geheimdienste gewesen. Also versprach er ohne weitere Widerworte, die passenden Leute an den Maßnahmenkatalog zu setzen.

Ich bekam den Auftrag, das Weiße Haus ab sofort nicht nur einmal pro Woche durch einen Kontrollgang Lucys oder Katyas zu überprüfen, sondern alle drei Tage. Außerdem sollte ich mich für anfallende Spezialaufträge zu Snyders Verfügung halten. Damit war die Krisensitzung geschlossen, während deren Verlauf Marchs Gesichtsausdruck so viel verraten hatte wie ein unbeschrifteter Grabstein aus kaltem Granit.

Es war schon fast zwei Uhr, als ich endlich zu Hause ankam, eine Zigarette anzündete und in den Rauch dunkle Wolken deutete, die ich in unser aller Zukunft aufsteigen sah.