15. Kein Dinner
Lucy, 43, Sensor Stufe 10
Um acht Uhr abends betrat ich mit Katya das ›Amazonas‹, unser Lieblingsrestaurant im Stadtteil Georgetown. Elisa, die Besitzerin und stadtbekannte Lesbe, begrüßte uns mit einer Umarmung und geleitete uns flirtend zum Tisch.
Am Tag davor waren wir zur Kontrolluntersuchung beim Professor gewesen. Wir hatten Bluttests, EKGs, EEGs, Hormonstatus und alles andere über uns ergehen lassen und ihn dann eindringlich um ein privates Gespräch gebeten. Er hatte sofort zugestimmt.
Ich war nervös. Wenn Schmelzer, ohne nachzufragen, auf unsere Bitte einging, war irgendetwas im Busch. Zwar verstanden wir uns gut mit dem Professor, aber auf privater Ebene trafen wir uns normalerweise ein- oder zweimal im Jahr. Das letzte gemeinsame Essen war erst drei Monate her. Es blieb mir nicht viel Zeit, darüber nachzugrübeln. Kaum hatte ich meinen Campari und Katya ihren Wodka bestellt, traf Schmelzer ein. Er gab seinen Mantel ab, küsste uns rechts und links auf die Wangen und setzte sich.
»Ihr seht hinreißend aus. Fast noch besser als gestern im Laborkittel«, schmunzelte er.
Katya lachte. »Oder ganz ohne Kittel!«
Schmelzer grinste, doch als er mich ansah, wurde er ernst. »Was ist los, Lucy?«
»Euer blödes Geschwätz geht mir jetzt schon auf die Nerven. Lassen Sie uns das Essen bestellen und dann reden«, meinte ich schroff.
Katya trat mir unter dem Tisch ans Bein. Sie wollte strategisch vorgehen, freundlich sein, charmant, den Professor einwickeln und ihm die Wahrheit abschmeicheln. Ich hielt nichts von dieser Schlangentaktik. Ich hielt von keiner Taktik irgendetwas, schon gar nicht bei Schmelzer. Wenn er nichts sagen wollte, würde er es auch nicht tun.
Der Professor schaute mich an und verstand. Er verstand mich manchmal besser als ich mich selbst, schien es mir. Vielleicht war ich deswegen sein Liebling. Er mochte Katya zwar auch sehr gerne, aber auf eine andere Art. Katya war sein Kätzchen. In seinen Augen war sie mal verschmust und anschmiegsam, schutzbedürftig und lieb, mal kratzbürstig und egomanisch. Damit traf er Katyas wandelbaren Charakter recht gut. Heute Abend hatte sie sich zum Schnurren entschlossen.
Schmelzer öffnete die Speisekarte und wählte. Als wir bestellt hatten, fixierte er mich mit forschendem Blick. »Okay, Lucy. Raus mit der Sprache.«
Katya spielte mit ihrer Serviette herum und blickte auf den leeren Teller vor sich.
Ich ging in die Offensive: »Vielleicht sollten Sie anfangen, Professor. Sie haben doch auch etwas auf dem Herzen.«
Schmelzer seufzte. »In Ordnung. Aber um erst einmal den Standard zu erledigen –eure Testergebnisse sind so weit okay. Nur eine leicht erhöhte Konzentration von C15. Nicht bemerkenswert, kein Grund zur Besorgnis, aber etwas höher als der Normalwert. Hattet ihr viele Jobs in der letzten Zeit?«
»Wieso?« Katya wurde sofort misstrauisch.
»Je mehr Aufträge ihr habt, desto mehr von dem Hormon wird ausgeschüttet. Ihr baut es zwar zwischenzeitlich wieder ab, aber wenn ihr mehr Jobs macht als gewöhnlich, lagert sich einiges an. Wenn das nicht der Fall war, muss es einen anderen Grund für die erhöhten Werte geben.«
Schmelzer wollte ins Grübeln versinken. Ich hielt ihn davon ab: »Dafür kann es zweierlei Ursachen geben. Zum einen, Professor, sind in unseren Dateien immer nur die offiziellen Jobs erfasst. Dass wir auch in unserem Privatleben reagieren, scheint Ihnen nicht klar zu sein.«
Katya stimmte mir zu: »Wir haben nie mit Ihnen darüber gesprochen, weil es sehr private Gefühle berührt. Es ist schmerzhaft und peinlich, ungewollt und ohne es steuern zu können, in die Intimsphäre anderer Menschen einzudringen. Menschen, die man nicht kennt, meist gar nicht kennen will. Man kann nichts tun, ist dem Ganzen hilflos ausgesetzt und fühlt sich wie ein vernetzter Voyeur.«
»Um Himmels willen, wovon redet ihr?«, fuhr Schmelzer dazwischen.
Ich erklärte es ihm: »Wir sind auf Killer geschult, auf Waffen, auf direkte, immense Bedrohungen, Sprengstoffe, Splitterbomben und so weiter. Aber unsere Systeme sind inzwischen so feinnervig, dass wir auch subtileres Unheil spüren. Ich rede nicht von Gefahrensituationen, in die wir uns wegen der Jobs hineinbegeben müssen, sondern von Bedrohungen im Alltag der Menschen um uns herum.«
»Wie soll ich mir das vorstellen?«
»Lucy sieht, ich fühle«, meinte Katya. »Stellen Sie es sich so vor: Ich gehe einkaufen, stehe an der Käsetheke und spüre plötzlich einen unglaublichen Schmerz im Unterleib, von einer Sekunde auf die andere. Es tut weh, ich könnte schreien. Aber ich bin okay, es sind nur diese Wahrnehmungsblitze. Als ich mich umdrehe, steht hinter mir ein junges Mädchen. Ich weiß, sie ist missbraucht, vergewaltigt worden oder wird es werden. Ich fühle. Lucy sieht es: das Messer, das auf eine Frau niedersaust, Hände, die schützend vors Gesicht gehalten werden, klaffende Wunden …«
»Ihr spürt also nicht nur die unmittelbare Nähe einer terroristischen Gefahr, für die ihr geschult seid, sondern … mein Gott …« Schmelzer hielt entsetzt inne.
»Genau, Professor. Wir spüren Gefahr, wo immer sie stattfindet, stattgefunden hat oder stattfinden wird. Und zwar nicht nur an dem Ort, an dem etwas passieren wird, sondern auch in nächster Nähe der Menschen, die davon betroffen sind. Bei Tieren funktioniert es leider auch. Ich streichelte mal einen Hund, der regelmäßig geprügelt wird. Können Sie sich vorstellen, wie das ist, Professor?«, fragte Katya.
Schmelzer trank sein Glas in einem Zug leer und goss nach. Er schüttelte nur den Kopf.
»Deswegen gehen wir selten aus. Wir vermeiden es, mit Menschen in Kontakt zu kommen. Sie glauben nicht, was einem auf einem Einkaufsbummel alles begegnet.«
»Ich will es gar nicht wissen. Das Furchtbare ist nur, dass ihr es sicher auch nicht wissen wollt. Habt ihr eine Ahnung, wie oft ich mich schon für die Entwicklung von C15 verflucht habe? Ich teste gerade … aber davon später.« Er machte eine kleine Pause, stierte auf die Tischplatte. »Wisst ihr, ob Sybil ähnliche Probleme hatte? Irgendetwas muss mit ihr passiert sein. Walcott hat mir nicht mal die Chance gegeben, sie zu untersuchen, dieses Schwein!«
Ich legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Unterarm. »Hören Sie, Professor, wir machen Ihnen keine Vorwürfe. Was Sybil betrifft … Sie hat auch auf ihre Umwelt reagiert, klar. Wir können das nicht abstellen, die körperlichen Reaktionen aber einigermaßen kontrollieren. Darauf sind wir schließlich trainiert. Es muss etwas anderes gewesen sein, das sie hat austicken lassen.«
Der erste Gang wurde serviert. Es entstand eine kleine Gesprächspause, in der wir reichlich lustlos in unseren Tellern herumstocherten. Ich war die Erste, die aufgab, und schob mein Lachscarpaccio zurück. »Ich kriege keinen Bissen runter. Euch geht es anscheinend ähnlich. Also schlage ich vor, dass wir in eine Bar gehen und uns betrinken. Wir haben noch jede Menge zu bereden.«