10. Alarm
Lucy, 43, Sensor Stufe 10
Sieben relativ ereignislose Wochen waren seit meinem Kurzbesuch im Lager verstrichen. Ich hatte Schmelzer, der dort immer noch mit den Vorbereitungen für die Gentherapie beschäftigt war, seitdem weder gesehen noch gesprochen. Dass Sybil, die Neun aus Los Angeles, tot war, daran hatte ich keinen Zweifel. Was allerdings genau geschehen war, konnte ich mir nicht erklären. Weder Schmelzer noch Pete, den ich ebenfalls darauf angesprochen hatte, wollten es mir erzählen. Pete hatte, ähnlich unangenehm berührt von der Frage wie der Professor, etwas von Sicherheitsrisiko gemurmelt und die Details auf einen späteren Zeitpunkt vertagt. Wenn wir etwas mehr Ruhe für eine Unterhaltung hätten. Ein billiges Ausweichmanöver. Was aus dem Hinweis auf das Sicherheitsrisiko geschlossen werden konnte, war mir klar. Für die Sicherheit war der General zuständig. Dass der handelte, bevor er nachfragte, war kein Geheimnis. Was Sybil, die verschlossene, aber lebensfrohe und beruflich zuverlässige Neun, allerdings zu einem Sicherheitsrisiko hatte werden lassen, würde bis auf Weiteres im Dunkeln bleiben.
An manchen Tagen empfand ich dieses ungelöste Rätsel als mehr als quälend. An anderen Tagen jedoch war es mir egal, in den Momenten völliger Resignation, in denen mir alles egal war. Das Schicksal der Freundin genauso wie das eigene oder das von sonst irgendjemandem. Es waren Tage und Nächte, an denen ich mich nicht mehr von meinem Sofa erhob, nach kurzer Zeit unbewussten Lesens vergaß, der Schrift zu folgen, die Seite umzublättern. Nicht mehr bemerkte, wie die Zeit verstrich und ich ins Nichts stierte, das Nichts stumm und leer zurückstierte, dass es immer größer wurde, allumfassend, mich umschlang, verschlang, sodass ich mich darin verlor – bis irgendwann Katya auftauchte, mich tadelnd ansah, mir das Buch wegnahm, das Licht je nach Tageszeit anknipste oder löschte, mich ins Bett brachte oder mir auf dem Sofa die heruntergerutschte Decke über meine Schultern breitete, mich in die Kissen drückte, küsste und mir sanft befahl zu schlafen. Dann schlief ich seltsamerweise immer sofort ein, schlief manchmal einen ganzen Tag, aus lauter Erschöpfung von der Schwere und Dichte des Nichts.
Wenn ich danach erwachte, war alles gut. Ich fühlte mich frisch und erholt und fröhlich. Dann ging ich oft in den Park beim Naval Observatory spazieren, so wie an diesem Tag. Die Sonne schien fahl hinter den Dunstschleiern eines hartnäckigen Hochnebels. Vereinzelte, vom Herbst verfärbte Blätter lösten sich von den Ästen, drehten sich in einem letzten Tanz verspielt um die eigene Achse und schwebten geräuschlos zu Boden. Es war windstill. Nach einem gemächlichen Spaziergang durch feuchtes Laub und über nasse Wiesen setzte ich mich auf eine Parkbank und schaute mich um. Es waren kaum Menschen zu sehen. Ich wunderte mich einmal mehr, wieso bei der immensen Arbeitslosigkeit keine Freizeithappenings im Park abgehalten wurden. Wieso die Menschen nicht in jeder freien Minute durch den städtischen Grünstreifen joggten, auf den Bänken faulenzten, Herzen und Namen in Baumrinden ritzten und Bälle oder Frisbees durch die Luft warfen. Und dabei lachten. So wie früher.
Ich schloss die Augen und genoss die letzten kraftlosen Strahlen der Abendsonne. Nach wenigen Minuten war die Sonne hinter einer Baumgruppe verschwunden. Ich begann zu frösteln. Ich steckte die kalten Hände tief in die Taschen meines Sweaters und fischte die Mail von Tina heraus, deren Ausdruck ich eingesteckt hatte, um sie auf der Parkbank zu lesen. Ich faltete die Seiten auseinander:
Liebe Lucy,
schade, dass Du nicht länger bleiben konntest. Der Professor hat mir glücklicherweise erlaubt, Dir diese Mail zu schicken – natürlich wird sie von unserem verehrten General oder einem seiner Schergen kontrolliert (würden Sie bitte fehlende Kommata beim Lesen gleich einsetzen, lieber General?).
Ich wollte schon früher schreiben, aber ich hatte verdammt viel zu tun mit unseren Neuen. Erwartungsgemäß haben nicht alle die Eröffnungen des Professors gleich cool verarbeitet. Eine hatte ’ne richtige Sinnkrise, diese kleine Rothaarige, ich weiß nicht, ob sie Dir aufgefallen ist. Sie heißt Sabine. Tagelang hat sie kein Wort rausgebracht, lief rum wie ein verschrecktes Reh und hat sich geweigert, irgendetwas zu essen außer ihren eigenen Fingernägeln. Der Professor hat ihr liebevoll zugeredet, der General hat ihr mit Zwangsernährung und Rückverschickung in den Knast gedroht. Ich weiß nicht genau, welche der Maßnahmen bei ihr gegriffen hat, aber langsam taut sie auf, und sie isst inzwischen wie ein Scheunendrescher. Die Fingernägel nimmt sie nur noch zum Dessert. Eine andere, so ’ne ganz Junge, sie ist knapp zwanzig und heißt Andromeda – stell dir vor, sie heißt tatsächlich so –, also die ist vollkommen ausgetickt. Hat gleich am Abend nach Schmelzers Vortrag einen hysterischen Anfall bekommen und dann noch einen und noch einen, man wusste nicht, wann der eine anfängt und der andere aufhört. Andromeda – ist das nicht ein Planet oder ein Sternenhaufen oder so was? – hat fast das ganze Geschirr in unserer Küche zerdeppert (oder soll ich sagen, in eine andere Umlaufbahn gebracht?), in ihrem Zimmer mehrere Kilo Putz aus der Wand getreten und rumgeschrien: ›Bringt mich doch gleich um, ihr Schweine, ihr Wichser, ihr perversen Säue‹ und so weiter, Du kennst das ja.
Die anderen Frischlinge waren relativ pflegeleicht, wenn man von den üblichen kleineren Panik-, Wut- und Verzweiflungsausbrüchen absieht. Als sie dann alle wieder auf dem Teppich waren, dachte ich, endlich kehrt Ruhe ein. Aber nein! Weißt Du, was Sarah gemacht hat, diese dämliche Kuh? Die hat Gustafsson, dem Dänen aus der Zentrale, dermaßen heftig seinen Laptop auf dem Schädel zerdeppert, dass er das Bewusstsein verlor, dazu jede Menge Blut. Er musste in der Krankenstation genäht werden. Der Grund? Er hat ›Nutte‹ zu ihr gesagt! Dass die sich darüber aufregt! Weiß doch jeder, dass sie früher auf’n Strich gegangen ist. Meine Güte, da ist sie nicht die Einzige, haben wir damit je ein Problem gehabt? Und außerdem ist sie sowieso nicht ohne, Du kannst Dir denken, was ich meine. Gustafsson weiß nicht von ungefähr, wovon er redet. Na ja, er ist selbst schuld – quäle nie ein Tier zum Scherz …
Wie Du siehst, hatte ich jede Menge Aufregung in der letzten Zeit. Sarah durfte drei Wochen ihr Zimmer nicht verlassen und mit keinem Menschen reden. Das Essen hat ihr ein Schatten gebracht. Tja, die alte Einzelhaft, sie wirkt immer. Sarah ist wieder fromm wie ein Lamm, nur Gustafsson geht sie aus dem Weg. Eine kluge Präventivmaßnahme, für alle Beteiligten.
Aber nun was ganz anderes, was ich schon gerne vor Wochen mit Dir – und am liebsten auch mit Katya – besprochen hätte. Wir haben Probleme mit Becky. Sie ist eine Vier und kotzt immer noch. Schmelzer meint, sie sei organisch vollkommen fit. Ich gehe mit Becky regelmäßig die Differenzierungen durch, versuche ihr wieder und wieder zu erklären, dass sie die Angst als Instrument begreifen muss. Aber es nützt nichts. Ich bin mit meinem Latein am Ende. Isabel ist mir keine große Hilfe. Nun habe ich mit dem Professor gesprochen. Es wäre prima, wenn wir mit Dir und Katya mal wieder ein Seminar machen könnten. Ich würde mich höllisch freuen, Euch wiederzusehen. Hoffe, dass bei Euch alles gut läuft, und sende Grüße und Küsse aus dem Rattenloch in die freie Welt. Tina
Ich steckte den Brief nachdenklich ein, erhob mich, schlang meine Arme um den Körper, um mich zu wärmen, und schlenderte nach Hause. Es war kurz nach sieben, als ich eintraf und mich auf einen geruhsamen Abend mit einem Buch freute. Doch als ich das Wohnzimmer betrat, wurden meine Pläne schlagartig vernichtet. Katya lag mit glasigen Augen auf dem Boden, sie schien kaum noch zu atmen. Nicht schon wieder, fluchte ich leise. Ich stürzte mich auf sie, riss sie hoch, schüttelte sie, schlug ihr ins Gesicht und schrie sie an. Langsam kam Katya zu sich, blickte mich halb an, halb durch mich hindurch und grinste verzerrt. »Hey, ich mach grad ’ne Pause. Der Weißkopfadler«, so nannte sie den Professor manchmal, »is’ verreist, unn die nächse Brutplobe, äh … Blutprobe is’ erst nächse Woche oder so … Hab vielleicht ein oder zwei Pillen zu viel eingeworfen, bin etwas flaff, schlaff, baff …« Sie begann albern zu kichern.
Katya war völlig hinüber. Ich rannte ins Badezimmer, während Katya sich in Zeitlupe auf den Boden zurücksinken ließ. Mit einem nassen Handtuch und zwei Pillen in der Hand kam ich zurück. Ich legte die Tabletten auf den Tisch, setzte Katya wieder auf, kniete mich hinter sie, nahm ihren rechten Arm und ihre Hand, legte sie auf das Zwerchfell und drückte dann mit einem plötzlichen Ruck und aller Kraft dagegen. Katya spuckte sofort los, ich hielt ihr das Handtuch vor. Als Katya ihren Magen entleert hatte, schleppte ich sie unter die Dusche, zog sie unsanft aus, ignorierte das Geschrei, mit dem Katya über das eiskalte Wasser schimpfte, rubbelte sie ab, brachte sie ins Bett und prüfte ihren Puls. Er war kaum zu fühlen. Sicher hatte Katya jede Menge Dreckszeug im Blut, aber mit ein, zwei Weckaminen konnte ich ihren Kreislauf stabilisieren. Dann würde sie schlafen. Ich setzte mich auf den Bettrand. Es dauerte nicht lange, bis Katya eingeschlummert war und seelenruhig atmete. Doch mit meinem genüsslichem Abend war es vorbei. Ich hatte noch knapp zehn Minuten, um mich umzuziehen und Katyas Job von heute Abend zu übernehmen. Ich war stinkwütend. Dennoch stand ich um Punkt acht Uhr unten vor der Tür. Petes BMW wartete schon.
Als ich einstieg, lächelte mir Pete entgegen. »Das ist ja mal ’ne nette Überraschung! Ich dachte, Katya wäre für heute eingeteilt.«
»Es geht ihr nicht gut.« Ich machte mir trotz meiner Wut höllische Sorgen um Katya. Obwohl ich die Situation, die sich mir im Wohnzimmer geboten hatte, nicht zum ersten Mal erlebte.
»Was hat sie?«, fragte Pete, der den Wagen sicher in den Verkehr einfädelte.
»Nur Kopfschmerzen. Ich dachte, es ist besser, wenn sie sich ausruht. Außerdem habe ich gehofft, du würdest dich freuen, mich zu sehen.«
»Darauf kannst du Gift nehmen.« Pete nahm die rechte Hand vom Steuer und kniff mir zart in die Stelle direkt über dem Knie. Ich schlug ihm lächelnd auf die Hand.
»Wohin geht’s überhaupt? Katya hat heute Morgen nur was von einem blöden Routinejob gesagt.«
Pete nickte. »Wir fahren zu Noxville, du klärst Haus und Garten, weil um neun unser Präsident dort aufläuft und mit Noxville diniert. Wenn alles glattgeht, sind wir in einer Stunde fertig und können einen trinken gehen.«
Ich war froh zu hören, dass ich nur einen kleinen Sicherungsgang durch das Anwesen des Chefs der Staatsbank machen musste.
»Liebend gerne, Pete, aber ein anderes Mal. Ich muss mich um Katya kümmern.«
»Kann die sich nicht einfach einen Eisbeutel auf den Schädel packen und Aspirin nehmen? Die hat bestimmt nur zu viel getrunken. Damit versaut sie uns einen netten Abend.«
»Wenn Katya auf dem Damm wäre, würde sie jetzt neben dir sitzen.«
»Dann würde ich mit ihr einen trinken gehen. Katya, Lucy … mir doch egal.«
Ich boxte ihn schmerzhaft auf den Oberarm.
Pete und ich kannten uns seit vier Jahren. Damals war Pete von seinem Chef ins Lager überstellt worden, um sich einerseits von der Pike auf in das Rattenprojekt einzuarbeiten, und andererseits, um dem General auf die Finger zu sehen. Pete wurde offiziell als mein Schatten eingeteilt. Wir mochten uns auf Anhieb. Seit dieser Zeit herrschte eine gewisse erotische Spannung zwischen uns. Es war jedoch nie zu einem intimen Verhältnis gekommen. Ich wollte mich nicht in der langen Reihe derer wiederfinden, die ihren Lagerkoller und ihre sexuellen Bedürfnisse mit dem Erstbesten, der aufgrund der Umstände immer der eigene Schatten war, befriedigten. Verhältnisse dieser Art wurden von Walcott inoffiziell geduldet. Nicht weil er Verständnis für die Isolation von uns Frauen hätte, sondern weil er der Meinung war, dass wir Weiber besser parierten, wenn man uns ab und zu rannahm, und er außerdem seinen Männern das bisschen Spaß gönnte. Pete war dieser Sorte Spaß prinzipiell sicher nicht abgeneigt. Aber ich hatte das Gefühl, dass er bei mir keinen wie auch immer gearteten Fehler machen wollte. Ein gutes Jahr später war Pete nach Washington zurückbeordert worden, um die Verantwortung seitens des Secret Service für das Projekt zu übernehmen. Die Beobachtungen, die er im Lager gemacht hatte, und die Schwierigkeiten, die nicht zuletzt durch Walcotts restriktive Maßnahmen zu den mir damals noch unbekannten Ereignissen vier Jahre zuvor geführt hatten, rechtfertigten wohl eine deutlich größere Machtbefugnis für den Secret Service. Walcott hatte offensichtlich nicht einmal versucht, sich gegen diesen undisziplinierten jungen Mann, der ihm vor die Nase gesetzt wurde, zu wehren. Erstaunlich genug, aber es gab immer noch vieles, was ich nicht verstand und von dem ich nichts wusste.
Kurz darauf wurden Katya und ich freigestellt und kamen nach einem zweimonatigen Intermezzo in New York ebenfalls nach Washington. Seitdem trafen wir Pete gelegentlich. Es kam nicht häufig vor, dass Pete uns zu unseren Jobs kutschierte. Auch aus den unregelmäßigen Routinedurchsuchungen unserer Wohnung hielt er sich völlig raus. Diese Schnüffelei war ihm peinlich. Doch wenn die Umstände es erlaubten, mimte er den Chauffeur und lud uns nach den Jobs zu einem Drink ein.
Als wir vor Noxvilles Auffahrt ankamen, bedauerte Pete mit unsicherem Lächeln, dass wir nach unserem ersten Geplänkel den Rest der Fahrt schweigend Musik gehört hatten. Wie so oft vermittelte er mir das Gefühl, irgendetwas verpasst oder verpatzt zu haben. Als hätte er mir etwas Bestimmtes sagen wollen, wobei er aber nie andeutete, was es hätte sein können. Er schien verwirrt. Beim Aussteigen hantierte er so unbeholfen, dass er sich den Kopf an der Karosserie stieß. Er fluchte, rieb sich die Beule und verbarg seinen Unmut. Lässig zeigte er dem Sicherheitsbeamten am Eingang der Villa seinen Ausweis, dann stellte er mich dem Bankpräsidenten vor, der uns in der feudalen Halle in die Arme lief. Noxville begrüßte mich gezwungenermaßen – teils mit der angeekelten Neugier eines Eingeweihten, der zum ersten Mal einer Ratte die Hand schüttelt, teils mit dem Unwillen eines Neureichen, der auf die Dienstleistungen des Personals angewiesen ist, sich aber darüber ärgert, dass der Plebs seine Perserteppiche beschmutzt.
Ich nahm es gelassen und bat um eine diskrete Führung durch Haus und Park. Noxville rief nach seiner Frau, die kurz darauf in einem schwarzen, endlos verwickelten Chiffongewand die weiße, fast ebenso verwickelte Marmortreppe heruntergeschwebt kam. Ihr Gatte beauftragte sie, Pete und mir die gesamten Räume zu zeigen. Unvollendete Sätze schnatternd wie »Ist es nicht faszinierend, dass wir heute Abend den Präsidenten …« oder »Schrecklich, dass solche Vorsichtsmaßnahmen heutzutage notwendig …« und »Man kann sich ja nicht mehr und überhaupt nirgends mehr sicher …« schritt die gehorsame Gemahlin voraus, während ich unwillkürlich an meine Mutter denken musste. Die war ebenso wie Frau Noxville immer nach dem peinlichsten letzten Schrei gekleidet und exaltiert bis in die Fingerspitzen gewesen.
Ich verscheuchte die unliebsamen Erinnerungen und bat Frau Noxville an jeder Zimmertür, mich allein im Raum zu lassen. Eine Prozedur, die ich bei allen achtzehn Zimmern wiederholen musste. Frau Noxvilles Kurzzeitgedächtnis schien völlig außer Betrieb. Pete folgte stumm, schloss dann und wann die eine oder andere Tür hinter mir, damit ich unbehelligt vom Gequake der Chiffonente arbeiten konnte. Wir waren beide erleichtert, als wir endlich im Garten anlangten und Frau Noxville aus ihrer Pflicht entlassen war. Ich nahm einen tiefen Atemzug.
»Im Haus ist alles in Ordnung.«
Gemächlichen Schrittes schlenderte ich durch den Park, umkreiste Büsche, lief langsam an den Hecken und Blumenbeeten entlang. Pete hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und folgte mir mit etwas Abstand. Er beobachtete jede meiner Bewegungen, das spürte ich. Doch erst als wir wieder am Haus ankamen, drehte ich mich zu ihm um. Ich wollte den Park schon freigeben, als mir einfiel, sicherheitshalber die Auffahrt noch abzugehen, die wir vorhin mit dem Auto passiert hatten. Pete wartete vor dem Haus, da das Ganze höchstens ein paar Minuten dauern konnte. Er schloss schon mal den Wagen auf und kündigte an, sich in der Zwischenzeit zu überlegen, wie er mich doch noch in eine Bar oder ein Restaurant locken könnte.
Kurz vor dem von zwei bewaffneten Sicherheitsleuten bewachten Tor spürte ich es. Ich hielt an, atmete ruhig durch, prüfte, indem ich die Augen schloss und in mich hineinhorchte. Schritt für Schritt ging ich auf das Tor zu, bis ich genau zwischen den gemauerten Pfeilern stand. Das Eisengitter war geöffnet, die Wächter standen vor dem Grundstück auf dem Bürgersteig und unterhielten sich. Sie nahmen keine Notiz von mir. Ich spürte, wie mein Kreislauf nach unten sackte. Dann der Blutdruck plötzlich nach oben schoss. Ich ging hin und her, einmal, noch einmal. Es waren die Pfeiler. Mir brach kalter Schweiß aus, mein Herz raste. Ich fühlte ein ekelhaftes inneres Zittern, dieses Flattern, das eine aufsteigende Panik markierte. Ich konzentrierte mich, um den Alarm zu kontrollieren, aber er war stark. Sehr stark. Langsam drehte ich mich um und ging, ohne mir etwas anmerken zu lassen, wieder zurück zu Pete, der lässig an seinem Auto lehnte und mich beobachtete.
Meine Nerven vibrierten fast schmerzhaft. Da wusste ich, dass mich hinter meinem Rücken noch ein zweiter Mann beobachtete. Er musste sich auf einem der gegenüberliegenden Dächer befinden. Ich wusste, er lag flach auf dem Boden und lugte angestrengt durch das Zielfernrohr seines Präzisionsgewehrs. Ich sah ihn geradezu vor mir, fühlte, was in ihm vorging. Vor wenigen Minuten noch war er gelangweilt gewesen, hatte in lässiger Erwartung seines Kurzauftritts eine Zigarette geraucht. Sobald der Wagen mit dem Präsidenten vorfuhr, würde er abdrücken, seine wassergefüllte Spezialmunition auf den linken Mauerpfosten aufklatschen lassen und die Toreinfahrt samt Vorgarten in Schutt und Asche legen. Und mit dem ganzen Müll den Präsidenten. Ihm persönlich war der Präsident egal, aber sein Auftraggeber zahlte gut. Schien ein einfacher Job zu sein. Oder wurde es gerade brenzlig? Mein Spaziergang zum Tor und mein gleichmütiges Schlendern zwischen den Pfeilern ließen leises Misstrauen in ihm aufkommen. Jetzt ging ich zurück zu dem Typen am Auto, der verdammt nach CIA aussah. Der Mann auf dem Dach machte sein weiteres Vorgehen vom Verhalten Petes abhängig. Würde er mit mir reingehen? Würde er telefonieren?
Als ich näher kam, bemerkte Pete, wie bleich ich war. Sein Körper spannte sich, aber auch er machte keinerlei auffällige Bewegung. Bei einem Alarm galt es, jegliches Aufsehen zu vermeiden. Mögliche Angreifer auf Beobachtungsposten sollten nicht vorgewarnt werden.
»Auf dem Dach gegenüber ist jemand. Er beobachtet uns. Ich habe am Tor alarmiert«, sagte ich, als ich bei Pete ankam. »Keine Waffe, es ist in oder an den Pfeilern.«
»Abbruch?« fragte Pete knapp. Die Zeit war eng bemessen.
»Unbedingt.«
Pete stieg ganz ruhig mit mir in den Wagen und zog sein Handy aus der Anzugsjacke. »Hallo, March, Abbruch, sofort! Ja, drehen Sie um … Ich melde mich in einer Viertelstunde wieder … gut.«
Dann wandte er sich zu mir: »Bist du okay? Was ist es?«
»Alles klar, danke.« Ich freute mich über Petes Aufmerksamkeit. »Ich bin mir über die Differenzierung nicht klar. Keine übliche Waffe, kein Sprengstoff, zumindest kein herkömmlicher. Nicht fest, eher gasförmig oder flüssig, schwer zu fassen … Er wird Wasser benutzen … es wird … in die Luft fliegen … Verdammt, natürlich! Ich hatte erst einmal das Vergnügen, und das auch nur in einer Trainingseinheit.«
»Shit.« Pete begriff sofort. Es gab nur eine Substanz, die so neu war, dass ich sie nicht genau kannte, die ich nicht schnell und präzise bestimmen konnte. Das war der neue wasserentzündliche Flüssigsprengstoff, den die Stadtguerilla bei dem New Yorker Anschlag auf die U-Bahn benutzt hatte. Der Teufel wusste, wie sie an dieses brisante Zeug rankam.
»Was ist mit den beiden Wachen am Tor?«, fragte ich.
»Du kennst die Regeln. Einer auf dem Dach, sagst du? Nur einer? Der sitzt da garantiert mit einem computergesteuerten Gewehr und hat uns alle sehr gut im Auge. Bei dem geringsten Verdacht, dass wir die Sauerei entdeckt haben und der Präsident nicht kommt, bläst er das Ganze vielleicht nur so zum Spaß in die Luft. Warte, ich muss noch mal telefonieren.«
Pete rief bei seiner Dienststelle an, bestellte die Spezialeinheit und ging anschließend zu Noxville, um ihm zu erklären, dass das Essen leider ausfalle, weil das Haus evakuiert werden müsse und außerdem noch seine schicke Toreinfahrt pulverisiert würde, da es bei diesem neuartigen Sprengstoff keine Möglichkeit zur Entschärfung gebe. Noxville nahm die Neuigkeiten mit deftigen Flüchen auf, doch die Angst ließ ihn schließlich verstummen. Innerhalb kürzester Zeit war Petes Sondereinheit im Gebäude. Sie kamen getarnt mit einem Wagen eines Delikatessen-Cateringservice zum Hintereingang und leiteten unauffällig die Evakuierung der Bewohner und Angestellten ein, während sich ein Scharfschütze eine passende Position auf einem der seitlich gelegenen Gebäude aussuchte, von wo aus er mit seiner Spezialmunition aus sicherer Entfernung die Pfeiler hochgehen lassen konnte.
Das Ganze ging rasch und, wenn man von Frau Noxvilles Gezeter absah, ohne Zwischenfälle vonstatten. Pete hoffte, dass die Terroristen nicht so viel von dem explosiven Material verwandt hatten, dass gleich das halbe Viertel mit hochgehen würde. Sorge bereitete ihm außerdem, dass er mit seinem Wagen durch das Tor hinausfahren wollte. Er hätte den Wagen auch stehen lassen und wie die anderen zu Fuß durch den Hinterausgang verschwinden können, der hoffentlich nicht von den Terroristen beobachtet wurde. Bislang wenigstens schien alles ruhig. Doch die Sprengung der Toreinfahrt würde garantiert den Lack seines fast zwanzig Jahre alten BMW Z3 in Orinoko-Schlamm-Metallic beschädigen oder ihn völlig zerbröseln. Das konnte er nicht zulassen. Er wollte mich mit den anderen zum Hinterausgang schicken. Ich bestand darauf, mit ihm zu fahren. »Die haben es auf den Präsidenten abgesehen. Die zünden nicht vorzeitig«, sagte ich mit einer möglichst lässigen Handbewegung.
»Warum machst du dir dann Sorgen um die Wachen?«, entgegnete Pete.
Ich sah ihn stumm an und stieg in den BMW. Im ersten Gang fuhr Pete die gewundene Kiesauffahrt hinunter. Mit jedem Meter, den wir uns dem Tor näherten, wurde er nervöser. Dann waren wir durch. Als wir eine Querstraße entfernt waren, ließ Pete telefonisch die Torwachen abziehen. Er trat aufs Gaspedal.
»Ich fahre dich schnell nach Hause. Dann muss ich los ins Weiße Haus. Wird wohl nichts mit unserem Drink heute Abend.«
Ich nickte nur. Ich musste erst einmal dieses Flattern in den Griff bekommen. Nach etwa zwei Minuten Fahrt hörten wir eine gewaltige Detonation. Wir schwiegen. Als wir vor meiner Wohnung ankamen, stieg Pete aus, ging um den Wagen herum, öffnete mir die Tür und schaute mir in die Augen. »Ich hoffe, wir sehen uns bald.«
Ich ging. Ich hatte keinen Nerv zum Flirten. In der Wohnung angekommen, schaute ich zuerst nach Katya. Sie schlief fest. Ich nahm zwei Aspirin und legte mich ins Bett. Es dauerte lange, bis ich einschlafen konnte. Zu viel ging mir durch den Kopf. Der Anschlag, Katyas Tablettenexzesse, Sybil, das Lager … Und Pete.