17. Kontakt
Marc, 32, Aussteiger
Fünf Tage hatte es gedauert. Fünf Tage auf den Bildschirm starren, lesen, suchen, sichten, bis uns die Augen flimmerten. Unendlich viele Tassen Kaffee, unendlich viele Zigaretten, Salzstangen, Fehlschläge, Telefonlisten, Frustrationen, Anrufe, Anfragen, falsche Adressen. Wir waren in den dunkelsten Ecken des Netzes gelandet, hatten harmlose, unnütze und unsägliche Angebote bekommen, von Blind-Date-Adressen über Penisverlängerungsangebote bis zu pornograpfischen Fotos von Frauen mit Männern, Frauen mit Geräten, Frauen mit Tieren, Männern mit Männern, Frauen, Tieren, Frauen und Männern mit Tieren und Geräten und Kindern und dann wieder Viagra plus Blind-Date-Werbung. Wie dem auch sei, in jeder Stadt schien es mindestens einen Fowler mit passendem Vornamen zu geben, nur dass diese Fowlers allen möglichen Geschäften nachgingen, halbwegs sauberen wie Waschpulverwarenverkehr oder auch schmutzigen wie Immobilienmaklerei oder sonst was. In Washington gab es nur zwei Fowlers. Der Erste war Bäcker, der Zweite nicht zu Hause. Doch ich glaubte seine Stimme auf dem Anrufbeantworter zu erkennen. Charlie streckte sich, rieb seinen schmerzenden Nacken, knetete seine Finger. Geschafft – endlich, unglaublich, hoffentlich. Vielleicht. Er fuhr in die Stadt, kaufte vorsorglich Champagner. Eine halbe Stunde später saßen wir gemeinsam mit Caroline vor dem Telefon, starrten es an und rechneten alle zehn Minuten den Zeitunterschied zwischen Washington und Colorado neu aus.
»Ob er jetzt vielleicht zu Hause ist?«, fragte Caroline zum dritten Mal innerhalb der letzten halben Stunde. Sie konzentrierte sich darauf, diese Frage zum gut platzierten Running Gag aufzubauen. Keiner von uns kam auf die Idee, dass ihre Fröhlichkeit verfrüht sein könnte. Dass dieser Fowler vielleicht auch Waschpulver oder Sodomie verhökerte. Oder dass er der Richtige sein könnte, allerdings mit null Informationswert. Wir fühlten uns wider alle Vernunft nach diesen anstrengenden Tagen, als hätten wir Evelyn zum Greifen nah, als könnten wir das Kaffeegedeck für sie schon auf den Tisch stellen. So als ob nie etwas gewesen wäre.
Dann endlich war er zu Hause. Ein voller Mond schien inzwischen in die Küche, wo wir das Telefon auf dem Tisch aufgebaut hatten. Meine Finger tippten die Wahlwiederholung automatisch an. Als sich plötzlich eine nicht digitalisierte Stimme auf der anderen Seite der Leitung meldete, stellte ich fest, dass ich vor lauter Überraschung meinen Text vergessen hatte. Ich legte in einer absurden Reaktion sofort wieder auf, was Caroline vor Schreck veranlasste, mit einer ungeschickten Bewegung ihr Bier umzustoßen. Ich atmete tief durch, befahl den anderen mit einer strikten Geste Funkstille und wählte noch einmal.
»Ja, hallo, Fowler, was ist denn?«, fragte eine schon leicht genervte Stimme.
»Hallo, Fowler, hier Westwood. Erinnerst du dich an den Idioten aus den Wäldern? Der dich immer im Schach geschlagen hat?«
»Hey, Marc!«
Die Überraschung in der Stimme klang nicht ganz überzeugend. Aber das anzunehmen wäre absurd, dachte ich. Wahrscheinlich war ich in den letzten Jahren meiner Wanderschaft paranoid geworden. Ein Wunder wär’s nicht.
»Es war ganz schön schwer, dich ausfindig zu machen. Wir haben hier unten nur gehört, dass du bei der Polizei bist. Aber wo? Fowler, was treibst du, gehst du Streife, verhaftest du Penner, oder was?« Ich war sehr zufrieden, trotz meiner Aufregung einen dermaßen lockeren Ton anschlagen zu können.
»Und was treibst du, Westwood? Es ist auch gar nicht einfach, dich ausfindig zu machen, nicht wahr? Aber das ist dir sicher sehr recht, oder?«
Mir verschlug es kurz die Sprache. War ich doch nicht paranoid? Ich hatte auf Lautsprecher geschaltet und wusste nicht, was Charlie und Caroline von diesen obskuren Andeutungen halten würden. Ich wusste selbst nicht, wie ich diese Bemerkungen einordnen sollte. Aber ich hatte kein gutes Gefühl dabei.
»Hör zu, ich bin hier bei Charlie und Caroline. Die beiden hören mit und würden auch gerne wissen, wie es dir geht.«
»Hey, Caroline, hallo, Charlie! Mir geht’s prima! Und euch Hinterwäldlern?«
Charly war immerhin zu einem Minimum an Konversation fähig. Carolines Nervosität reichte gerade mal für ein gekrächztes »Hallo«.
Ich wusste nicht, wie ich vorgehen sollte. Konnte ich ohne Umschweife zum Thema kommen? Wer war dieser Pete aus meiner Kindheit inzwischen, was war aus ihm geworden, wo stand er? Wusste Pete irgendwas über meine Vergangenheit bei der Stadtguerilla? Oder waren seine Andeutungen harmlos? War die Leitung sauber? Konnte ich meinem alten Freund noch trauen? All dies schoss mir im Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf. Überraschenderweise jedoch half Fowler mir: »Marc, ich kann mir denken, weshalb du dich meldest. Ich habe schon seit Wochen mit deinem Anruf gerechnet. Wirst langsamer, was?«
Plötzlich fühlte ich mich sicher. Ich hatte recht gehabt mit meiner Vorsicht. Fowler war ebenfalls vorsichtig. Er nannte die Dinge nicht beim Namen, obwohl ich mir jetzt sicher war, dass er genau wusste, worum es ging. Ich atmete tief durch. Dann sagte ich: »Hast recht. Ich würde dich gerne mal wiedersehen. Ließe sich das machen?«
»Klar. Aber du müsstest herkommen.«
»Ich bin in drei Tagen da. Wo treffen wir uns?«
»Ruf mich an, wenn du in der Stadt bist. Wir gehen ein Bier trinken, unterhalten uns über alte Zeiten, okay?«
»So machen wir’s, Alter. Bis dann!«
»Bis dann.«
Ich legte auf. Caroline und Charlie blickten mich verunsichert an. Sie wussten nicht, was sie von unserer allzu knappen Konversation zu halten hatten.
»Er weiß etwas. Und er wird es mir sagen.« Ich erhob mich abrupt, wehrte ihre hektischen Fragen ab, pfiff nach Devil und ging mit ihm raus. Devil freute sich über den unerwarteten Spaziergang und lief kläffend vor mir her. Ich fragte mich, wie genau Fowler worüber informiert war. Aber alle Dinge haben ihre Zeit. Nichts geschieht zu einem unpassenden Moment, es kommt einem nur so vor, weil man die innere Struktur, die unausweichliche Logik in der Abfolge der Ereignisse nicht erkennt. Also schüttelte ich meine unnützen Grübeleien ab. Ich würde es bald erfahren.
Ich nahm einen großen Ast und schleuderte ihn in die Luft. Devil flitzte hinterher. Es war absolut finster. Selbst eine Fledermaus hätte den Stock nicht finden können. Doch Devil sah das als Herausforderung.
Am nächsten Morgen warf ich meinen Rucksack wieder auf den Rücksitz des Oldsmobile. Caroline und Charlie verabschiedeten mich, traurig und ängstlich. Dann fuhr ich los, machte wieder die gleiche Kaffeefahrt wie vor wenigen Tagen. Oder waren es Wochen? Ich verliere in Colorado immer das Gefühl für die Zeit. Dort im Tal scheint sie stillzustehen oder zumindest in einem ganz anderen Rhythmus voranzugehen als in der Großstadt. Die Wälder atmen den ganzen Tag lang einen tiefen, tiefen Atemzug ein. Die Nacht über atmen sie langsam aus. Sie öffnen ihre Äste am Morgen und umspannen den Tag. Nachts schließen sie die Arme und bergen das Licht. In den Wäldern wird man getragen vom weiten, starken, ruhigen Atemzug der Bäume. Sanft gewogen wie auf dem Stillen Ozean bei ruhiger See. Die Stadt hingegen keucht, hustet, hyperventiliert. Ein, aus, schneller, schneller. Beschleunigter Puls, tausend Reize in einem Augenaufschlag, Nasenflügelbeben und Ohrenaufsperren – ein berauschendes Sensorround-Kino. Ich weiß nicht, was ich lieber mag. Der Wald ist echt, er ist wahr. Die Stadt, sie ist wirklich. So verdammt wirklich, dass es wehtut, richtig weh, sie zu sehen, zu riechen, zu schmecken, zu berühren. In den Städten ist das Leben vom Tod gezeichnet. Jederzeit und überall. Die Stadt ist Siechtum. Ein Moloch. Mit seinen kaputten Gestalten, röchelnden Zombies, die ihren eigenen Verwesungsgeruch nicht wahrnehmen. Ein morbides Kunstwerk. Nicht wie diese Ansammlungen von Tankstellen und Diners, die ich immer noch durchquerte. Öde Käffer, die als einzige Taktik gegen ihren Scheintod den Wettbewerb um den schönsten Vorgarten im County erfunden hatten.
Kurz hinter Indianapolis hielt ich an und mietete mich in einem Motel ein. Es war eines dieser überall gleichen Motels mit den ewig gleichen schwindsüchtigen, übellaunigen Angestellten hinter dem Empfangstresen, den ewig gleichen cremefarben lackierten Wänden, der müffelnden Bettwäsche und den riesigen Kakerlaken im feucht-schimmligen Badezimmer. Ich wusch mich nur kurz, putzte die Zähne, spie angewidert das nach Chlor stinkende Wasser aus und legte mich in meinen Klamotten aufs Bett. Ich hatte schon schlimmer gewohnt. Morgen würde ich bis Washington durchfahren, in einem besseren Hotel einchecken und mir dort den Schmierfilm der Reise abduschen. Dann würde ich Pete treffen. Ich würde erfahren, was mit Ev geschehen war. Und dann … Man würde sehen.