6. Nacht im Gefängnis

Evelyn, 24, Gefängnisinsassin

Wie immer wurden Punkt zehn Uhr abends die Zellenbeleuchtungen im Frauengefängnis von Seattle gelöscht. Ich legte mein Buch beiseite. Nicht, dass ich es als sonderlich spannend empfunden hätte. Ich las es nur, weil es eines der wenigen Bücher aus der Gefängnisbibliothek war, das ich noch nicht gelesen hatte. Ich war frustriert, als das Licht ausging. Frustriert und etwas ängstlich. Jetzt begann unweigerlich die Nacht, die 874. Nacht in der Zelle. Eine Nacht mehr, in der ich nur schlecht, wenn überhaupt einschlafen konnte, um dann wahrscheinlich wieder von Albträumen gequält zu werden. Ich zerrte die Decke aus der Matratze, streckte die Beine darunter und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Ich würde an etwas Positives denken und dann friedlich darüber einschlafen. Vielleicht an meinen knorrigen, liebevollen Großvater. An die vielen Spaziergänge, die ich mit ihm in meiner Kindheit gemacht hatte. Einmal pro Woche war er zu uns gekommen, hatte meinen kleinen Rucksack mit belegten Broten und Birnen oder Äpfeln gefüllt, mich an der Hand genommen und war mit mir durch die an Mamas Haus grenzenden Wälder im Herzen Colorados spaziert.

Ich schloss die Augen und genoss die Perspektive des kleinen Mädchens, das ich damals war: Ich schaute hinauf zu den hohen Wipfeln der Bäume, die sich leise rauschend im Wind wiegten, ich schaute nach oben in das faltige Gesicht meines Großvaters und auf seine Hand, die neben meinem Kopf herunterhing und die meine umfasste und beim Gehen hin- und herschaukelte. In Großvaters Rucksack war immer eine Flasche Limonade gewesen, und dann, nach etwa einer Stunde, angefüllt mit spannenden Erzählungen über Vögel und andere Bewohner des Waldes, setzten wir uns hin, auf einen umgestürzten Baumstamm oder einfach auf die weich bemooste Erde, und Opa holte das Essen und die Limonade aus dem Rucksack. Ich rief mir genau ins Gedächtnis, fühlte geradezu, wie ich einmal beim Trinken Limonade auf mein Kleid kippte, und mein Schoß und meine Beine waren ganz klebrig von dem süßen Zeug, das im Rucksack warm geworden war. Opa lachte und schimpfte nicht, wie Mama das vielleicht getan hätte. Er gab mir sein großes Taschentuch, damit ich draufspuckte und mir über die Beine wischte. Doch dann war Großvater plötzlich weg, aber ich war noch im Wald, im gleichen Wald, nur war ich jetzt größer, schon viel größer, und meine Arme waren klebrig und mein Hals und mein Dekolleté. Aber es war keine Limonade, und niemand lachte.

Ich riss die Augen auf. Ich lag auf meiner Pritsche in der Zelle in Seattle, wälzte mich zur Seite. Die Arme unter meinem Kopf waren nicht mehr durchblutet und kribbelten unangenehm. Ich schwitzte trotz der abgestandenen klammen Kühle im Raum. Immer wieder dieses Bild, wieso wurde ich dieses Bild nicht los? Ich hatte ihn nicht umbringen wollen. Aber dann war er über mich hergefallen, und ich ließ mich in einer Art katatonischer Starre von ihm in den weichen Waldboden drücken, und erst als er meinen Rock hochgeschoben, meinen Slip zerrissen hatte und auf mir lag und mich anfasste, da kam alles in mir wieder hoch: die Erinnerung an früher, an den Mann, der das Gleiche mit mir gemacht hatte, als ich mich noch nicht wehren konnte, weil ich nicht wusste, ob er das durfte – mich anfassen –, ob ich das durfte – mich wehren. Doch jetzt wusste ich es, jetzt konnte ich es, und meine rechte Hand fand einen Stein, und der Stein fand den Hinterkopf des Bürgermeistersohnes, und dann klebten meine Arme, mein Hals, mein Dekolleté von seinem Blut. Ich erinnerte mich sehr gut, dass ich eine Ewigkeit bewegungslos liegen blieb. Die Zeit stand still, die Sekunden geronnen, die Vögel verstummten, der Wind hielt inne. Nur sein Blut sprudelte und rieselte. Die Zeit hielt so lange den Atem an, bis ich ihn endlich, plötzlich angeekelt, von mir herunterstieß, den Stein fallen ließ und ganz langsam und konzentriert in meiner Tasche ein Tuch suchte, auf das ich draufspucken könnte, um mich sauber zu machen. Aber da war keines, und ich ließ die Tasche liegen und ging in gemächlichem Tempo zurück zur Stadt. Ich glaubte, mich erinnern zu können, dass ich leise ein Lied sang, aber in dem Punkt war ich mir hinterher nicht sicher. Dann, in der Stadt, waren alle auf mich eingestürzt, war alles über mir zusammengestürzt, und dann stand ich vor Gericht, und keiner glaubte mir. Ich bekam lebenslänglich. Weil ich mich gewehrt hatte, schon bevor mein Inneres verwüstet war. Ich, die Tochter einer unverheirateten Frau – so eine nämlich, kein Wunder! –, die auch noch mit einem fremden Mann zusammenlebte, der aus einer weit entfernten Stadt gekommen war und einen fast erwachsenen Sohn mit in die wilde Ehe gebracht hatte … Und der als Opfer bezeichnete Tote war der ehrbare Sohn des ehrbaren Bürgermeisters gewesen, und dessen Freundin hatte ausgesagt, ich, Evelyn, wäre scharf auf den Schwachkopf gewesen, und er hätte mich abgewiesen. Das reichte den Geschworenen als Motiv für den Mord. Obwohl sie ja gar kein Motiv brauchten, sie hatten ja den Stein, das Blut. Uund von Vergewaltigung keine Spur.

Etwas über zwei Jahre war das her. Ich hatte gelernt in diesen Jahren. Über die Gesellschaft, ihre Hierarchien, ihre Lügen, den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Wahrheit und über mich selbst. Ich hatte keinem etwas erzählt von den früheren Vergewaltigungen durch den Mann, der mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, gewesen war. Ich liebte meine Mutter. Ich hatte es ihr nicht gesagt und auch nicht dem Lebensgefährten meiner Mutter, den ich Vater nannte, und auch vor Gericht nicht, obwohl das Kindheitstrauma mich vielleicht entlastet hätte. Aber ich hatte mich damals dagegen entschieden und war noch immer von der Richtigkeit dieser Entscheidung überzeugt. Mir hätte sowieso keiner geglaubt. Außer meiner Familie, und die hätte es zerrissen. Nur meinem Stiefbruder, dem habe ich es erzählt. Nach dem Urteil. Da war ich schwach geworden und hatte Angst gehabt vor dem Begrabenwerden in einer Zelle, also redete und redete ich mit ihm, als müsse ich alle Worte noch ein letztes Mal aussprechen, bevor sie in mir versiegten. Er hatte mir versprechen müssen, es nie, niemals der Mutter oder seinem Vater zu sagen. Auf ihn konnte ich mich verlassen. Er hörte still zu, hielt meine Hand und versprach es. Mein Onkel starb kurz danach auf ungeklärte Weise in den Flammen seines Hauses.

Ich wälzte mich hin und her und versuchte, die Schatten der Vergangenheit zu vertreiben. Es war, wie es war. Ich hatte noch Glück im Unglück gehabt, dass ich in der Frauenjustizvollzugsanstalt von Seattle gelandet war. Hier waren nur weibliche Wärter, es kam selten zu Vergewaltigungen durch das Wachpersonal. Dann und wann gab es eine Schlägerei oder auch mal was mit dem Messer unter den Inhaftierten, aber im Grunde ging es friedlich zu. Außerdem war die Bibliothekarin nett zu mir. Sie hatte versprochen, die Gesamtausgabe von Dostojewski zu besorgen. Ich wollte unbedingt ‹Erniedrigte und Beleidigte‹ und ‹Aufzeichnungen aus dem Kellerloch‹ lesen.