39. Konspiration

Lucy, 43, Sensor Stufe 10

Erykah weigerte sich vehement, mit zum Joggen zu kommen. Ich versuchte sie zu motivieren, indem ich an ihre Ahnen erinnerte, die schnell wie der Wind, barfüßig, mit einem Speer in der Hand und einem erlegten Löwen über den Schultern durch die sengenden Steppen Afrikas gelaufen waren. Sie konterte mit ihren Vorfahren als herzverfetteten Ghettomamis und Crack rauchenden Losern, deren Schnelligkeit sich aufs Laden und Abballern von Waffen beschränkte. Erykah hing mit einem feuchten Waschlappen auf der Stirn im Sessel, jammerte über Kopfschmerzen und darüber, dass der Streit in der Silvesternacht ihren Flirt mit der Kellnerin abgebrochen hatte. Die Party war vorbei gewesen, obwohl Katya ihr Bestes getan hatte, die Gemüter zu beruhigen und den anderen aus dem Lager Evelyns Bevorzugung zu erklären. Ann glühte vor Eifersucht, und Tina war beleidigt, weil sie sich als Sechser zurückgesetzt fühlte. Jessica sagte wie immer nichts, aber auch sie blickte säuerlich drein. Am schlimmsten jedoch war die Diskussion für Ev, die nicht wusste, wie sie sich verhalten sollte. Von Ann schlug ihr offene Feindseligkeit entgegen, Butterfly goss mit bissigen Bemerkungen wie »sie bläst bestimmt besser als ihr« zusätzlich Öl ins Feuer. Katya hatte Butterfly gefragt, woher sie ihre Informationen über Ev und Pete bezog. Butterfly lachte verächtlich. Es sei kein Geheimnis, dass Pete Ev die Nacht zuvor für ein Schäferstündchen ausgeliehen habe. Die Schatten würden sich darüber das Maul zerreißen.

Ev war klug genug gewesen, die Angelegenheit nicht zu dementieren. Sie war wortlos auf ihr Zimmer gegangen und ausnahmsweise sogar froh, als der Wachmann die Tür hinter ihr abschloss. Katya hatte sich Tina vorgenommen und mit Engelszungen an deren Verantwortungsgefühl appelliert. Sie müsse darauf achten, dass im Lager alles glatt verliefe. Ev sei von Schmelzer ausgesucht worden, um von Anfang an eine gründliche Ausbildung zu bekommen. Tina solle sich vor Augen halten, dass sie das Lager bald verlassen würde. Dann würde zweifelsohne Ann versuchen, das Kommando dort zu übernehmen. Das könne niemand wollen.

Katya streute Tina Waggonladungen Zucker in die Augen, bis sie geschmeichelt versprach, allen Eifersüchteleien einen Riegel vorzuschieben.

Katya fühlte sich schäbig, weil wir unsere Kolleginnen betrogen. Aber es gab keine andere Lösung. Wir mussten es durchziehen, koste es, was es wolle.

Deswegen ließen wir Erykah im Sessel vor sich hin leiden, zogen unsere Joggingschuhe an und gingen zum Park.

Marc stand schon neben meiner Pausenbank herum. Er kickte mit der Fußspitze kleine Steine durch die Gegend. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Es war still. Kein Wind, der über die kleinen Hügel strich, kein Vogelgezwitscher. Nur unsere gleichmäßigen, auf den nassen Boden klatschenden Schritte durchbrachen die Ruhe. Der Himmel war von einer bleigrauen Wolkendecke verhangen, am Wegrand schwammen abgefrorene Grashalme in trübem Tauwasser, in den entlaubten Bäumen saßen Schwärme von regungslosen Krähen.

»Frohes neues Jahr«, wünschte Marc und umarmte und küsste uns. »Auf der Bank ist es im wahrsten Sinne des Wortes arschkalt. Wäre es euch recht, wenn wir zu mir gehen? Ich bin nicht verfolgt worden. Hängt an euch einer dran?«

Ich schüttelte den Kopf und schaute Katya an. »Keiner. Schätze, wir können es riskieren. Es ist wirklich schweinekalt. Was meinst du?«

Katya nickte. »Wir werden schon seit Tagen nicht mehr beobachtet. Zur Hölle damit, vielleicht war ’s bloß ein Voyeur.«

»Das glaubst du doch selbst nicht«, meinte ich zweifelnd. Zehn Minuten später waren wir in Marcs Wohnung.

»Setzt euch auf die Matratze, ich mache uns einen Grog«, sagte Marc.

Während er in einer winzigen Kochnische den Grog zubereitete, erzählten wir ihm von der Silvesterparty. Den Streit allerdings spielte Katya ein wenig herunter. Dennoch wollte Marc wissen, warum ich Butterfly eine gescheuert hatte. Wo ich doch wusste, dass zwischen Pete und Ev nichts gelaufen war.

»Aber die anderen durften nicht raffen, dass Lucy über diese Nacht informiert war«, versuchte Katya zu erklären.

Ich wehrte ab: »Ich habe ihr eine geknallt, weil sie es mir gesteckt hat. Es war reine Boshaftigkeit von Butterfly.«

Katya nickte und fuhr fort: »Ev war prima. Sie blickte schuldbewusst, als die Rede auf ihr angebliches Verhältnis mit Pete kam, und zog sich auf ihr Zimmer zurück. Die anderen sind neidisch, weil Ev hierbleiben darf. Das wird sie heute sicher noch zu spüren bekommen. Aber Tina hat mir versprochen aufzupassen, dass sie ihr nicht zu sehr die Hölle heißmachen. Gott sei Dank reisen die anderen heute ab.«

»Und wo wird Ev wohnen?«, fragte Marc.

Ich antwortete: »Bei uns. Es wird zwar etwas eng, weil Erykah auch da ist, aber das kriegen wir schon hin. Ev kann bei Katya im Zimmer schlafen.«

Katya fügte hinzu, dass Ev ursprünglich mit Butterfly im Hotel hatte bleiben sollen. Doch nach dem Silvesterabend hatten wir ein gutes Argument, Evelyn und Butterfly zu trennen. Auch die Schatten hatten mitbekommen, wie viel Gift Butterfly auf Ev verspritzt hatte. Das wäre nicht gut gegangen mit den beiden unter einem Dach. Schließlich hatte Pete entschieden, dass Ev bei uns wohnen sollte. Jetzt zerrissen sich natürlich alle das Maul über die Orgien, die bei uns zu Hause ablaufen würden. Ev würde noch heute zu uns umziehen. Der Nachteil bei dieser Lösung war allerdings, dass Evs Schatten vor unserer Tür postiert wurde. Und wieder Wanzen in unsere Handys kamen. Walcott hatte darauf bestanden, dass nicht alle Regeln außer Kraft gesetzt wurden.

»Es wird unmöglich sein, ein weiteres Treffen zwischen dir und Ev zu arrangieren.« Ich hoffte, dass Marc das einsah.

»Was sagt Pete zu den Überwachungsmaßnahmen?«, fragte Marc.

»Der steckt bis über beide Ohren in Arbeit. Ein neues Projekt.«

»Das mit den verwanzten Handys ist albern. Ich gebe euch einfach ein sauberes Zweitgerät.«

Ich lachte. »So blöd sind Walcotts Leute nicht. Wenn wir Wanzen bekommen, können wir auch davon ausgehen, dass eine Routinedurchsuchung ins Haus steht. Wenn die ein fremdes Handy finden, gibt’s Ärger. Das hatten wir schon mal, ganz am Anfang unserer Freistellung. Hat uns drei Monate Rund-um-die-Uhr-Observierung eingebracht. Das kannst du vergessen. Die finden alles. Wir dürfen kein Risiko eingehen.«

»Mist. Ich würde mich gerne so schnell wie möglich mit Pete treffen. Hat er schon eine Idee, wie wir Ev verschwinden lassen können?«

Katya schaute mich an. Das war der Moment, den ich nutzen musste. »Ich bezweifele stark, dass er überhaupt darüber nachdenkt. Es sind ein paar Dinge am Laufen, die Priorität haben und die jede Aktion bezüglich Ev mehr als brenzlig erscheinen lassen.«

»Was meinst du damit?«, fragte Marc irritiert.

»Pete hat das Thema Evelyn nach hinten geschoben. Er will, dass Ev erst einmal ins Lager zurückgeht und Normalität einkehrt. Zurzeit sind alle Geheimdienste voll auf dem Posten. Walcott schnüffelt herum. Und wer uns beobachtet hat, ist auch noch unklar. Unter diesen Bedingungen hält Pete es für unverantwortlich, irgendeine Aktion zu starten.«

»Aber wenn Ev wieder im Lager ist … Pete hat selbst gesagt, sie dort rauszuholen wäre so gut wie unmöglich!« Marc war verzweifelt und bitter enttäuscht.

Genau in der richtigen Verfassung für meinen Vorstoß. »Du fragst überhaupt nicht, wieso die Situation im Moment so brandheiß ist und woran Pete arbeitet.«

»Ich will nicht den Eindruck erwecken, euch über Staatsgeheimnisse auszuquetschen.«

»Marc, ich muss dir jetzt eine sehr ernsthafte Frage stellen«, begann ich erneut. »Und ich hätte gerne eine ebenso ernsthafte und ehrliche Antwort.«

Marc zog überrascht die Augenbrauen nach oben und wartete ab.

»Ich weiß, dass deine Loyalität Pete gegenüber sehr groß ist. Aber wenn wir einen Plan hätten, Ev noch diesen Monat aus der Rattenfalle rauszuholen, allerdings ohne Pete einzuweihen, was würdest du tun?«

Marc sog tief Luft ein. »Warum wollt ihr Pete übergehen? Gerade du, Lucy?«

Katya schaute Marc fest in die Augen. »Zwei Gründe: Wir fürchten, dass Pete mit der Arbeit an einem neuen Programm beschäftigt ist, das wir mit aller Macht verhindern wollen. Der zweite Grund wäre die größtmögliche Glaubwürdigkeit Petes.«

»Was soll ich denn darunter verstehen?«, fragte Marc. Misstrauen und Verwirrung lagen in seinem Blick.

»Ganz einfach«, erklärte Katya. »Wenn bei unserem Plan etwas schiefgeht, ist es für Pete besser, keine Ahnung von allem zu haben. Nur dann wirkt er in Verhören überzeugend. Nichtwissen ist notwendige Bedingung für die größtmögliche Glaubwürdigkeit.«

Marc stand auf, drehte uns den Rücken zu und schaute aus dem Fenster. Draußen ging alles seinen normalen Gang. Autos fuhren vorbei, am Fußgängerüberweg versammelten sich Menschen, die bei Grün die Fahrbahn überquerten, ohne sich gegenseitig anzuschauen. Katya und ich warteten. Nach etwa einer Minute setzte Marc sich wieder zu uns, beugte sich nach vorne, stützte die Ellbogen auf seine Knie und faltete die Hände.

»Was ist das für ein Programm, das ihr verhindern wollt? Hat es etwas mit den Ratten zu tun? Hat es Auswirkungen auf Ev?«

»Indirekt«, antwortete ich. »Es geht um neue Antiterrormaßnahmen. Um Maßnahmen, die einen dermaßen faschistoiden Charakter haben, dass man in nächster Zukunft hier Zustände wie im ›Dritten Reich‹ befürchten muss.«

Ich setzte Marc über die geplante Vorgehensweise des Präsidenten in Kenntnis. Ich erzählte ihm, wie ich per Zufall auf das Geheimpapier in Petes Computer gestoßen war. Ich erzählte ihm alles, was ich noch im Gedächtnis hatte und fügte hinzu, dass das geheime Politikertreffen geplant sei, um für diese Maßnahmen Verbündete zu finden.

»Damit kommen sie nicht durch. Das ist unmöglich«, wandte Marc entsetzt ein.

»Du hast keine Ahnung, Marc«, widersprach Katya, »Was glaubst du, was in diesem Land alles läuft, wovon die Bevölkerung keine Ahnung hat? Wir sind das beste Beispiel. Außerdem: Scheiß auf die Bevölkerung! Die interessiert das doch gar nicht. Wie es dazu kommt, dass keine Züge mehr in die Luft gejagt werden, ist denen schnuppe. Genauso wie ihnen schnuppe ist, warum die Züge in die Luft gejagt werden. Du glaubst an das Vorhandensein von politischem Bewusstsein bei der breiten Masse? Okay, einige retten den Wald, andere die Wale. Wunderbar! Aber die meisten wollen ihre Ruhe.«

Ich gab Katya recht. »Selbst wenn sie das Programm der Öffentlichkeit vorstellen, was dann? Ein Aufschrei der Massen? Mitnichten. Ein paar Intellektuelle würden den warnenden Zeigefinger erheben. Ein paar Bürgerinitiativen würden Sitzstreiks veranstalten, Lichterketten bilden und für den Frieden auf Erden töpfern. Das einzig Effektive aber, was man mit einer Veröffentlichung der Pläne erreichen würde, wäre eine Warnung der Terroristen und anderer durch das Programm bedrohter Randgruppen. Und deswegen werden diese Operationen geheim gehalten. Mein Gott, Marc. Du warst bei der Stadtguerilla. Du kannst so naiv gar nicht sein, sonst wärst du da nicht gelandet, oder?«

»Vielleicht gerade deswegen«, meinte Marc bitter. »Was ihr da sagt, klingt fast nach Conrad, dem Boss der Guerilla. Ihr habt keine Ahnung, wie oft ich diese Schwanengesänge über die politische Landschaft und die Mündigkeit des Bürgers schon gehört und auch selbst angestimmt habe. Es ist schon fast komisch, dass rechte wie selbst ernannte linke Lager die gleichen Argumente benutzen, um ihre widersprüchlichen Ziele durchzusetzen. Aber vielleicht sind sie letztlich gar nicht so widersprüchlich. Es geht immer nur um Macht.«

Marc wirkte müde. Wie ein alter Mann. Er starrte ins Leere. Katya wollte etwas entgegnen, doch ich hielt sie mit einem Blick davon ab. Schließlich räusperte sich Marc und sah uns an. »Ich habe es satt. So satt. Ich will nur weg hier. Weit weg. Aber nicht ohne Ev. Also. Was habt ihr vor?«