7. Die Rekrutierung

Harry Zimbarsky, 52, Sonderbeauftragter Headhunter

Am nächsten Morgen, kurz vor neun Uhr, wurden die Gefängnistore in Seattle für mich geöffnet. Die Aktentasche, die ich in der Hand trug, deutete für einige der Gefängnisangestellten auf einen Anwalt hin, doch dafür war ich viel zu gut gekleidet. Ich wollte etwas verkaufen. Es war die Freiheit, mit der ich Handel trieb, zumindest ein verlogener Zipfel davon. Ich lebte sehr gut davon.

Nachdem ich den gut gesicherten Innenhof überquert und meine Personalien in der Anmeldung angegeben hatte, ging ich hinter dem Verwaltungsangestellten die langen Flure entlang. Ich mochte Gefängnisse nicht, meine Besuche vor Ort waren der unangenehme Teil dieses lukrativen Jobs. Ich war ein Headhunter, der aufgrund seiner psychologischen Ausbildung, seiner Überzeugungskraft und Zuverlässigkeit gelegentlich von der Regierung mit heiklen Aufträgen betraut wurde. Außer mir gab es nur noch einen anderen, den dämlichen Steve Harsley, dem dieses Privileg erteilt worden war. Steve lief jetzt durch die Flure des Gefängnisses in Dallas – mit dem gleichen Auftrag wie ich hier.

Ich brummte unwillig in mich hinein. Ich hasse die Geräusche und Gerüche in Gefängnissen. Der Dunst von Kohl, der durch die Gänge wabert, das Hallen der Schritte, das Scheppern der Metalltüren, das Klappern der Schlüssel – alles kalt, unpersönlich, stillos. Ich lege großen Wert auf Stil, was ich nicht nur durch meine Kleidung ausdrücke. Meine Aktentasche ist aus feinstem Krokodilleder, ebenso wie meine Schuhe. Das Haar lasse ich stets in einem satten Kastanienbraun färben, wobei mein Friseur darauf achten muss, das Graumelierte nicht komplett zu überdecken. Das Graumelierte verleiht mir etwas Distinguiertes.

Als ich im Büro des Gefängnisdirektors ankam, begrüßte ich diesen höflich, setzte mich erst hin, nachdem ich dazu aufgefordert worden war, und nahm ein Dokument aus meinem Aktenkoffer, das ich dem Direktor überreichte. Er las stirnrunzelnd und sagte dann: »Sie sind wegen Evelyn Karner hier. Das wurde mir telefonisch mitgeteilt. Aber wie soll ich verstehen, dass Sie sie möglicherweise mitnehmen?«

»Dem Schreiben können Sie unschwer entnehmen, dass ich Ihnen keinerlei weitergehende Fragen beantworten darf«, entgegnete ich mit einem Hauch von Überlegenheit in meiner sonoren Stimme. »Außerdem möchte ich Sie bitten, mir für die Unterredung mit Miss Karner Ihr Büro zu überlassen, da ich die Erfahrung gemacht habe, dass die in den Besuchsräumen übliche Atmosphäre meinem Anliegen nicht förderlich ist. Es wird etwa eine Stunde dauern. Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie Miss Karner gleich rufen lassen.«

Nur mühsam schluckte der Direktor die Beleidigung, aus seinem eigenen Büro verbannt zu werden, und stapfte hinaus. Ich machte es mir bequem. Zufrieden betrachtete ich meine perfekt manikürten Fingernägel. Ich wusste, dass man mich warten lassen würde. Das machten sie immer.

Es dauerte länger als eine halbe Stunde, bis Evelyn Karner erschien. Sie war ein kleines, zierliches, hellblondes Ding, das in den Gefängnisklamotten wie eine verkleidete Zwölfjährige wirkte. Wog nicht mehr als ein Light-Joghurt. Eine Haut wie hauchdünnes, milchweißes Porzellan. Blassblaue Augen, misstrauisch, aber auch voller Sehnsucht. Ein Vögelchen mit gebrochenen Flügeln. Reizend. Am liebsten hätte ich ihr ein hübsches Federkleid übergezogen und sie in eine Vitrine gestellt.

Sie war erstaunt, statt des Direktors einen Fremden vorzufinden. Wortlos setzte sie sich auf den zweiten Sessel und schaute mich erwartungsvoll an.

»Guten Morgen, Miss Karner«, begann ich mit einem offenen Lächeln, reichte ihr die Hand und setzte mich ihr gegenüber. »Über die Inhalte der Unterredung, die wir jetzt führen werden, weiß weder der Gefängnisdirektor noch sonst jemand in diesen Mauern Bescheid. Der Direktor weiß lediglich, dass ich im Auftrag der Regierung handele und alle Befugnisse habe, auch die, Ihre Entlassungspapiere unterschreiben zu lassen und Sie sofort mitzunehmen. Was dem Direktor überhaupt nicht in den Kram passen würde«, fügte ich lächelnd hinzu und reichte Evelyn das Schreiben, das ich auch dem Direktor vorgelegt hatte. Wenn die Damen auf diese plumpe Vertraulichkeit hereinfallen und zurücklächeln, habe ich sie schon im Sack. Die meisten jedoch warten erst einmal ab. Auch Evelyn schaute mich nur misstrauisch an, nachdem sie den wenig aussagekräftigen Wisch überflogen hatte. »Was soll das? Wer sind Sie?«

»Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen meine weitreichenden Befugnisse unglaubwürdig erscheinen. Ich möchte Ihnen ein Angebot unterbreiten. Sie sind aus einer Reihe von Frauen ausgewählt worden, an einem speziellen Regierungsprogramm teilzunehmen. Das würde für Sie bedeuten, dass Sie sofort hier rauskommen, unter völligem Straferlass. Die Sache hat natürlich einen Haken: Sie würden die nächsten sieben Jahre, vielleicht auch nur fünf oder sechs, in einem wenig komfortablen Ausbildungslager mit anderen Frauen verbringen, würden also noch keine allzu großen Freiheiten genießen können. Aber Sie hätten es besser als hier – vor allem mit der Aussicht, nach dieser Ausbildung in ein ganz normales, selbstbestimmtes Leben mit neuen Papieren entlassen zu werden. Wie klingt das für Sie?«

Auch mit dieser Vorrede hatte ich üblicherweise noch keinen Sieg in der Tasche. Sie wurden nur aufmerksam. Ich pflegte meinen Kundinnen Zeit zum Atmen zu lassen und Zeit zum Widerstand, denn Widerstand, das hatte ich längst begriffen, gehörte in den meisten Fällen zum innersten Wesen dieser Frauen. Man muss psychologisches Fingerspitzengefühl beweisen, Krokodillederschuhe sind nicht alles.

»Nach einem großen Beschiss klingt das. Was für ein Regierungsauftrag? In was werde ich ausgebildet? Wieso so lange? Und vor allen Dingen, wieso gerade ich?« Evelyn hatte als Zeichen deutlicher Abwehrhaltung die Arme verschränkt und die Beine übereinandergeschlagen. Doch meine professionelle Erfahrung sagte mir, dass sie aufgeregt, also interessiert war.

Ich nickte ihr zu. »Erst einmal zu Ihrer letzten Frage: Sie sind ausgewählt worden, weil alle Eckdaten stimmen. Hochsensibel, hochintelligent, jung, gesund und durch Ihre relativ kurze Inhaftierung psychisch noch nicht völlig kaputt. Verzeihen Sie, wenn ich so direkt bin.«

»Soll ich Leihmutter für die First Lady spielen oder was?«, kommentierte die Kleine meine Ausführungen gereizt. Die Porzellanprinzessin hatte im Gefängnis gelernt, dass ein frontaler Angriff häufig klüger war als gelassenes Abwarten ohne Deckung. Aber ich nahm ihr die abgefuckte Nummer nicht ab.

Ich lachte. »Um Himmels willen, nein. Sie werden ausgebildet als eine Art Bodyguard für hohe Regierungsmitglieder. Glauben Sie mir, es ist nichts Illegales dabei.«

»Wieso nehmen Sie dann mich? Ich stehe erwiesenermaßen auf der anderen Seite. Wieso werden für solche Posten keine Leute gesucht, denen man trauen kann? Das kann man mir nicht, sonst wäre ich nicht hier. Oder brauchen Sie Killer? Dann sind Sie bei mir falsch, auch wenn Sie gegenteilige Informationen haben.«

»Sie sollen nicht töten. Der Haken bei der Geschichte ist, ich sage es Ihnen offen, dass Ihre Ausbildung von einer medizinischen Behandlung begleitet wird. Aufgrund von biologischen Umständen, die ich Ihnen nicht näher erläutern kann – das übersteigt meine Kenntnisse –, werden Frauen bevorzugt. Und da diese Behandlung leider einige wenige Nebenwirkungen hat, werden Frauen aus Gefängnissen rekrutiert, die bereit sind, für ihre Freiheit das eine oder andere Risiko einzugehen.«

Evelyn war hellhörig geworden bei den letzten Sätzen.

»Ich darf Ihnen nicht alle Details offenlegen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass es sich nicht um ein zweifelhaftes Experiment handelt. Die Geschichte läuft schon lange und erfolgreich. Die Nebenwirkungen beschränken sich zu der Zeit auf Übelkeit, Erbrechen, Kreislaufstörungen und Fieberanfälle. Das ist individuell unterschiedlich, aber mehr ist keinesfalls zu erwarten. Sie sollen ähnlich wie bei einer Schwangerschaft sein, nicht schlimmer. Wägen Sie Vor- und Nachteile ab: Entweder Sie sitzen Ihre lebenslängliche Haftstrafe ab, siechen hier vor sich hin. Das war›s dann. Auf der anderen Seite steht die sofortige Entlassung. Sie gehen heute noch mit mir durchs Tor. Ich bringe Sie zu einem Agenten, der Sie ins Ausbildungszentrum begleiten wird. Dort treffen Sie Ihre künftigen Kolleginnen. Ich mache diesen Job seit Jahren. Bisher habe ich neun Frauen aus Gefängnissen geholt, und keine hat es bislang bereut.«

»Da sind noch andere?«, fragte Evelyn grübelnd.

Sie hatte angebissen, das war mir in dieser Sekunde klar.

»Einige gehören schon sehr lange zum Programm. Es geht ihnen prächtig. Diese Frauen würden Sie ausbilden. Außerdem sind da eine Psychologin und ein berühmter Professor, ein sehr liebenswerter alter Herr, der für die medizinische Seite zuständig ist und sich wirklich rührend um Sie sorgt.«

Ich wusste, dass ich sie in der Tasche hatte und sie nun eine weitere Kröte schlucken würde. »Nachteil in diesem Zentrum ist, dass Sie die ersten Jahre unter Bewachung stehen. Aber wir haben nur gute Erfahrungen gemacht, die Frauen fühlen sich wohl. Die Aussicht auf Freiheit lässt sie diese mageren Jahre überstehen. Außerdem ist es hundertmal besser als im Gefängnis. Sie wohnen alle zusammen in einem Haus, mit gemeinsamem Wohnzimmer, hübschen Badezimmern …«

»Gibt es eine Bibliothek?«, fragte Evelyn.

»Wir können Ihnen besorgen, was Sie wollen«, gab ich lächelnd zurück. Nach einer Bibliothek hatte bislang nur eine gefragt, Lucy. »Aber viel wichtiger ist, dass Sie nach einigen Jahren in einer größeren Stadt eine Wohnung und eine neue Identität bekommen. Dann können Sie ganz normal leben. Wie andere Frauen in Ihrem beneidenswerten Alter auch. Nur gelegentlich werden Sie angerufen, um Ihre neu gewonnenen Fähigkeiten in den Dienst der Regierung zu stellen. Dabei handelt es sich ausschließlich um passive Terroristenbekämpfung. Aber haben Sie keine Angst, Sie werden niemals gefährdet sein. Sie arbeiten als Frühwarnsystem, dafür ist die medizinische Behandlung notwendig.«

Ich geriet etwas ins Plaudern. Da ich inzwischen sicher war, dass Evelyn mitmachen würde, konnte ich etwas großzügiger mit den Informationen herausrücken: »Deswegen nur Frauen, und zwar Frauen mit hohem IQ und EQ. Männer sind zu unsensibel als Frühwarnsystem, können die Zeichen nicht deuten. Die medizinische Behandlung verstärkt lediglich die offensichtlich spezifisch weibliche Fähigkeit, Stimmungen, leise Vorahnungen und Ähnliches zu entziffern. Das würde Ihnen aber alles der Professor im Ausbildungszentrum erklären.«

»Was ist mit meinen Eltern?«

Diese Frage brachte mich kurz aus der Fassung. Bislang waren ausschließlich Frauen rekrutiert worden, die keine direkten Verwandten mehr hatten. Offensichtlich hätte ich die Akte genauer lesen sollen. Aber schließlich war ich Profi, also verlegte ich mich aufs Improvisieren. »Sie können Ihnen schreiben, sooft Sie wollen. Allerdings müssen Sie Stillschweigen bewahren über die Einzelheiten des Projekts. Deswegen werden die Briefe kontrolliert, eine hoffentlich verständliche Maßnahme.«

»Wie im Knast.« Evelyn war enttäuscht.

»Nicht ganz. In einigen Jahren können Sie Ihre Eltern zu sich nach Hause einladen oder sie besuchen. Vielleicht auch mal mit ihnen in den Urlaub fahren. Das sind Perspektiven, die Ihnen ansonsten völlig verschlossen bleiben würden.«

Evelyn zögerte. Sie wusste, dass das nicht alles sein konnte. Aber sie spürte auch, dass sie von mir nicht mehr erfahren würde. Ich hatte genug geplaudert und schob mein Anschreiben in meinen Aktenkoffer zurück. Jetzt war es an ihr.

»Wie lange habe ich Zeit, mir Ihr Angebot durch den Kopf gehen zu lassen?«

»Zehn Minuten. Schätze, der Direktor will wieder in sein Büro.«

»Was passiert, wenn ich Nein sage?«

»Sie bleiben hier, das ist alles. Ich verpflichte Sie zum Schweigen über unsere Unterredung. Falls Sie doch etwas verlautbaren, schätze ich, wird man Mittel und Wege finden, Sie einzuschüchtern. Tut mir leid, das klingt wie eine Drohung, aber mit diesem Part habe ich nichts zu tun. Ich bin lediglich hier, Sie von dem Angebot zu überzeugen, und glauben Sie mir, ich wäre froh, wenn Sie es annähmen.«

»Sie bekommen wohl Provision?«

Ich grinste freundlich. »Ja. Aber da ist noch eine andere Sache. Wenn Sie ablehnen, muss ich weiterreisen. Im gesamten Land wurden nur acht Frauen ausgewählt, denen das Angebot unterbreitet wird. Ist Ihnen klar, dass Sie einen sehr hohen Intelligenzquotienten besitzen und Ihr Emotionaler Quotient wirklich den Rahmen des Üblichen sprengt? Sie sind etwas Besonderes. Bitte, zwingen Sie mich nicht, zu den beiden Reservefrauen fahren zu müssen. Die eine sitzt in New Orleans, die andere in San Diego! Tun Sie mir das nicht an, ich will endlich nach Hause!« Ich schaute die Kleine so flehentlich an, dass sie lächeln musste.

»Würden wir wirklich sofort von hier verschwinden?«

»Sofort! Wenn der Direktor zurückkommt, lasse ich Ihre Entlassungspapiere unterschreiben. Das war’s. Oder wollen Sie sich noch von jemandem verabschieden? Das wäre wegen der Geheimhaltung etwas heikel.«

Evelyn überlegte kurz. »Kann ich für die Bibliothekarin eine Nachricht hinterlassen?«

»Ich muss sie aber kontrollieren.« Ich reichte Evelyn einen Stift und ein Stück Papier. Als sie mir den Zettel zurückgab, las ich: Liebe Anna, ich werde ›Erniedrigte und Beleidigte‹ hoffentlich nicht mehr brauchen. Trotzdem vielen Dank. Für alles. Ev.

Während der Direktor übellaunig die Entlassungspapiere unterschrieb, warf ich Evelyns Zettel unbemerkt in den Papierkorb. Wie blöd war die Kleine?