38. Silvester

Lucy, 43, Sensor Stufe 10

Katya, Erykah und ich drängelten uns vor dem großen Spiegel im Flur.

»Lass mich auch mal, Mensch«, beschwerte sich Katya und schubste Erykah mit einem kessen Hüftschwung beiseite, die auf ihren hochhackigen Pumps ins Stolpern geriet und gegen die Garderobe krachte.

»Oh Gott, meine Frisur, du ruinierst meine Frisur!«, schrie Erykah in gespieltem Entsetzen auf. Wir lachten, denn Erykahs raspelkurzer Haarschnitt war mit keiner noch so intensiven Maßnahme zu derangieren.

Ich sah mein Spiegelbild an. Die schöne Frau mit dem Lächeln erschien mir fremd. Das Lächeln um den Lippen passte nicht zu den Augen, die hinter der schimmernden Oberfläche endlos düstere Abgründe ahnen ließen. Was für ein seltsames Phänomen, schoss mir durch den Kopf, dass sich Menschen umso amüsiersüchtiger gebärden, je düsterer es unter der gesellschaftlichen Glocke wird, in der sie um Atem ringen. Nie waren die Bars so überfüllt gewesen wie zu Zeiten der ersten Weltwirtschaftskrise und der Prohibition, nie waren so viele Kinokarten verkauft worden wie während des Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit. Was gab es Besseres als einfältige Revuefilmchen mit makellos lächelnden Hollywoodgöttinnen, um die Schrecken der mit Leichen übersäten Schützengräben zu verdrängen? Eine althergebrachte Therapie gegen das posttraumatische Stresssyndrom. Nach dem großen Anschlag, der das amerikanische ›Wir sind die Größten‹-Selbstwertgefühl viel schlimmer als Vietnam erschüttert hatte, wiederbelebte sich die Bevölkerung in einem trotzigen Taumel aggressiver Behauptung und rüstete den Mut zum Weitermachen auf. Sie erwachte einige militärisch geführte Auseinandersetzungen später mit einem nationalen Kater, der scheinbar dazu berechtigte, zuerst einmal die eigenen Wunden zu lecken und verbittert den Rückzug von der globalen Verantwortung zu fordern, die wir im letzten Jahrhundert ungefragt übernommen hatten. Um bei jedem wirtschaftlich oder politisch unliebsamen Vorkommnis im Ausland dann doch wieder großspurig in alter, selbstbewusster Pioniermanier mit der Faust auf die Theke zu schlagen, um unsere Vormachtstellung zu unterstreichen und noch eine Runde ›Weltpolizei‹ zu spielen. Einen Grund, die Ohnmacht mit lautem Horrido zu überschreien, fand man allemal und jederzeit. Wir auch.

Es ging auf den Silvesterabend zu. Obwohl wir dem Jahreswechsel keine allzu große Bedeutung beimaßen – es war nur einer von vielen, und auch dieser würde uns keineswegs la vie en rose bringen –, freuten wir uns fast kindisch auf die Party. Katya und ich führten genau wie Erykah in San Francisco ein abwechslungsreiches Leben, verglichen mit der Ödnis, die unsere Kolleginnen im Lager zu ertragen hatten. Doch ein geselliges Beisammensein mit mehr als zwei, drei Menschen war auch für uns eine Ausnahme. Die Erfordernis strikter Geheimhaltung unserer Existenz, das unbestreitbare Gefühl, trotz aller augenscheinlichen Normalität dennoch nur irgendwas zwischen Mensch und Monster zu sein, und nicht zuletzt das ungewollte Eindringen, die zum Teil brutalen Einblicke in das intime Leben Fremder, die uns stets bestürmten, wenn wir ein Bad in der Menge nahmen, hatten dazu geführt, uns von der Außenwelt abzuschotten. Hin und wieder ein Restaurantbesuch war das Höchste, was wir uns neben dem Einkaufen gestatteten. Dass wir jetzt eine Party feiern konnten, ohne uns verstellen oder verstecken zu müssen, ein Fest unter unseresgleichen, nur Ratten und Schatten und sonstige am Projekt Beteiligte, das war eine angenehme Abwechslung. Katya hatte sich zwar in einem Anfall von Melancholie und Moral den ganzen Tag gesträubt mitzugehen: Sie sei nicht in Stimmung, war wieder die ganze Nacht und den halben Morgen von albtraumhaften Visionen gequält worden und fand es unpassend, sich in dieser Situation und bei unseren Plänen aufzuführen wie drei alte Fregatten, die zum Bingoabend gingen. Doch Erykah und ich hatten ihr die schmerzhaft schöne CD von einem litauischen Pentatonik-Geiger aus dem Player gezogen, eine aggressive alte Rap-Scheibe eingelegt, die Freundin aus der Sofaecke gelockt, sie mit unserer guten Laune angesteckt und letztlich von dem Recht auf ein wenig Spaß überzeugt, so wie wir uns selbst überzeugt hatten.

Ich hatte trotz allem gute Laune, weil ich nach Tagen endlich Pete wiedersehen würde. Erykah ließ sich sowieso nicht aus der Fassung bringen, von nichts und niemandem, also fragte sich denn auch Katya: Warum nicht, verdammter Mist? Vielleicht war es das letzte Silvester, das wir zusammen verbrachten.

Kurz darauf standen wir im Hotelfoyer und erfreuten uns an dem Erfolg, den unser Auftritt erzielte. Erykah ließ mit einer perfekt divenhaften Affektiertheit direkt hinter der Eingangstür ihren Mantel von den Schultern zu Boden gleiten und rückte ihren Gazellenleib, der in dem elfenbeinfarbenen, mit Spaghettiträgern und tiefem Rückenausschnitt versehenen Catsuit hervorragend zur Geltung kam, unter einem Spot ins rechte Licht. Sofort verstummte das Gespräch an der Bar in der Lobby, wo sich mehrere Schatten ganz nach Dienstvorschrift an ihren alkoholfreien Getränken festhielten. Erykah schritt, ohne ihren am Boden liegenden Mantel und ihre zumindest geistig zu Boden gegangenen Bewunderer eines Blickes zu würdigen, zur Sitzecke vor dem Tresen, wo sich Butterfly, Tina und die anderen versammelt hatten. Katya wollte kopfschüttelnd den Mantel aufheben, doch einer der Jungs von der Bar kam ihr mit langen Schritten und gierigen Fingern zuvor, nahm ihn an sich und presste seine Nase hinein, als wäre er ein Erstickender, dem man soeben die Sauerstoffmaske gereicht hatte.

»Der Ärmste, hoffentlich hat Erykah kein Messer dabei«, flüsterte Katya mir grinsend zu. Ich entdeckte Pete in einer Ecke mit Schmelzer und ging auf die beiden zu. Ich küsste Schmelzer auf beide Wangen und schenkte Pete, der meine Hand kurz drückte, einen tiefen Blick. Wir vermieden es, unsere Beziehung zur Schau zu stellen. Es wussten eh schon zu viele Leute davon.

Katya gesellte sich zu den anderen Frauen auf den Warp-Sesseln. Den nächsten bemerkenswerten Auftritt hatte sich Ann gesichert. Wie immer in Springerstiefeln, vernarbter Lederhose, einem löchrigen T-Shirt und drei Kilo Make-up im Gesicht, welches heute Abend zusätzlich noch von langen, aufgemalten Schnurrhaaren geziert wurde, kam Ann die Treppe heruntergepoltert. Selbstbewusst trat sie auf ihre Kolleginnen zu, fiepte zweimal, wirbelte mit großem Schwung das lange Seil, das ihr hinten aus der Hose hing, nahm es in die Hand und ließ sich in einen Sessel fallen. Die anderen blickten sie entgeistert an.

»Was glotzt ihr so blöde?«, lachte Ann. »Schon klar, das ist kein Kostümfest. Aber weil wir unter uns sind, dachte ich, können wir ruhig einmal unser wahres Gesicht zeigen.«

Butterfly reagierte genervt: »Was soll der Blödsinn?«

»Die aus Asien stammende Ratte, die sich aufgrund ihrer enormen Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit schon vor Urzeiten über die ganze Welt ausbreitete, kann in zwei Gruppen eingeteilt werden: die Haus- oder Dachratte und die Wanderratte. Bei unserer eingeschränkten Bewegungsfreiheit gehören wir wohl kaum zu letzterer Gruppe. Die Haus- oder Dachratte wird 22–30 cm lang und kann hervorragend springen und klettern. Ihr Schwanz ist noch länger als ihr Körper. Da ich ganze 1,70 m groß bin, entschied ich mich für einen 1,80 m langen Schwanz. Hast du damit Probleme, Butterfly?«

»Du bist und bleibst eine dämliche Punkschnepfe«, spuckte Butterfly aus.

»Und du ein zu selten gefickter Fettfleck«, giftete Ann zurück.

Katya ging dazwischen: »Scheint ein gemütlicher Abend zu werden. Ich finde übrigens, dass dir die Schnurrhaare gut stehen, Ann. Dir deine auch, Butterfly.« Damit hatte Katya die Lacher auf ihrer Seite und Butterfly, deren natürlicher Oberlippenflaum nicht zu leugnen war, in ihre Schranken verwiesen.

Captain Kirk bat uns freundlich ins Casino. Dort war ein kleines, aber feines Büfett aufgebaut, die Bar noch besser bestückt als in der Lobby, und aus vier Lautsprechern ertönten leise Sphärenklänge. Von der Decke hingen Planeten, glitzernd wie Discokugeln, jede Menge Sterne und kleine Raumschiffflotten.

Eine Stunde nach dem Essen begann das Stimmungsbarometer langsam, aber sicher nach oben zu klettern. Ich saß mit Pete und Schmelzer in einer Ecke und unterhielt mich angeregt, Ann erzählte an der Bar einem von Walcotts Leuten zweideutige Witze und spielte dabei kokett mit ihrem Schwanz. Neben ihr hielt Erykah Hof wie die Königin von Saba. Sie hatte drei Schatten um sich versammelt, parlierte ungezwungen, während die Männer an ihren Lippen hingen, und ließ dabei eine der Enterprise-Kellnerinnen nicht aus den Augen. Katya tanzte allein vor sich hin. Ev, Jessica und Tina sangen lauthals den gerade laufenden Gassenhauer aus den Popcharts mit und schwangen dabei kräftig die Hüften. Butterfly hatte ihr ganzes Gewicht auf dem Schoß eines nicht minder kräftig gebauten Schatten niedergelassen und flirtete und fummelte unverhohlen. Nur Isabel hielt sich gewohnheitsmäßig abseits, ging gelegentlich zur Theke, um Getränkenachschub zu holen.

Um Mitternacht erlosch das Licht im Saal. Ein lauter Tusch ertönte, die Mediawand flammte auf und übertrug das Feuerwerk, das den Washingtoner Himmel erhellte. Mehrere Kellner in Raumschiff-Livree traten ein. Sie boten Champagnergläser an, die mit einer im Dämmerlicht grün leuchtenden und perlenden Flüssigkeit gefüllt waren, und reichten brennende Wunderkerzen herum. Die, die sich danach fühlten, fielen sich in die Arme und wünschten sich ein gutes neues Jahr. Andere, vornehmlich die Männer Walcotts untereinander, drückten sich die Hand oder klopften sich gegenseitig auf die Schultern.

Pete zog mich in eine dunkle Ecke und küsste mich innig. Als er mich wieder freigab, fragte ich ihn leise: »Pete, wenn alles anders wäre, wenn ich frei wäre, würdest du dann mit mir von hier weggehen?«

Er schaute mir in die Augen. »Bis ans Ende der Welt.«

Ich blickte ihn ernsthaft an, dann lachte ich, dann lachte er, und wir wandten uns herum, um Katya zu suchen und zu küssen. Als ich Katya ausreichend abgeknutscht hatte, drängte sich Ev zwischen uns. Ihre Augen glänzten, sie war schrecklich aufgeregt. »Der Professor hat mir gerade eine Neujahrsüberraschung bereitet! Ich darf noch ein, zwei Wochen hierbleiben und euch auf einen Kongress begleiten, damit ich etwas lerne! Ist das nicht toll, ich darf hierbleiben! Ach, ich bin schrecklich glücklich …« Sie drehte sich angeschwipst um die eigene Achse und fing trällernd und selbstvergessen zu tanzen an.

Katya und ich schauten uns an und steuerten wie verabredet auf Schmelzer zu. Der schien schon auf uns zu warten und lachte verschmitzt. »Ich habe heute Morgen mit March gesprochen. Die Sache geht klar. Ganz in eurem Sinne. Ich konnte einfach nicht an mich halten, musste es der Kleinen heute Nacht sagen. Schaut mal, wie sie sich freut …«

»Haben Sie ihr auch gesagt, dass sie vorerst noch den Mund darüber halten soll?«, fragte ich.

»Nein, wieso?«

»Wenn die anderen das hören, Ann und Jessica beispielsweise, werden sie sich fragen, wieso Ev bleiben darf. Und sie nicht«, kommentierte Katya.

Schmelzer betrachtete uns prüfend. »Das ist allerdings eine gute Frage. Die ist March auch schon gekommen.«

Ich versuchte, das heikle Thema herunterzuspielen. Wie blöd von Katya, den Finger draufzulegen. »Das haben wir Ihnen doch erklärt, Professor. Sie haben selbst gesagt, dass Ev überdurchschnittlich begabt ist. Es liegt im Interesse des Projekts, wenn wir eine Null gleich von Beginn an perfekt schulen. Aber heute Abend könnte das durchaus zu Eifersüchteleien führen. Wir sollten Ev einen vorläufigen Maulkorb verpassen.«

Ich zog Katya vom Professor weg, der uns nachdenklich hinterherschaute. Wir pflückten Ev von der Tanzfläche und erklärten ihr in kurzen Sätzen, warum sie erst einmal die Klappe halten sollte. Ev verstand sofort. Doch schon zwei Sekunden später grinste sie wieder breit und tanzte weiter.

Gegen vier Uhr morgens passierte es dann. Alle hatten ausreichend getankt, die Hemmschwellen lagen am Boden. Isabel und Schmelzer waren die Einzigen, die sich schon abgemeldet hatten, während Butterfly nach einer Schnellnummer mit dem Hünen von ihrem Zimmer zurückgekommen war. Allerdings schien der Sex unbefriedigend gewesen zu sein, denn kaum erschien sie wieder an der Bar, begann sie einen heftigen und lautstarken Wortwechsel mit Ann. Alle drehten sich nach den beiden um. Erykah zuckte nur kurz mit den Schultern und flirtete weiter mit der Kellnerin. Tina und Jessica unterbrachen ihre Unterhaltung und starrten zu Ann und Butterfly. »Mist, da hat sich Butterfly die Falsche ausgesucht«, fluchte Tina und stand auf, um einzugreifen.

Doch Katya und ich gelangten schon vor Tina bei den beiden an.

»Wenn du noch ein einziges Mal heute Abend dein Maul aufmachst, brenne ich dir ein Loch in deinen fetten Pelz«, zischte Ann gerade. In der Hand hielt sie eine Pistole, die sie auf Butterflys Bauch richtete und gekonnt entsicherte. Neben ihr stand einer von Walcotts Männern, der völlig verblüfft auf sein wie durch ein Wunder leeres Schulterhalfter blickte.

»Ganz ruhig, Ann, bau jetzt keine Scheiße«, sagte ich leise. »Gib die Knarre zurück, hörst du?«

Ann schaute mich nicht einmal an. Sie hatte Butterflys Augen fixiert und wartete nur darauf, dass die ein einziges Wort sagte. Auch Butterfly war plötzlich klar geworden, dass Ann nicht scherzte. Sie trat vorsichtig einen Schritt zurück und wandte sich zu mir, vor allem um Anns Konzentration abzulenken. Ann ließ tatsächlich die Pistole sinken, ihr Schatten griff blitzschnell zu und entriss sie ihr. Er packte Ann eisenhart am Arm, doch sie schien es gar nicht zu spüren. Sie schaute immer noch hasserfüllt auf Butterfly. Die fühlte sich nun wieder sicher und zickte zur Abwechslung mich an.

»Was mischst du dich überall ein, Lucy? Du hältst dich schon lange für unsere Chefin! Weil du eine Zehn bist? Oder bist du einfach was Besseres? Die Intellektuelle in unserem Dreckshaufen, was? Du blöde Pissnelke! Weißt du eigentlich, dass dieser Secret-Service-Scheißhaufen, mit dem du ins Bett steigst, dass der auch Ev vögelt? Will sicher mal was Frisches in der Hand haben und nicht so ’ne abgetakelte Titte wie dich. Deswegen darf sie auch hierbleiben und muss nicht ins Lager zurück wie die anderen Dummchen hier!«

Jessica und Tina blickten sich fragend an, dann schauten sie zu mir. Ich behielt nur mit Mühe die Kontrolle. Auch Ann hatte sich bei den letzten Worten Butterflys zu mir umgedreht. Ich gab Butterfly eine krachende Ohrfeige. Mein Schlag hatte eine solche Wucht, dass Butterflys Kopf auf die andere Seite flog und sie mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Theke donnerte. Butterfly gab ein ächzendes Geräusch von sich.

»Was ist denn hier los?«, fragte Pete, der gerade von der Toilette zurückkam.

»Das möchte ich auch gerne wissen«, fügte Ann hinzu und schaute mit stechendem Blick auf Evelyn, die inzwischen wie alle anderen um die Gruppe herumstand.

Katya fixierte Pete. »Du fährst Lucy nach Hause, und ich«, und damit wandte sie sich zu den umstehenden Frauen, »kläre hier die Situation.«

Sie schob mich von der Theke weg zu Pete hin. Der schaute Katya fragend an, begriff aber nach einem eindringlichen, ungeduldig auffordernden Nicken von ihr, dass es das Beste sei, ihrem Rat zu folgen. Er legte den Arm um meine Taille und führte mich hinaus zum Wagen. Ich hoffte, dass Katya die Wogen glätten konnte, ohne dass jemand Verdacht schöpfte.