4. Regennacht

Lucy, 43, Sensor Stufe 10

Mir ging es elend. Ich stand am Fenster unserer Altbauwohnung im Washingtoner Stadtteil Burleith und blickte auf den Augustregen. Dicke Tropfen schlugen an die Scheibe, verharrten kurz und liefen in Schlieren nach unten. Ich konzentrierte mich auf die Monotonie des trommelnden Geräuschs, mit dem der Regen gegen das Glas prasselte, betrachtete die Tropfen und ließ die Stadt auf der anderen Seite der Scheibe in der Unschärfe. Der Anblick von Washington, den ich oft, vornehmlich nachts, von unserem hoch gelegenen Apartment genoss, interessierte mich nicht. Mir war übel, schon zum dritten Mal in dieser Woche. Ich legte die rechte Hand flach auf die obere Bauchdecke und atmete tief und ruhig ein und aus. Die Übelkeit war nicht sonderlich heftig, aber umso besorgniserregender, als ich den Grund dafür nicht kannte. Das Gefühl hingegen war mir vertraut. Es war genau die Art von Unwohlsein, die einen leichten Alarm, eine minderschwere oder noch nicht allzu nahe Bedrohung kennzeichnete. Doch ich hatte diese Woche noch keinen einzigen Job gemacht. Außerdem war ich eine Zehn. Nach zehn Jahren Erfahrung kann eine Ratte sowohl ihre biologischen als auch psychischen Reaktionen so gut kontrollieren, dass ein Alarm, egal, welchen Ausmaßes, keine langen Nachwirkungen mehr zeigt. Seit drei Jahren bekam ich kein C15 mehr injiziert, zumindest mein hormoneller Zustand war stabil. Es musste also einen anderen Grund für diese Übelkeit geben.

Die Nacht brach an. Je dunkler es draußen wurde, desto deutlicher spiegelte ich mich in der Fensterscheibe. Der Regen auf der Außenseite des Glases wirkte wie ein Weichzeichner, der meine herben Gesichtszüge scheinbar entspannte. Ich legte mich auf den Diwan aus rotem Saffianleder, den ich in den Neunzigern einem alten Russen abgekauft hatte. Die Wohnung, die ich mit Katya teilte, war üppig, wenn nicht überladen ausgestattet. Nicht die kleinste freie Ecke, keine Spur von Designerartefakten. In Katyas und meinem Stileklektizismus drückte sich eine nostalgische Sehnsucht nach dem vergangenen, von uns in seiner Vielfältigkeit der Ereignisse und Unterschiedlichkeit der Menschen glorifizierten Jahrhundert aus. Da gab es mehr Bücher im Regal als Blu-Rays, mehr Holz als Glas und Chrom, mehr Kissen als nötig, mehr kreatives Durcheinander als klare Überschaubarkeit. Sicher hatte die jahrelange Entbehrung jeglichen Überflusses im Gefängnis und im Ausbildungslager wesentlich zu unserem wohnlichen Chaos beigetragen.

Wehrlos gegen meine Melancholie, ließ ich mich in die Kissen sinken. Das Gewicht meiner düsteren Gedanken drückte mich nieder: Alles hatte ich verloren. Verloren, verschenkt, verspielt, verpfuscht, vermasselt. Dabei hatte ich einen guten Start ins Leben gehabt. Ich konnte niemandem einen Vorwurf machen. Nicht meinen Eltern, nicht den Zeiten, der Gesellschaft, den Männern im Allgemeinen oder meinem Exehemann im Speziellen. Ich allein hatte es versaut. Aus Egoismus, Arroganz, aus Ekel vor mir selbst und aus purer, widersinniger Lust, für diesen Ekel andere büßen zu lassen. Und dann doch mich selbst am meisten. Ja, ich hatte gebüßt, tat es immer noch und war tief drinnen verdammt stolz auf die Demut, mit der ich mich in mein selbst verschuldetes Schicksal fand. Jedes Mal, wenn ich darüber nachdachte, fand ich mich zum Kotzen. Die Welt draußen fand ich sowieso zum Kotzen.

Gelegentlich versuchte ich, in der Öffentlichkeit mit irgendeinem Passanten aus Langeweile, Neugier oder sonst einer menschlichen Regung ein Gespräch anzuknüpfen. Immer das Gleiche. Ich war schockiert von dem vorherrschenden Desinteresse. Außer dem gestrigen, heutigen oder morgigen TV-Programm, Computerspielen und Designerdrogen schien die Leute nichts zu interessieren. Dennoch ging die Volksverblödungsstrategie der Regierung nicht vollständig auf. Seit der Regierungsübernahme des ultrarechten Flügels der Republikaner und dem darauffolgenden großen Nahostkrieg war der zivile Widerstand durch die verschiedensten Formen von Rückzug, Verweigerung und Terrorismus immer stärker angestiegen. Anscheinend fühlte sich jeder mit nur einem Funken Verstand dazu berufen, die Welt zu retten. Oder zu zerstören. Aus dem einen oder anderen Grund. Die einzige Gemeinsamkeit der vielen aktiven Splittergruppen bestand darin, dass sie alle immer radikaler wurden. Die einen wurden radikal gewalttätig, während die anderen zu radikaler Friedfertigkeit aufriefen. Die einen verlangten radikalere Gesetze, die anderen die absolute und total radikale Anarchie. Radikale Abstinenzler jeglicher Couleur standen radikalen Hedonisten und noch radikaleren Fetischisten gegenüber. Die Einschaltquoten der News-Shows stiegen und stiegen: Blutbäder waren spannender als Castingshows. Es herrschte eine Art hirnlose Lethargie in der Bevölkerung. Viel mehr als diese bitteren Betrachtungen konnte ich dem politischen Tagesgeschehen schon lange nicht mehr abgewinnen. Manchmal streifte mich ein Hauch von Bewunderung für unermüdliche Menschenrechtler und unbeugsame Umweltschützer. Gelegentlich fühlte ich Neid, wenn ich Reportagen über harmonische Hippiekommunen in der Abgeschiedenheit der kanadischen Wildnis las. Aber ich fand keinen Glauben mehr. Weder an die Humanität des Menschen noch an die Geborgenheit in der Familie, noch an irgendeine höhere Ordnung. Ich stand mit leeren Händen und ohne Licht und Wasser außerhalb von Hoffnung und Heilslehren in meiner steinigen Wüste. Tastete mich mehr oder weniger klaglos durch meine endlose Nacht.

Die Haustür wurde aufgeschlossen, und Katyas Stimme ertönte vom Flur: »Hey, Lucy, ich bin’s! Was machst du?« Katya zog ihre Jacke aus und verstaute sie in der Garderobe.

»Ich finde alles zum Kotzen«, rief ich zurück.

Katya trat lächelnd ins Wohnzimmer und gab mir einen Kuss auf die Wange. Sie sah frisch aus, roch frisch. Regentropfen perlten noch durch ihre dunklen, langen Haare, ihre Augen blitzten vor Vergnügen. Sie strahlte eine unverschämt gute Laune aus.

»Dein Lover hat’s dir wohl richtig besorgt?«, fragte ich, dankbar für die Ablenkung von meiner Grübelei.

»Dreimal! Willst du einen Tee? Du solltest dir auch einen zulegen, dann guckst du nicht so leidend«, führte Katya das Geplänkel fort, während sie in die Küche ging und mit Geschirr zu klappern begann.

»Mach mir ein Sandwich, bring mir einen Wodka. Und erzähl!«

»Kommt sofort, eine Sekunde.«

Ich setzte mich auf, zog die Beine an und schlang eine Decke um mich. Ich freute mich, dass Katya aufgetaucht war. Sie schien vor Energie zu schäumen. Ich wollte ein wenig davon abzapfen. Schließlich war es oft genug umgekehrt. Katya war keine Frohnatur. Sie neigte zur Melancholie, ja zur Schwermut. Nach Katyas Überzeugung war dieser Wesenszug allerdings keine Folge ihrer jüngeren Vergangenheit, die sie zum größten Teil mit mir im Lager und dann in New York und Washington verbracht hatte, sondern ein altes ethnisches Erbe, auf das sie mit Zufriedenheit blickte. Katya stammte aus einer adligen litauischen Familie, die in den Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts nach Amerika ausgewandert war. In Litauen gehörten nach Katyas Angaben Melancholie und eine gewisse Schwermütigkeit unbedingt zum Volkscharakter.

Mir gefiel diese in alten Zeiten wurzelnde Vorstellung. Ich mag alles, was alt ist. Filme von John Huston, Songs von Tom Waits oder Bilder von Edward Hopper. Katya liebte alles, was alt und zudem europäisch war. Vor allem wenn es mit einem B anfing: Beethoven und Brahms, Baudelaire und Bulgakow, Butterspätzle und Bier. Katya war der Meinung, dass das B der wundervollste, anschmiegsamste Buchstabe überhaupt sei, kuschelig wie eine Bettdecke, warm wie ein Bullerofen, kurvig wie eine Birne. Ich musste jedes Mal lachen, wenn Katya voller Inbrunst mit ihrer B-Litanei begann, auf ihrem Sessel saß und Bs hauchte. Ich mutmaßte dann lautstark eine gewisse Bbbbesessenheit. Aber vermutlich mochte Katya das B nicht zuletzt, weil ihr Nachname mit einem B anfing. Sie hieß Katya Brown, eigentlich Katarina von Brunas, aber den alten litauischen Nachnamen hatte die Familie nach ihrer Ankunft in Amerika abgelegt. Was Katya sehr bedauerlich fand. Sie versuchte, möglichst oft und intensiv melancholisch auszusehen, viel Wodka zu trinken, und hatte sich vor ihrem Gefängnisaufenthalt sogar die Mühe gemacht, von ihrer damals noch lebenden Großmutter wenigstens einige Brocken der komplizierten Sprache ihrer ursprünglichen Heimat zu erlernen.

»Sandwich und Wodka«, Katya kam mit einem beladenen Tablett aus der Küche und stellte es auf den Wohnzimmertisch. »Sollen wir fernsehen?«

»Bloß nicht! Erzähl mir lieber, was du getrieben hast.«

Katya grinste und warf sich sportlich in den Sessel, der unter der Wucht ihrer Bewegung ächzte. »Einmal das Kamasutra rauf und runter und dann das Ganze mit umgekehrter Rollenverteilung. Nicolas ist sehr ausdauernd. Und ich natürlich auch.«

»Natürlich.« Ich biss mit Hingabe in das Sandwich. »Das tut gut, vielleicht wird mir davon besser.«

»Ist dir nicht gut?« Katya ließ ihre Teetasse sinken.

»Keine Ahnung, was los ist. Ich muss demnächst eh zu Schmelzer, der kann mich checken. Aber erzähl lieber von dir. Ich habe hier nur herumgehangen und zum Fenster rausgeschaut. Ich brauche ein paar Geschichten von den Zombies da draußen, damit ich nicht permanent über die Zombies hier drinnen nachdenke.«

»Hey, ich bin kein Zombie. Nicolas fand mich heute sogar äußerst lebendig«, bemerkte Katya mit vorwurfsvollem Schmollmund und unterließ es, näher auf meine Übelkeit einzugehen. »Um dich nicht länger auf die Folter zu spannen: Wir waren in einer Suite im Hilton, mit Champagner und allem Drum und Dran.«

»Und du hast bezahlt. Der Kerl hat doch nichts in der Tasche!«

»Aber jede Menge in der Hose«, grinste Katya. »Ich wollte mal aus seiner tristen Bude raus. In Nics Zimmer vergeht mir alles. Ich weiß nie, ob die Bettwäsche raschelt oder die Schaben unter der halb losen Tapete …«

»Erspare mir die Details«, stöhnte ich gequält auf.

Katya ließ sich nicht stören. »Also, wir gingen ins Hotel – tollen Teppichboden haben die da, der ist irrsinnig dick und flauschig, hat nur ’ne ganz beschissene Farbe, so wie Albatroskacke … Okay, ich komme zur Sache! Wir fuhren mit dem Lift hoch – leckerer Liftboy –, gingen ins Zimmer. Ich sage dir, ein Luxus ist das da, fast wie im Weißen Haus. Stell dir mal vor, du würdest im Weißen Haus vögeln, aber mit wem bloß? Vielleicht mit March? Ich glaube, der ist ganz schön durchtrainiert … wäre doch ’ne interessante Aufgabe, so einen wohlgeformten Eisberg zum Schmelzen zu bringen, was meinst du, Lucy?«

»March könntest du mir auf den Bauch binden, bestenfalls würde ich es unbequem finden.«

»Und was ist mit deinem Exschatten, dem smarten Pete? Du kannst mir nicht erzählen, dass du nicht scharf auf ihn bist.«

»Der arbeitet aber nicht im Weißen Haus«, entgegnete ich.

»Ja, und?«, fragte Katya verwirrt, denn sie hatte über ihrer Wer-mit-wem-Spekulation das Wo aus den Augen verloren.

Ich lachte leise, nippte an meinem Wodka, stellte das Glas ab und trat zum Fenster. Ich schob einen Flügel nach oben, damit die deutlich abgekühlte Luft ungehindert ins Zimmer strömen konnte. Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Der Regen hatte aufgehört, doch kein einziger Stern war zu sehen. Neonreklamen und Autoscheinwerfer erhellten die Straßenschluchten, wurden jedoch in den oberen Stockwerken der hohen alten Wohnhäuser von der düsteren Trübnis des Himmels verschluckt. Bis zu uns drang kein Licht vor.