29. Heiligabend
Lucy, 43, Sensor Stufe 10
»Heiligabend. Süßer die Glocken nie klingen«, säuselte Katya, als sie ins Wohnzimmer trat, um mir ihre eigens für das Fest der Liebe neu erworbene Reizwäsche vorzuführen. »Wie findest du meine Glocken?«
Katya hatte an ihrem schwarzen Spitzenbüstenhalter in Höhe der Nippel zwei kleine silberne Glöckchen befestigt, die sie nun durch heftiges Wippen zum Bimmeln brachte.
Ich musste lachen. »Hat dein Nicolas Sinn für solche Albernheiten?«
»Für jede Spielart«, erwiderte Katya und ließ noch einmal bimmeln. »Ich muss sie nur erst einmal wieder abnehmen, die Glöckchen drücken sich durch den Pulli durch, und das sieht bescheuert aus. Kommt Pete dich abholen?«
Ich nickte. Es war gegen sieben Uhr abends. Katya war vor einer Stunde von ihrem Rundgang durchs Weiße Haus zurückgekommen, ich hatte das Pentagon unter die Lupe genommen. Normalerweise legten die Militärs keinen Wert auf die Fähigkeiten der Ratten. Sie waren viel zu blasiert, um sich unter unseren Schutz zu begeben. Doch über Weihnachten war das Wachpersonal reduziert, und deswegen hatte das Pentagon ausnahmsweise um einen Kontrollgang gebeten. Ich war von Frank hingebracht und begleitet worden, ein wie immer angenehmer Umstand, der mir die dröge Konversation mit dem diensthabenden Wachoffizier ersparte. Stattdessen erfuhr ich jede Menge über die chemischen Unterschiede in den kristallinen Formen von Schnee und Zucker, ein Wissen, dessen praktische Anwendung, wie ich Frank lachend versicherte, mein tägliches Leben sicher um einiges erleichtern würde.
Nun freute ich mich auf einen Abend mit Pete. Wir würden die heutige Nacht in seiner Wohnung verbringen, was selten vorkam, da ich mich in Petes Apartment, dessen karge Einrichtung aus grauschwarzen Leder-Metall-Ensembles à la Corbusier bestand, nicht sehr wohlfühlte. Für heute jedoch hatte er mir eine Festillumination aus Kerzenschein versprochen und eine behagliche Kuscheldecke vor dem Kamin – begrüßenswerte Maßnahmen, die versprachen, seine stilistisch unterkühlte Wohnung in ein wohltemperiertes Liebesnest zu verwandeln. Außerdem sollte ich überprüfen, ob Petes Apartment überwacht wurde. Dieses Argument für die Wahl des heiligabendlichen Treffpunktes – und ich fürchtete insgeheim, es könnte für Pete das ausschlaggebende gewesen sein – war zwar wenig romantisch, doch ich ließ es unkommentiert.
Es klingelte. Ich griff nach meinem Mantel und dem kleinen Päckchen, das auf dem Tisch lag, gab Katya einen Kuss und wünschte ihr und Nicolas einen schönen Abend.
Die Fahrt durch die Stadt dauerte fast eine ganze Stunde. Es war nicht viel los, die meisten Menschen waren zu Hause mit dem Auspacken von Socken, Krawatten und Ballerspielen oder dem Tranchieren einer Forelle oder eines Truthahns beschäftigt. Aber die Straßen waren von einer dünnen Eisschicht überzogen und erschwerten das Vorwärtskommen. Wie immer sprachen wir während der Autofahrt nur wenig. Wir lauschten der Bluesmusik aus dem Radio. Ich hatte meine Hand auf Petes rechtem Oberschenkel liegen, schaute zum Fenster hinaus und genoss die Bewegungen von Petes Beinmuskulatur, die sich an- und entspannte, wenn er vom Gaspedal zur Bremse wechselte. Bei seiner Wohnung angekommen, musste ich im Flur stehen bleiben. Nach wenigen Minuten bat er mich herein. Schon beim ersten Rundblick wurde mir klar, wie viel Mühe und Zeit Pete verwandt hatte, um mir ein ansprechendes Ambiente zu bieten. Überall standen brennende Kerzen, Sofa und Sessel verschwanden unter Kaschmirdecken und Brokatkissen, das Fenster war durch einen schweren, changierenden Stoff verhängt, der halb in den Raum hineinfloss, und auf dem Tisch war ein italienisches Büfett angerichtet. Ich drehte mich gerührt zu ihm, nahm ihn in die Arme und küsste ihn. Er streifte mir den Mantel von den Schultern, ließ ihn zu Boden sinken, hob mich hoch und trug mich in die Mitte des Zimmers, wo er mich sanft auf Decken und Kissen bettete.
Am nächsten Morgen erwachte ich mit einem Lächeln auf den Lippen. Ich dehnte und streckte mich, schaute den noch schlafenden Pete an und strich ihm zärtlich durchs Haar. Leise krabbelte ich aus dem Bett, schloss die Schlafzimmertür vorsichtig hinter mir. Das Wohnzimmer musste dringend gelüftet werden. Ich öffnete das Fenster und sah mich um. Ein zerfetzter Slip auf der Tischkante neben den eingelegten Auberginen. Blutrote Weinflecken auf den Kissen. Glasscherben vor dem Kamin. Ein Messer am Boden, verkrustet von Chilisoße. Wie der Schauplatz eines schrecklichen Verbrechens, dachte ich grinsend. Eines Lustmordes. Ich ging in die Küche, nahm eine Tüte Orangensaft aus dem Kühlschrank und setzte mich. Mein Kopf dröhnte. Nach einer Weile begann ich mich zu langweilen, doch ich wollte weder Pete wecken noch das Wohnzimmer aufräumen. Dieses Stillleben von Sex und Satisfaktion sollte Pete nicht entgehen. Ich schlenderte durch die Wohnung, betrachtete die Landschaftsfotos von Colorado im Flur, betrat, ohne darüber nachzudenken, das Arbeitszimmer. Als ich den Computer sah, kam mir eine dumme Idee. Ich würde Pete eine Nachricht auf dem Computer hinterlassen. Wenn er das nächste Mal am Schreibtisch saß, würde er an mich denken. Kindisch zwar, fand ich, aber er würde sich bestimmt freuen. Der Computer war auf Stand-by, ich brauchte also kein Passwort. Ich ließ Petes Dokumente nach Uhrzeiten ordnen und fand eines, an dem er gestern Morgen noch gearbeitet hatte. Sollte ich es öffnen oder lieber ein eigenes Dokument anlegen? Doch wer weiß, wann er meine Nachricht auf einem Extradokument finden würde. Ich öffnete, wider besseres Wissen und vor allem auch meiner Neugierde nachgebend, den zuletzt benutzten Text, der unter dem Namen »Endlösung« abgespeichert war. Als ich zu lesen begann, wurde mir klar, dass der Nazibegriff nicht willkürlich gewählt war. Es handelte sich um ein Anti-Terrorprogramm vom Präsidenten höchstpersönlich, ein Konglomerat von faschistoiden Maßnahmen, zusammengefügt aus Hitlers krankhaften Hirngespinsten und den Vorgehensweisen international berüchtigter Irrer wie Stalin, Mussolini, Franco, Pinochet. Ohne jegliches Schamgefühl oder auch nur den Hauch politischen Unrechtsbewusstseins hatte der Präsident spezielle Taktiken mit den dazugehörigen Quellen versehen, die Erfolgsstatistiken der Vernichtung angeführt. Sein erklärtes Ziel war es nicht nur, die schon operierenden Terroristen durch rigorose Aktionen »mit Stumpf und Stiel« auszurotten, sondern auch das Heranwachsen neuer, potenziell gefährlicher Personen im wahrsten Sinne des Wortes im Keime zu ersticken. Probate Mittel zu diesem Zweck waren ihm Geburtenkontrolle bei sozial Unterprivilegierten, Sterilisierung von Straffälligen, Arbeitslager für verhaltensauffällige Jugendliche und der Aufbau eines weitverzweigten Systems von Denunzianten. Als ich bei einem Kapitel anlangte, das die Ratten, ihre massenweise Rekrutierung und ihren verstärkten Einsatz betraf, mit einem zusätzlichen Passus über das Einschläfern der Sensoren, sobald die ersten Anzeichen eines Synapsenkollapses festzustellen seien, glaubte ich ein Geräusch zu hören. Schlagartig wurde mir bewusst, dass Pete wahrscheinlich nicht erfreut sein würde, wenn er mich beim Lesen seiner geheimen Dokumente erwischte. Ich schloss eilig das Textfenster, kehrte zum Menü zurück und schaltete den Computer aus. Wieso, verdammt noch mal, hatte er so etwas auch unverschlüsselt in seinem Rechner, fragte ich mich wütend, um einen Teil der Schuld für meinen unerlaubten Zugriff auf ihn abzuwälzen. Ich verließ das Büro und ging ins Wohnzimmer. Dort stand Pete, nackt und grinsend, und besah sich das Chaos.
»Sieht gut aus hier, nicht wahr?«, begrüßte er mich. Ich setzte mein unschuldigstes Lächeln auf.
Pete lächelte mich an und ging pfeifend zum Badezimmer. Als er wieder zurückkam, hatte ich Kaffee gekocht. Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen, doch das, was ich gerade gelesen hatte, nahm so viel von meiner Konzentration in Anspruch, dass ich fürchtete, als lockere Gesprächspartnerin am Frühstückstisch zu versagen.
»Ich bin nicht ganz auf dem Damm. Wärst du sauer, wenn ich nach der Tasse Kaffee verschwinde? Ich möchte gerne nach Hause, mich duschen und umziehen.«
»Du kannst doch hier duschen.« Pete schien etwas enttäuscht.
»Ich habe keine Klamotten zum Wechseln mit. Mein Slip ist auch zerrissen«, wiegelte ich mit gespieltem Vorwurf ab. »Oder soll ich dir noch beim Aufräumen helfen?«
»Wieso helfen? Ich dachte, das machst du allein. Schließlich habe ich heute Nacht die ganze Arbeit gemacht!«
Ich warf einen Löffel nach ihm, doch er duckte sich noch rechtzeitig.
Pete hob beschwichtigend die Hände. »Wenn du nicht sauer bist, dass ich dich nicht fahre, sondern ein Taxi rufe, dann bin ich nicht sauer, dass du mich schon allein lässt.« Das Taxi war wenige Minuten später da. Ich verabschiedete mich innig von ihm. Doch kaum hatte er die Wohnungstür hinter mir geschlossen, fiel mein Lächeln von mir ab. Ich fragte mich, ob Pete mir von der ›Endlösung‹ erzählen würde.