Zweiundzwanzig
Der Bürgermeister von Bedburg-Hau wurde erst in einer Stunde im Rathaus erwartet, also beschloss Schnittges, Volker Hetzel einen Besuch abzustatten.
Ein handgemaltes Schild «Hetzel’s Bauerncafé mit Streichelzoo» wies ihm den Weg. Er stellte sein Auto auf einem kiesbestreuten kleinen Parkplatz ab und schaute sich um.
Ein Rosenrondell, eingefasst mit akribisch gestutztem Buchsbaum, alte Kastanienbäume, unter denen im Sommer sicher Tische und Stühle aufgestellt wurden, Hühner, die herumspazierten, ein Pfau, schließlich eine Koppel mit einem Unterstand für Ponys. Wie aus der Zeit gefallen.
Die Tür zum Café stand offen, rechts und links davon hatte jemand bunte Kürbisse arrangiert, in einigen flackerten Teelichter.
«So früh hatte ich noch gar keine Gäste erwartet.»
Frau Hetzel war das, was man am Niederrhein eine «patente Frau» nannte, bodenständig und selbstbewusst. Dass Schnittges von der Kripo war, beeindruckte sie wenig, und die Anzeige gegen ihren Mann hatte sie nicht aus der Bahn geworfen. «Das wird sich alles aufklären, schließlich haben wir nichts Ungesetzliches getan. Kommen wir über den Hund, kommen wir auch über den Schwanz, sage ich immer.»
Ob sie einen Markus Heller kannte?
«Heller … Heller …» Sie lutschte an ihrem Daumennagel. «Helfen Sie mir mal auf die Sprünge.»
«Er ist Immobilienmakler.»
«Ach, der! Ja, der kommt öfter auf ein Stückchen Möhrenkuchen, wenn er in der Gegend zu tun hat.»
«Und Ihr Mann kennt ihn auch?»
«Ja, sicher.»
Sie unterhielten sich noch eine Weile über verschiedene Möhrenkuchenrezepte, wobei Frau Hetzel sich beeindruckt zeigte. «In letzter Zeit könnte man ja denken, die Männer hätten das Kochen erfunden, so wie die sich aus dem Fenster hängen. Aber ein Mann, der backt, alle Achtung!» Dann machte Schnittges sich wieder auf den Weg zum Rathaus.
Der Bürgermeister war erfrischend uneitel, ein großer Mann mit einem offenen Lächeln und sanften Augen.
«Trinken Sie einen Tee mit mir?»
«Gern», antwortete Bernie, «manchmal kann man keinen Kaffee mehr sehen.»
«Sie ermitteln in der Mordsache Schraven?»
«Ja, unter anderem. Ich würde Sie aber gern noch etwas anderes fragen: Wissen Sie, dass ein Agrarunternehmen gerade versucht, halb Bedburg-Hau unter Glas zu bringen?»
Der Bürgermeister schmunzelte über die Formulierung, wurde dann aber gleich wieder ernst.
«Ich bin natürlich in die Planung der Wirtschaftsförderung diesbezüglich involviert, aber dass ein privates Unternehmen in meiner Gemeinde unterwegs ist, habe ich gerade erst erfahren.» Er überlegte einen Moment. «Ich persönlich kann mich mit dieser neuen Anbaumethode nicht anfreunden, aber leider habe ich da keinerlei Einfluss. Das Gebiet, um das es geht, ist im Flächennutzungsplan als landwirtschaftliche Fläche ausgewiesen, und da haben die Landwirte Gestaltungsspielraum. Wenn sie sich entschließen, in diesem Gebiet Hunderte von Treibhäusern zu bauen, kann die Gemeinde überhaupt nichts dagegen tun.»
«Und wie sieht das mit dem Anbau von Genpflanzen aus?»
«Genauso: Solange der Anbau der betreffenden Pflanzen von der EU genehmigt ist, sind der Gemeinde die Hände gebunden.»
Schnittges konnte nur den Kopf schütteln.
«Man darf aber auch die positive Seite der privilegierten landwirtschaftlichen Nutzung nicht vergessen», gab der Bürgermeister zu bedenken. «In den ausgewiesenen Gebieten darf nicht gebaut werden, und es darf sich keine Industrie ansiedeln.»
Bernie schnaubte. «Wenn man den Boden so verdichtet, dass er hart wie Beton wird und durch das Glas darüber jeden Einfluss des Wetters auf das natürliche Wachstum der Pflanzen verhindert – wenn das keine Industrie ist!»
Der Bürgermeister guckte interessiert. «Ist das so beim modernen Unterglasanbau? Das wusste ich gar nicht.»
Es dauerte noch eine gute halbe Stunde, bis sie endlich auf den Mordfall Schraven zu sprechen kamen.
«Kannten Sie Rainer Schraven?»
«Nein, leider nicht. Aber so, wie ich gehört habe, hat er wohl ziemlich zurückgezogen gelebt.»
«Aber Sie kennen seinen Schwager Markus Heller, nicht wahr?»
«Flüchtig.»
«Man hat mir erzählt, dass Heller an der Realisierung des Golfparks beteiligt ist.»
Der Bürgermeister schlug die Augen gen Himmel. «Mit dem Mund, ja. Er hat alle glauben gemacht, er arbeite als Makler für die Bauern, die ihr Land an den Golfpark verkauft haben, und habe besonders gute Preise für sie rausgehandelt. Aber wie sich jetzt herausstellt, hat es keinerlei Verträge mit Heller gegeben, weder von Seiten der Bauern noch vom Golfparkbesitzer.»
«Also nur heiße Luft.»
«So könnte man es ausdrücken, ja.»
Cox fuhr von Düsseldorf aus gleich nach Hause.
Er hatte eine ganze Steige italienischer Tomaten gekauft, die Früchte waren vollreif und mussten sofort verarbeitet werden. Sie hatten ein kleines Vermögen gekostet, aber ihr Aroma war überwältigend. Er würde sie alle heute Abend noch zu Sugo verarbeiten und das dann portionsweise einfrieren.
Munter vor sich hin summend häutete er die Tomaten und schnippelte frischen Knoblauch, feine weiße Zwiebeln und Chilischoten. Dann stellte er die gusseiserne Kasserolle auf den Herd, die sie sich zu Weihnachten geleistet hatten, goss Olivenöl hinein und sah auf die Uhr.
Wo Penny nur blieb? Irgendetwas musste passiert sein.
Kurz entschlossen rief er sie an.
«Wo steckst du, Süße?»
«Wir setzen uns gerade zusammen. Es hat sich da etwas ergeben mit Markus Heller.»
«Mit Schravens Schwager?», staunte Cox.
«Ja, ich erzähl’s dir, wenn ich nach Hause komme. Hast du Reiters Arbeit gefunden?»
«Noch nicht, ich muss morgen noch einmal hin.»
«Ach, Mist! Aber okay, bis gleich.»
«Heller hat auf alles eine Antwort», meinte Penny. «Und was er sagt, klingt durchaus plausibel, auch wenn mir das nicht gefällt.»
Van Appeldorn brummte zustimmend.
«Eins geht mir nicht aus dem Kopf», sagte Schnittges. «Nach der Tat nimmt der Täter in aller Seelenruhe eine Dusche, verwischt seine Spuren, verbrennt seine Kleider und macht sich dann plötzlich Hals über Kopf aus dem Staub. Klaus meint, er sei gestört worden, aber das kann ich mir nicht so recht vorstellen. Wer auch immer auf den Hof gekommen ist, er hätte den Täter sehen müssen, wie er weglief oder wegfuhr, bei dem offenen Gelände dort. Und so groß, wie die Zeitungen den Mord aufgemacht haben, hätte sich dieser Zeuge doch längst gemeldet.»
«Ich sehe da noch eine andere Möglichkeit», entgegnete van Appeldorn. «Mein Onkel hat abends immer Milch bei Schraven geholt. Wartet mal einen Moment, ich rufe ihn an.»
Er ging hinaus auf den Flur.
«Fricka war heute ein bisschen muckrig», erzählte Ulli. «Ich glaube, er hat Heimweh. Aber dann habe ich den Grill aufgebaut.»
«Wir haben November!»
«Das ist doch egal, er ist warm angezogen, jedenfalls strahlt er jetzt wieder. Augenblick, ich bringe ihm das Telefon nach draußen.»
Der Onkel fühlte sich eindeutig gestört und war kurz ab. Er habe jeden Abend seine Milch bei Schraven geholt, ja, auch in der Zeit, als der Schwager dort war, und selbstverständlich immer um dieselbe Uhrzeit, um Viertel vor sieben. Und nein, er habe niemanden wegfahren sehen, das habe er doch schon gesagt.
Van Appeldorn kehrte ins Büro zurück und berichtete.
«Bei der Tatzeit hat sich Bonhoeffer sehr genau festgelegt», erinnerte sich Schnittges. «Zwischen 17 Uhr 45 und 18 Uhr.»
«Was auf Heller als Täter hindeuten könnte», vollendete Penny seinen Gedankengang. «Heller tötet Schraven, duscht, dazu hat er genug Zeit, verwischt seine Spuren, überzeugt sich noch davon, dass seine Kleider ordentlich brennen, aber dann wird es eng, denn er weiß ja, dass um 18 Uhr 45 Norberts Onkel kommen wird, und bis dahin muss er über alle Berge sein.»
«Klingt plausibel», nickte Schnittges. «Und ich denke mal, er hatte zunächst gar nicht geplant, den Hof niederzubrennen. Die Idee ist ihm ganz spontan gekommen, als seine Kleider brannten.»
«Wie er ja auch den Mord nicht geplant hatte», ergänzte van Appeldorn. «Dreiundzwanzig Messerstiche, das sieht wirklich nicht nach Vorsatz aus. Und auch sein Vorgehen nach der Tat war nicht wirklich überlegt. Was sollte zum Beispiel die Geschichte mit den Gummistiefeln?»
«Vielleicht liest er keine Krimis und hat geglaubt, es reicht, wenn er das Blut abwäscht», schlug Penny vor.
«Okay, aber warum rennt er ums ganze Haus herum und bringt sie in den Wirtschaftsraum? Das sieht alles nach Panik aus, genauso wie das Verbrennen der besudelten Kleider. Die hätte er doch mitnehmen und anderswo entsorgen können. Wie auch immer, morgen müssen wir als Erstes Hellers Alibis für die letzten beiden Dienstage überprüfen. Was ist mit Peter?», fragte er Penny.
«Der muss morgen noch einmal nach Düsseldorf.»
«Dann schlage ich vor, ich übernehme die Banken, seine Kunden und den Golfclub, und ihr beide fahrt zu Hellers Frau nach Xanten, überprüft, wann ihr Mann zu Hause oder unterwegs war und ob möglicherweise in ihrer Apotheke Digoxin fehlt.»
Bernie und Penny nickten.
«Der Gedanke kommt einem schon in den Sinn», sagte Schnittges. «Aber wo ist das Motiv? Warum sollte Heller Gereon Vermeer vergiften und seinen Schwager erstechen? Was verbindet die beiden Männer? Soweit wir wissen, doch nur die Tatsache, dass sich beide nicht auf Greenparc einlassen wollten.»
«Womit sich die Frage stellt: Was hat Heller mit Greenparc zu tun?», folgerte Penny.
«Woraufhin ich jetzt mal versuchen werde, Zomer zu erreichen», schloss van Appeldorn.
Aber dazu kam er nicht, denn Ackermann stolperte herein, sein Mobiltelefon in der ausgestreckten Hand. «De zwarte Pit für dich.»
«Norbert, alter Kicker, kannst du schon wieder gehen?»
«Als Gehen würde ich das nicht bezeichnen …»
«Freut mich, bei mir ist es auch eher ein Humpeln. Ich habe Gott heute schon oft gedankt, dass es in unserem Gebäude einen Aufzug gibt. Aber Spaß beiseite. Ich habe die Greenparc B.V. in Nimwegen unter die Lupe genommen. Greenparc ist tatsächlich eine Monsanto-Tochter und hat ihren Stammsitz auch in St. Louis. Ihr Ziel ist es, den europäischen Markt zu erobern. Greenparc liefert den Landwirten ein Komplettpaket, das heißt, sie lässt von Subunternehmern die Treibhäuser bauen, den Boden aufbereiten und stellt auch die Maschinen für die Direktsaat zur Verfügung. Das Saatgut, die Düngemittel und die Herbizide kommen dann direkt von Monsanto oder ‹Syngenta›, die ja auch bei euch in Kleve sitzt. Ich habe mit dem obersten Chef gesprochen, Willem de Bruyn. Das ist ein ehrbarer Mann, ein, wie soll ich es sagen, ein honoriger Holländer. Selbstverständlich gibt es hier keinen Porsche und keine bösen Männer mit schwarzen Hüten. Wir haben uns freundlich in die Augen geblickt und beide gewusst, dass man nicht nur beim Treibhausbau, sondern auch für gewisse andere Dinge manchmal ‹Subunternehmer› braucht.»
Zomers amüsierter Unterton verschwand. «Ich finde hier nichts, Norbert, aber das hatte ich auch nicht wirklich erwartet.»
«Unser Bauer Hetzel hat eine Anzeige aus St. Louis bekommen, weil auf einem seiner Äcker patentierter MON 810 wächst.»
Zomer pfiff durch die Zähne. «Verdammt, sind die schnell inzwischen! Darüber muss ich nachdenken …»
«Könntest du mir wohl noch einen Gefallen tun? Wir haben hier eine Spur. Könntest du de Bruyn fragen, ob er einen Markus Heller kennt?»
«Ja, das tu ich gern. Markus mit ‹k› und Heller mit zwei ‹l›? Gut, ich melde mich dann. Aber ich muss nun gehen. Meine Frau steht hier vor mir und versucht, mich mit ihren Blicken zu töten, wir haben Heiratsjubiläum.»
Van Appeldorn gab Ackermann sein Handy zurück und nahm ihn erst jetzt richtig wahr.
«Wie siehst du denn aus? Gehst du auf ein Kostümfest?»
Ackermann trug dunkelgraue Drillichhosen, eine schwarze wattierte Jacke, Springerstiefel und eine dunkle Wollmütze.
«Geheime Mission», antwortete Ackermann, sein Lachen war verhalten. «Ich hab meinen Schwager un’ meine jüngste Tochter mobilgemacht. Wir wollen zu Volker un’ dem helfen, dat Scheiß MON 810 auszureißen un’ zu verbrennen. Ob et wat bringt, weiß ich nich’, aber man hat et wenigstens versucht.» Er sah traurig aus. «Man müsst’ eigentlich überall auf Volkers Hof Videoüberwachung anbringen, aber wer soll dat bezahlen?» Dann griff er in seine Hosentaschen, zog ein Paar schwarze Lederhandschuhe heraus und schaute zum Fenster. «Dann will ich mal los, dunkel genug is’ et jetz’ wohl.»