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Neun

«Der Mann war absolut sicher, dass es sich um seine Schwester handelt», beendete Cox seinen Bericht.

Schnittges betrachtete das Foto des Mädchens. «Ein Kleinkind, da wird uns Arends Gesichtsrekonstruktion wohl nicht weiterhelfen», meinte er. «In dem Alter sehen sie sich alle noch ziemlich ähnlich. Außerdem kann die Geschichte nicht stimmen. Wenn das Mädchen nach den beiden Bombenangriffen unter den Trümmern verschüttet war, wie ist es dann in das Massengrab am Opschlag gekommen?»

«Wir werden sehen», sagte van Appeldorn. «Lasst uns erst einmal zusammentragen, was wir in den letzten zwei Tagen herausgefunden haben. Willst du beginnen, Bernie?»

Der nickte. «Ich habe euch ja schon erzählt, dass man in der Bedburger Klinik ein Wehrmachtslazarett eingerichtet hatte, mit Betten für über zweitausend Soldaten. Deshalb begann man im März 1940 mit der großen Massendeportation der Psychiatriepatienten in die Tötungsanstalten. Es waren so viele Menschen, dass die aufnehmenden Kliniken sich beim Anstaltsleiter beschwerten, weil sie mit dem Töten nicht mehr nachkamen. Lediglich ein paar hundert Schwerstkranke blieben in Bedburg.

Dann stellte man plötzlich fest, dass man nicht mehr genügend Arbeitskräfte hatte, um den Betrieb des Lazaretts aufrechtzuerhalten. Also fing man 1941 damit an, die arbeitsfähigen Patienten, die man noch nicht getötet hatte, nach Bedburg zurückzuverlegen. Um den Klinikbetrieb am Laufen zu halten – Landwirtschaft, Gärtnerei, Technik, Wäscherei, Näherei, Küche –, brauchte man fünfhundertfünfzig Männer und dreihundertfünfzig Frauen, und genauso viele Patienten kamen – als kostenlose Arbeitskräfte – nach Bedburg zurück.

Schon im Sommer 1943 platzte die Klinik aus allen Nähten. Inzwischen waren dort auch Zwangsarbeiter untergebracht, täglich wurden neue verwundete Soldaten und zivile Opfer der Bombenangriffe eingeliefert. Es gab einfach nicht mehr genug Platz für alle, und so begann eine zweite Deportationsphase. Bis auf die nötigen Arbeitskräfte wurden alle psychiatrisch Kranken nach Polen gebracht.

Der Anstaltsleiter beschwerte sich mehrfach bei der NSDAP-Kreisleitung, dass der Abtransport nicht schnell genug ging, und verlangte den Einsatz von Bussen.

Nach den Angriffen auf Kleve mussten auch noch die Patienten des St.-Antonius-Hospitals untergebracht werden, immerhin 342 Patienten. Das passte nun gar nicht. Die Front rückte näher. Verwundete Soldaten mussten versorgt und wieder einsatzfähig gemacht werden. Zivile Kranke störten den Betrieb, brauchten Ärzte und Pfleger, die es ohnehin nicht in ausreichender Anzahl gab. Also plante man den Abtransport der Klever Kranken. Wohin, ging aus den Unterlagen nicht hervor. Aber dazu kam es nicht mehr, denn im Oktober 1944 brachen die Transportmöglichkeiten vollends zusammen.»

Er nahm ein paar Zettel zur Hand.

«Dies sind die Beschwerdebriefe, die der Anstaltsleiter an die NSDAP-Kreisleitung geschickt hat. Unter ihnen ist auch ein Brief von Dr. Zirkel, vermutlich hat er dem Anstaltsleiter eine Kopie zukommen lassen. Er ist an die NSDAP in Kleve gerichtet. Zirkel verlangt darin die Zurverfügungstellung eines Wehrmachtsbusses für die Verlegung einer Gruppe Kranker nach Bedburg zwecks weiteren Abtransports von dort. Die Betten der nämlichen Patienten würden für die Akutversorgung gebraucht, begründet er. Und er droht, sich an übergeordnete Kommissare der Reichsleitung zu wenden. Der Brief ist vom 21. September 1944.»

«Das war fünf Tage vor dem ersten Bombenangriff», sagte Cox nachdenklich. «Eine Gruppe von Kranken … Akutversorgung … Ob er die Betten für verwundete Frontsoldaten brauchte? Aber die kamen doch ins Lazarett nach Bedburg, oder?»

«Ja», bestätigte van Appeldorn, «aber möglicherweise gibt es einen anderen Grund. Ich war im Krankenhaus und habe mich durch die, zugegeben recht spärlichen, Unterlagen gewühlt.

Dr. Reinhard Zirkel war nicht nur der Chefarzt des Antonius-Hospitals, sondern auch seit Januar 1940 außerplanmäßiger Professor an der ‹Medizinischen Akademie in Düsseldorf›, ein hochangesehener Mann. Er blieb auch nach dem Krieg Chefarzt, bis er 1961 in Rente ging. Danach war er weiterhin im Vorstand des Hospitals, Kirchenältester und zeitweise Vorsitzender des Rotary Clubs, einer Vereinigung von Männern – ich habe es mal nachgeschlagen – unter dem ‹Ideal des Dienens›.»

«Na, das passt doch», schnaubte Bernie. «Gedient hat er ja. Sogar dem Führer.»

«Aber das kann doch nicht sein!», regte Penny sich auf. «Die können den doch nicht einfach behalten haben, er hatte doch aktiv mitgemacht.»

«Das wird er wohl kaum an die große Glocke gehängt haben», gab Schnittges zurück.

«Er nicht, natürlich, aber andere müssen doch auch Bescheid gewusst haben.»

«Ach, Herrgott, man war froh, dass man sein Leben hatte. Mein Großvater war in Krefeld als LKW-Fahrer zwangsverpflichtet. In den letzten Kriegstagen musste er russische Zwangsarbeiter zu einer Kiesgrube fahren, wo sie exekutiert wurden. Der SS-Mann, der das Erschießungskommando leitete, wurde nach dem Krieg Landgerichtspräsident. Auch mein Großvater hat geschwiegen, und er war, weiß Gott, kein Feigling. Als kleiner Mann hattest du nichts zu sagen, daran warst du doch gewöhnt. Du nahmst es hin, dass die Bonzen Bonzen blieben, das war schließlich immer so gewesen.» Er nickte van Appeldorn zu.

«Gut», meinte der. «Ich habe mit meinem Onkel gesprochen.»

«Du hast einen Onkel?», rief Cox verblüfft.

«Ja.» Van Appeldorn musste schmunzeln. «Du nicht?»

«Nein.»

Van Appeldorn blinzelte verwirrt. «Wie auch immer», sagte er dann. «Mein Onkel war während des Krieges in Kleve, fünfzehn Jahre alt, als die Bomben fielen. Er hat mir erzählt, dass im August 1944 in der Stadt eine Scharlachepidemie ausgebrochen war. Nach kurzer Zeit schon war die Isolierstation des Krankenhauses zu klein, und man musste eine zweite Station umfunktionieren. Möglicherweise ist das gemeint, wenn Zirkel von Akutversorgung schreibt. Man brauchte Betten für die Scharlachkranken.»

«Klingt einleuchtend.»

«Mein Onkel glaubt, zwei unserer Opfer gekannt zu haben.» Er spürte, dass die anderen die Luft anhielten. «Na ja, gekannt ist wohl zu viel gesagt. Er weiß eigentlich nur, dass man sie Lis und Lisken nannte, also hießen sie wohl beide Elisabeth, an den Nachnamen erinnert er sich nicht. Mutter und Tochter, die Mutter hatte einen Klumpfuß, die Tochter einen Buckel. Sie hausten in einer Kammer in der Kavariner Straße, und von Lisken hieß es, dass sie gern mal für ein paar Groschen die Pennäler mit den Freuden der Liebe bekannt machte. Beide Frauen halfen im Krankenhaus aus, in der Küche, im Garten, in der Wäscherei, wo immer man sie brauchte, und bekamen dafür von den Nonnen Essen und Kleidung.

Auch der Bruder meines Onkels hatte Scharlach und lag auf der Isolierstation, als die Unterstadt bombardiert wurde; er ist nur durch Zufall entkommen. Mein Onkel ist jedenfalls sicher, Lis und Lisken auf der Station gesehen zu haben, als er seinen Bruder ein paar Tage vorher besuchte. Die beiden hatten wohl ebenfalls Scharlach.»

«An diese Frauen müssten sich doch auch noch andere Klever erinnern. Sie waren ja nicht gerade unauffällig», sagte Cox. «Die Niederrhein Post könnte etwas darüber bringen.» Er rieb sich die Augen. «Das klingt jetzt vielleicht sentimental, aber als Bernhard Claassen mir gestern sagte, er möchte, dass seine Schwester ein anständiges Begräbnis bekommt, da dachte ich: Wir werden die Täter wahrscheinlich nicht mehr zur Verantwortung ziehen können, aber wir müssen dennoch herausfinden, wer die Opfer sind, und ihnen ihre Würde zurückgeben.»

Bernie räusperte sich. «Ich sehe das genauso. Wenn das sentimental ist, bitte schön.» Er schaute die anderen an. «Ich bräuchte mal eine kurze Pause.»

«Noch nicht», entgegnete Penny energisch. «Ich würde erst noch gern erzählen, was ich in Münster herausgefunden habe, bevor wir anfangen zu sortieren.»

Schnittges nickte ergeben.

«In diesem Archiv gibt es eine ganze Menge persönlicher Aufzeichnungen, aber sie sind schwierig zu lesen, weil sie durchsetzt sind von irgendwelchem religiösen Schnickschnack. Dass Krieg auch zu Gottes Schöpfungsplan gehört, dass Katastrophen nötig sind zur Läuterung der Seele, zum Beispiel. Und ständig halten diese Frauen Zwiesprache mit ihrem Gott – ganze Gebete haben sie niedergeschrieben. Sie schwärmen geradezu von der Liebe des Herrn, die sie zu den Gefilden der Ewigkeit trägt. Ihr könnt es euch vorstellen. Nun, letztendlich habe ich Folgendes herausgefiltert: Dr. Zirkel ist ein ‹feiner Mann›, von großer Herzensgüte und selbstloser Hingabe an seine Berufung als Heiler. Die Nonnen verehren ihn ausnahmslos. Jeden Samstag spendiert er ihnen ein paar Bleche Streuselkuchen und nimmt, ‹wenn es ihm irgend möglich ist, am Schmaus teil›. Selbst in den schweren Kriegszeiten hält er an dieser Tradition fest, organisiert Eier, Zucker, Butter, solange es eben geht. Zirkel besucht nicht nur jeden Sonntag die Messe in der Minoritenkirche, er geht auch regelmäßig zur Beichte.

Mit Oberarzt Reiter sieht es ganz anders aus. In der Messe sieht man ihn selten, zur Beichte geht er nie. Die Nonnen mögen ihn nicht: Er rede Zirkel nach dem Mund und dränge sich danach, ‹dem Professor Operationen abzunehmen›. Reiter arbeitet seit Kriegsbeginn an seiner Dissertation, die er bei der Medizinischen Akademie in Düsseldorf angemeldet hat, Zirkel ist sein Doktorvater. Das Thema der Arbeit kennen die Nonnen wohl nicht, aber sie erwähnen, dass Reiter sich im Keller des Krankenhauses ein Laboratorium eingerichtet hat, das stets abgeschlossen ist und aus dem hin und wieder Katzenlaute dringen.»

Das Telefon klingelte, Cox nahm ab.

«Hier ist ein Doktor, der unbedingt mit einem von euch sprechen muss.»

«Jetzt nicht!», schnauzte Cox, aber es war zu spät, jemand klopfte an die Tür.

Ein korpulenter Mann von Mitte fünfzig kam herein.

«Dr. Nagel!» Cox sprang auf und streckte ihm die Hand entgegen.

Der Arzt blickte freundlich. «Nett, Sie wiederzusehen.»

«Jean Nagel», stellte Cox ihn den anderen vor. «Er ist Psychiater in Bedburg und hat mir damals nach dem Attentat bei meiner Supervision geholfen. Was führt Sie denn zu uns?»

Nagel nickte grüßend in die Runde. «Ihre Kollegen von der Autobahnpolizei haben gestern in der Nähe von Elten einen Mann aufgegriffen», begann er nach kurzem Überlegen.

«Davon habe ich gehört», fiel es van Appeldorn ein. «Der hatte die Autobahn wohl mit dem Nürburgring verwechselt. Soweit ich weiß, ist er zu euch nach Bedburg gebracht worden.» Er deutete auf einen Stuhl. «Setzen Sie sich doch.»

«Gern, danke.» Nagel nahm Platz. «Das stimmt, man hat ihn in die Klinik gebracht, weil er auf die Beamten wohl einen verwirrten Eindruck machte.» Er schmunzelte. «Ich an seiner Stelle wäre wohl auch verwirrt gewesen.» Dann besann er sich. «Wie auch immer, der Arzt vom Dienst hat Herrn Hetzel mit Verdacht auf Schizophrenie aufgenommen. Heute Morgen habe dann ich Herrn Hetzel eingehend untersucht, und ich kann Ihnen versichern, dass er psychisch vollkommen gesund ist.» Er zögerte. «Ich gebe zu, die Geschichte, die er erzählt, klingt abenteuerlich, aber meiner Meinung nach muss man ihn ernst nehmen.»

«Was erzählt er denn?», wollte Schnittges wissen.

Wieder schmunzelte Nagel. «Dass er von der Mafia verfolgt wird.»

Bernie runzelte ungläubig die Stirn und warf van Appeldorn einen genervten Blick zu.

«Nein, wirklich», beharrte Nagel, «der Mann ist nicht paranoid. Sie sollten mit ihm sprechen.»

«Na gut», entschied van Appeldorn, «dann holen Sie ihn herein.»

Der Arzt stand auf. «Er wartet in meinem Auto. Es wäre wohl am besten, wenn einer von Ihnen mit hinunterkäme, um ihn abzuholen. Ohne Polizeischutz will er keinen Schritt mehr tun.»

Van Appeldorn seufzte.

«Ich mach schon», sagte Schnittges, und van Appeldorn nickte ergeben.

Als Leiter der Mordkommission verfügte er über ein eigenes Büro, das er aber eigentlich nur nutzte, wenn er längere Telefonate führen oder Berichte schreiben musste.

«Bring ihn rüber zu mir.»


«Gibt es die Medizinische Akademie in Düsseldorf heute noch?», fragte Penny, als endlich wieder Ruhe eingekehrt war.

«Soviel ich weiß, gehört sie mittlerweile zur Heinrich-Heine-Universität», antwortete Cox.

«Hm.» Sie fing an, an ihren Haaren herumzuzwirbeln. «Mich würde wirklich interessieren, welches Thema Reiters Dissertation hatte …»

«Ja, mich auch. Er muss ja wohl irgendwelche Versuche durchgeführt haben, sonst hätte er sich kein Labor eingerichtet.» Cox rief das Telefonbuch in seinem Computer auf. «Ich weiß nicht, wie lange Dissertationen an den Unis aufbewahrt werden, aber das lässt sich ja noch prüfen.»

«Vielleicht finde ich inzwischen heraus, was nach dem Krieg aus Dr. Reiter geworden ist. Am Antonius-Hospital hat er ja wohl nicht mehr gearbeitet. Ich versuche mein Glück mal bei den Melderegistern.»

Sie machten sich an die Arbeit.