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Zehn

Volker Hetzel hatte die irritierende Angewohnheit, fast jeden Satz wie eine Frage klingen zu lassen. Er hatte insgesamt etwas – Schnittges suchte nach der richtigen Vokabel –, etwas Vages, Konturloses.

Sein Körper war kräftig gebaut und dabei doch schwammig, sein Gesicht rund wie ein Pfannkuchen, das Haar fein wie Babyflaum und so hell, dass man Wimpern und Brauen kaum erkennen konnte.

Die blanke Angst in den seegrünen Augen passte nicht dazu.

Er überfiel die beiden Kripoleute mit einem wirren Wortschwall, und es dauerte ein paar Minuten, bis van Appeldorn ihn durch seine stoisch nüchternen Fragen nach Namen, Adresse, Familienstand, Alter ein wenig beruhigt hatte.

«Bin im letzten Juli fünfundvierzig geworden!»

«Gut», sagte Schnittges, «und jetzt erzählen Sie ganz von Anfang an. Das schaffen Sie doch.»

Hetzel schluckte ein paarmal.

«Letzten Winter? Als die Prospekte gekommen sind?»

«Sie haben also Prospekte zugeschickt bekommen.»

«Ja, genau, bunte Kataloge von so Agroparks, wo drinstand, dass der Bauer Verantwortung für die ganze Gesellschaft hat und dass nur das neue Agrobusiness auf die Dauer die Menschheit ernähren kann. Also, wir Bauern wären die Einzigen, die den Welthunger bekämpfen können? Hab ich mir durchgelesen und weggetan? Ein paar Tage danach kamen dann die Männer?»

«Welche Männer?», fragte van Appeldorn.

«Holländer?»

Eine holländische Firma war an Hetzel herangetreten und hatte ihm angeboten, Mitglied einer Genossenschaft zu werden.

«Mein ganzer Ackergrund sollte unter Glas kommen.»

Die Treibhäuser und die modernen Anbaumethoden bei Kartoffeln, Mais und verschiedenen Gemüsesorten garantierten dem Bauern statt wie bisher nur eine mehrere Ernten im Jahr, hatte man versprochen. Saatgut, Dünger und eventuell benötigte Pestizide stelle die Firma kostenlos zur Verfügung. In der Intensivlandwirtschaft liege die Zukunft, sie bringe selbst dem kleinen Landwirt enorme Gewinne.

«Die haben quasi gemeint, in drei, vier Jahren wär ich reich. Ich hab trotzdem nein gesagt? Ich will nicht zu einer Genossenschaft gehören. Ich war immer mein eigener Herr und hab angebaut, wo ich was von kenne. Von Gemüse verstehe ich gar nichts? Meine Frau und ich können keine großen Sprünge machen, aber es geht uns gut genug. Wir haben ja keine Kinder? Unser Bauerncafé und mein Streichelzoo, das lockt Familien an, ist ja jetzt in Mode gekommen?»

Seit er der holländischen Firma eine Absage erteilt hatte, habe er immer wieder Männer beobachtet, die sich auf seinen Äckern herumgetrieben hätten, erzählte Hetzel. Immer hätte irgendwo auf den Feldwegen ein fremdes Auto gestanden, und vor vierzehn Tagen hätten zwei Lämmer aus dem Streichelzoo morgens tot auf der Wiese gelegen.

«Dabei waren die abends noch kerngesund? Und gestern waren da wieder zwei Kerle am Rand vom Maisfeld. Da hatte ich die Nase voll, bin mit meinem Wagen hin und hab sie zur Rede gestellt. Aber die waren verstockt, haben gar nichts gesagt. Also sag ich: Jetzt ist genug, ich fahr jetzt sofort zur Polizei.»

Wieder musste Hetzel schlucken.

«Und die dann hinter mir her, direkt auf der Stoßstange. Und dann seh ich, dass der Beifahrer eine Pistole hat. Da bin ich durchgedreht.»

Seine Stimme überschlug sich. «Nur noch kreuz und quer gerast. Die immer direkt hinter mir. Auf die Autobahn, ich weiß nicht, wie …» Er schnappte nach Luft. «Mir wird schlecht.»

Van Appeldorn stand auf und legte ihm die Hand auf die Schulter, Schnittges goss ein Glas Wasser ein. «Jetzt atmen Sie erst einmal wieder richtig durch.»

Hetzel nickte und trank.

«Und dann stecken die mich doch tatsächlich in die Anstalt», wisperte er.

«Herr Hetzel, können Sie uns das Auto beschreiben, das Sie verfolgt hat?», fragte van Appeldorn.

«Schwarz?»

«Haben Sie sich das Kennzeichen gemerkt?»

«Gelb?»

«Und die beiden Männer, wie sahen die aus?»

«Weiß nicht, die hatten Hüte auf und Sonnenbrillen?»

Norbert und Bernie sahen sich an.

«Der Doktor glaubt mir!», schrie Hetzel. «Der glaubt mir!»

«Das tun wir ja auch», versuchte Schnittges, ihn zu beschwichtigen. «Wie hieß denn diese holländische Firma, die an Sie herangetreten ist?»

«Weiß nicht. Irgendwas mit Agro B. V.?»

«Aber die Prospekte haben Sie doch sicher noch.»

Hetzel machte ein trotziges Gesicht. «Damit hab ich den Ofen angestocht, wie die mir die Schafe vergiftet haben.»

Dann flackerte wieder Panik auf.

«Und als Nächste sind wir dran, meine Frau und ich! Wir brauchen Polizeischutz!»

Eine halbe Stunde später ließen sie ihn mit einem Peterwagen nach Hause bringen.

Sie hatten ihm versprochen, sich um die Angelegenheit zu kümmern und sich in den nächsten Tagen bei ihm zu melden, bis dahin würde mehrmals am Tag ein Streifenwagen seinen Hof anfahren.

Schnittges wischte sich die Schweißperlen von der Stirn.

«Der gute Dr. Nagel in allen Ehren», sagte er, «aber auch ein Psychiater ist nicht unfehlbar. Wenn du mich fragst, gehört Hetzel in die geschlossene Kolonne.»

«Vermutlich.» Van Appeldorn klang ein wenig erschöpft. «Ich rufe trotzdem mal den Kollegen an, der ihn gestern hopsgenommen hat. Der wird uns ja wohl etwas über den anderen Wagen erzählen können.»

«Mach das. Ich gehe in der Zeit mal ins Netz. Ich meine nämlich, ich hätte neulich etwas in der Zeitung gelesen über einen Agropark am Niederrhein.»


An der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf hatte man irgendwann in den Siebziger Jahren alle Dissertationen, die seit Gründung der Medizinischen Akademie eingereicht worden waren, auf Mikrofilm festgehalten, aber erst vor kurzem mit dem Ordnen und Archivieren begonnen.

Jeder andere hätte vermutlich spätestens bei der fünften Warteschleife, die einem irgendeinen elektronischen Quark ins Ohr dudelte, das Handtuch geworfen, aber Peter Cox war ein geduldiger Mensch. Er schaffte es sogar, freundlich zu bleiben, als er nach geschlagenen vierzig Minuten endlich eine studentische Hilfskraft in der Leitung hatte, die mit der Archivierung beschäftigt war.

«Ich helfe Ihnen gern», sagte der junge Mann, «aber ich bräuchte einen schriftlichen Auftrag.»

«Wenn Sie mir Ihre Faxnummer geben, haben Sie den in fünf Minuten auf Ihrem Tisch.»

«Prima, ich melde mich dann bei Ihnen, sobald ich die Arbeit gefunden habe.»

Cox legte auf. Auch Penny hatte eben kurz telefoniert, saß jetzt aber wieder konzentriert an ihrem PC und schaute nicht hoch, also beschloss er, die Niederrhein Post anzurufen. Die Geschichte von Lis und Lisken ging ihm nicht aus dem Kopf.

Der Kulturredakteur war gleich Feuer und Flamme. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag in einem Café.

«Bis dahin kann ich ja schon mal ein wenig in unserem Archiv kramen. Ich weiß, dass es dort einige Artikel über die sogenannten Klever Originale gibt.»

«Wunderbar», freute Cox sich, «aber ich muss Schluss machen, bei mir in der Leitung klopft jemand an.»

Es war Arend Bonhoeffer.

«Dein Herr Claassen war eben bei mir wegen des Abgleichs mit der DNA des kleinen Mädchens mit dem Hydrozephalus.»

«Schön, dass es so schnell geklappt hat. Wie lange wird es denn dauern, bis du das Ergebnis hast?»

«Nicht lange», antwortete Bonhoeffer. «Ich habe ja sonst nichts zu tun.»

Cox wunderte sich. «Seid ihr denn mit den Gesichtsrekonstruktionen schon fertig?»

«Noch nicht ganz, aber dabei werde ich nicht gebraucht. Klaus hat quasi seinen Wohnsitz in die Pathologie verlegt.»

«Van Gemmern?»

«Van Gemmern», bestätigte Bonhoeffer. «Und manchmal sind drei eben einer zu viel.»

Cox schüttelte den Kopf. «Ach komm. Ich meine, Bernie hat schon angedeutet, dass Klaus eine Schwäche für deine Marie hat, aber der wird sich doch nicht wirklich zum Affen machen. Ist sie eigentlich hübsch?»

«Sehr.»

«Und wie alt?»

«Zweiunddreißig.»

«Meine Güte, dann könnte er locker ihr Vater sein.»

Bonhoeffer gluckste. «Er hat sie übrigens für heute Abend zu einer Woodstock-Party in Bochum eingeladen.»

«Woodstock? Klaus? Ich fass es nicht, der macht sich tatsächlich zum Deppen!»

«Nicht unbedingt», meinte Bonhoeffer. «Marie hat nämlich zugesagt.»

«Und was wird aus den Rekonstruktionen?»

«Die erledigen sie am Wochenende.»

Cox tippte sich an die Stirn und legte auf.

«Was ist denn?», wollte Penny wissen.

«Klaus baggert Marie Beauchamp an.»

«Van Gemmern? Blödsinn, der weiß doch nicht einmal, dass es zwei verschiedene Geschlechter gibt.»

«Doch, doch, Arend hat es mir gerade erzählt.»

Penny musste lachen. «Ihr spinnt doch!»


Bernie Schnittges hatte die Zeitungsartikel über den Agropark Niederrhein gefunden. Während er sie durchlas, hörte er mit halbem Ohr dem Telefongespräch zu, das van Appeldorn mit dem Kollegen von der Autobahnpolizei führte. Es schien nicht sehr ergiebig zu sein.

«Ein schwarzer Porsche, okay. Und das Kennzeichen?» … «Ein holländisches, das weiß ich schon … Nein, die sehen nicht alle gleich aus … Herrgott nochmal, du musst doch das Kennzeichen wissen, du bist Bulle, Mann!» … «Ja, ja … ja, ich weiß, dass es schnell ging, ja … Nein, nein, ist schon gut … Ja, ich sag doch, ist gut.» … «Welche andere Karre?» … «Ach so, das Auto von Hetzel steht immer noch bei euch. Das muss zurück zum Halter.» … «Ja, genau. … Nein, der sitzt nicht mehr in der Klapse … Ja, ja, ich weiß, mir wär’s auch lieber. Ist dir sonst noch irgendwas … Schwarze Hüte? Beide? Na, halleluja! … Nein, das war schon alles, danke dir. Wir sehen uns morgen beim Training.»

«Lass mich raten», sagte Bernie. «Die beiden Männer in dem holländischen Porsche trugen Hüte.»

Van Appeldorn schaute durch ihn hindurch. «Schwarze.»

«Sonnenbrillen auch?»

«Davon hat er nichts gesagt.»

«Und jetzt denkst du, dass Hetzel doch nicht spinnt? Dann hör dir mal an, was ich gefunden habe. Man will tatsächlich Agroparks am Niederrhein einrichten, unter anderem auf einer größeren Fläche in Hau, wo auch Hetzel seine Felder hat. Das ganze Vorhaben wird unterstützt von der Wirtschaftsförderung des Kreises Kleve. Die macht richtig Werbung dafür und will ansässige Landwirte und Gartenbaubetriebe mit ins Boot holen.»

«Na, dann können ja wohl kaum irgendwelche kriminellen Machenschaften dahinterstecken.»

«Eben.»

Van Appeldorns Handy summte, er schaute aufs Display, die Nummer sagte ihm nichts.

«Van Appeldorn», meldete er sich.

«Ja, hier auch van Appeldorn.»

«Onkel Fricka!» Norberts Magen schlug einen fröhlichen Purzelbaum, dann sah er, wie Bernie die Ohren spitzte, schickte ihm ein entschuldigendes Lächeln und ging hinaus auf den Flur. «Ich wusste ja gar nicht, dass du ein Handy hast.»

«Ich benutze es auch nie. Merle hat es mir zu Weihnachten geschenkt, damit ich Hilfe holen kann, wenn mir mal was beim Spazierengehen passiert. Ich habe es immer brav aufgeladen, aber nie gebraucht. Und eben dachte ich, ich probiere es einmal aus.»

«Gute Idee. Wie geht es dir?»

«Großartig. Hör mal, Junge, du kannst ablehnen, und das meine ich ernst, ich wäre dir gewiss nicht gram. Meine Zugehfrau hat ein Blech Pflaumenkuchen gebacken, und der schmeckt am besten, wenn er einen Tag durchgezogen ist. Und da dachte ich mir, das Wetter ist noch so schön, dass man draußen sitzen kann. Wer weiß, wie lange noch.» Er machte eine Pause. «Hättest du nicht Lust, mich morgen mit deiner Familie zu besuchen? Dann könnte ich deine Frau kennenlernen und den kleinen Paul.»

«Das tut mir jetzt leid, Onkel Fricka, aber ich bin dieses Wochenende Strohwitwer.» Van Appeldorn spürte ehrliches Bedauern. «Einmal im Jahr fährt Ulli mit ihren Kolleginnen und Kollegen und allen Kindern auf eine Fortbildung. Na ja, so heißt das offiziell, aber ich glaube, die lassen es sich einfach nur gutgehen.» Er schaute auf seine Uhr. «Sie sind jetzt schon unterwegs und kommen erst am Sonntagabend wieder.»

«Wie schade, aber da kann man wohl nichts machen.» Onkel Fricka wurde leise.

«Nein, nein, warte. Das ist nur aufgeschoben, wir finden einen anderen Termin, bestimmt. Ulli möchte dich nämlich auch kennenlernen, und für Paul wäre es sicher schön. Übrigens, ich liebe Pflaumenkuchen.»

Er hörte den Onkel lachen. «Ich weiß, du warst schon als Junge ganz verrückt danach. Dann komm doch wenigstens du.»

«Das mache ich. Ich habe allerdings nur bis vier Zeit.»

«Dann komm doch um halb zwei. Ich lasse mein Mittagessen ausfallen, und wir machen gemeinsam den Kuchen nieder.»


Bernie Schnittges hatte sich mit seiner Schwester in der Wolle gehabt.

Genau wie erwartet hatte Monika im Laufe des Mittwochs alle Möbel in seiner Wohnung aufgebaut, die Küche eingeräumt, sogar schon seine Bücher und CDs einsortiert – nach ihrem System – und war, als er vom Dienst kam, gerade dabei, Bilder aufzuhängen. Das ging ihm zu weit, und das wusste sie auch. Sie hatten sich ein paar wüste Beschimpfungen um die Ohren gehauen, dann hatte er seinen Trainingsanzug angezogen und war türenknallend zum Laufen abgerauscht. Als er nach Hause gekommen war, hatten alle Bilder, Bücher und CDs im Wohnzimmer auf dem Boden gelegen, und Monika war verschwunden.

Gestern hatte er sich keine großen Gedanken über ihren Krach gemacht. Monika und er stritten sich gern, heftig und oft und lagen sich im nächsten Augenblick schon wieder in den Armen. Statt sie anzurufen und um schön Wetter zu bitten, hatte er seine Wohnung weiter eingerichtet und eine Liste der Dinge gemacht, die er noch besorgen wollte, Topfpflanzen vor allem.

Als er heute nach Hause kam und feststellte, dass keine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter war, meldete sich sein Gewissen. Er wusste, dass es Monika im Moment nicht besonders gutging. Als einziges der Schnittgeskinder hatte sie keinen Beruf erlernt, sondern gleich nach dem Abitur einen aufstrebenden Rechtsanwalt geheiratet, in rascher Folge drei Kinder bekommen, die mittlerweile ihrer eigenen Wege gingen. Sie war siebenunddreißig und frustriert. Ihr Mann hatte ihr angeboten, bei ihm in der Kanzlei zu arbeiten, und sich eine böse Abfuhr eingehandelt: «Sehe ich aus wie eine Tippse?» Auch sein Vorschlag, doch vielleicht einen kleinen Blumenladen zu eröffnen, war mit ein paar spitzen Bemerkungen abgetan worden.

Bernie griff zum Telefon und seufzte. Gut, Monika war frustriert, aber sie war ihm auch in den letzten Monaten mächtig auf die Nerven gegangen. Ständig hatte sie «Freundinnen» angeschleppt. «Das ist Laura, Bernie, sie macht auch Kampfsport. Ihr könntet doch mal zusammen trainieren.»

Monika meldete sich nach dem zweiten Klingeln.

«Die verwöhnte Oberschichttussi nehme ich zurück.»

Sie lachte. «Und ich den präpotenten Schnösel mit Bindungsangst.»

«Fein, dann sind wir ja quitt. Sag, weißt du, ob die alten Herrschaften am Sonntag schon was vorhaben?»

«Ich glaube nicht.»

«Dann lade ich die ganze Blase zur Einweihung ein.»

«Ist das nicht zu früh? Du kannst doch unmöglich schon fertig sein mit allem.»

«Fertig genug, ist ja nur Familie zu Kaffee und Kuchen.»

«Soll ich irgendwas backen?»

«Schwesterherz, deine Kochkünste in allen Ehren, aber im Backen bin ich besser. Und du hast mich doch verstanden, oder? Ich sagte: nur Familie. Also bitte keine Lauras.»