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Sieben

Den ewigen Studenten hatten sie Onkel Fricka in der Nachbarschaft genannt, aber das hatte es nicht ganz getroffen. Durch den Krieg hatte er etliche Schuljahre verloren, erst spät Abitur machen können und dann Biologie studiert, ein paar Jahre bei Bayer in Leverkusen gearbeitet und dann noch ein Studium abgeschlossen, Agrarwissenschaften. Und sich das Geld dafür verdient, indem er in den Semesterferien in Nierswalde in einer Gärtnerei gearbeitet hatte – Hornhaut an den Händen und dunkelbraun gebrannt.

Sie hatten alle in einem Haus gewohnt, am Mittelweg, unten die Großeltern, Oma und ihr Gemüsegarten, Opa und seine Karnickel, und oben die «jungen van Appeldorns», seine Eltern, die kleine Marlies und er.

Es hatte immer viel Streit gegeben, meist weil kein Geld da war, böse Blicke und bitteres Schweigen. Die Oma, die «es immer schon gewusst hatte», und der Großvater, der mit der Faust auf den Tisch schlug: «Das ist immer noch mein Haus! Und solange ich hier das Sagen habe …»

Aber an den Wochenenden kam Onkel Fricka und brachte schöne Frauen mit, die Petticoats trugen und Söckchen in flachen Schuhen, getupfte Halstücher und Sonnenbrillen mit weißem Plastikgestell. Und sie rochen nach Parfüm.

Und immer war Sommer gewesen, und Opa hatte ein Kaninchen geschlachtet, weil Fricka kam und «der Junge doch was auf die Rippen braucht, wo er doch so viel studiert. Aus dem wird nochmal wer ganz Großes.»

Und Norbert hatte vorn auf dem Tank sitzen dürfen, wenn Fricka auf dem Motorrad mit ihm eine Runde gedreht hatte – Mittelweg, Scholtenstraße, Ackerstraße, Beethovenstraße, Mittelweg.

Und abends, samstags nach dem Baden, hatte er ihm Geschichten erzählt, spannende, gruselige Geschichten, die er wirklich erlebt hatte, damals im Krieg. «Jetzt mach mir den Jungen nicht verrückt, er soll doch schlafen.»

Und dann war sein Vater gegangen, und sie waren aus Opas Haus weggezogen in die kleine Wohnung in der Unterstadt, Meilen entfernt, Mutter, Marlies und er.

«Die ist für mich gestorben, die ganze Mischpoke!» Trotzdem hatte seine Mutter immer ganz genau gewusst, was mit Onkel Fricka war.

«Er musste heiraten, das wundert mich nicht.»

1972 musste das gewesen sein – da war Fricka schon über vierzig –, als er Henriette Glogau zur Frau genommen hatte, eine Musiklehrerin vom Lyzeum, nicht viel jünger als er. Im selben Jahr hatten sie eine Tochter bekommen, Merle.

«Das ist doch kein Name für ein Kind, Norbert!» Mit gerade einmal siebzehn hatte er das damals genauso gesehen. Wie er so vieles von seiner Mutter übernommen hatte, ihr Schweigen, ihre Unerbittlichkeit.

Onkel Fricka hatte im Haus Riswick gearbeitet, der landwirtschaftlichen Versuchsanstalt, die es heute noch gab, war später dort der Chef gewesen. Den Bericht über seine feierliche Verabschiedung irgendwann in den Neunzigern hatte van Appeldorn in der Zeitung entdeckt, auch vor drei Jahren die Todesanzeige: Henriette van Appeldorn, geb. Glogau, als Traueranschrift eine Adresse in Bedburg-Hau.

Er hatte mit dem Gedanken gespielt, zur Beerdigung zu gehen oder wenigstens anzurufen und sein Beileid auszudrücken. Aber alles war zu lange her gewesen, und er hatte selbst so viele Probleme gehabt, die niemanden etwas angingen.

«Komm nach der Tagesschau, Junge», hatte Onkel Fricka gesagt. «Die gucke ich jeden Tag, in meinem Alter ist ein geregelter Ablauf ganz wichtig.»

Einundachtzig musste er jetzt sein oder vielleicht schon zweiundachtzig.

Van Appeldorn bog in den Weg ein, der am äußersten Rand von Bedburg-Hau ins Nichts zu führen schien, rechts dunkler Tannenwald, links Felder bis zum Horizont. Es gab keine Straßenlaternen, der Weg war asphaltiert, aber so schmal, dass er hoffte, es würde ihm niemand entgegenkommen.

Ein paar hundert Meter weiter vorn links gab es ein paar Lichtflecke in der Finsternis. Rechts tauchte unvermittelt ein Gehöft auf. Er bremste und erhaschte einen Blick auf abblätternden Putz hinter einem rostigen Gatter und einer wirren Dornenhecke. Schweinegestank drang ihm in die Nase, obwohl die Autofenster geschlossen waren.

Er ließ den Wagen langsam weiter auf die Lichter zurollen.

Ein weißer Flachdachbungalow, Alufenster, eine Haustür aus dunklem Holz: Bauhaus in Bedburg.

Die Außenbeleuchtung sprang an, als er den Wagen an den Wegrand lenkte, und ließ die Hausnummer aus kühlem Stahl erkennen: «3».

Es war das richtige Haus.

Die Tür wurde geöffnet, bevor er klingeln konnte.

«Ich habe die Autoscheinwerfer gesehen.»

Ein großer, schlanker Mann mit immer noch fast schwarzem, ziemlich langem Haar, hohen Wangenknochen und fein gezeichneten Brauen, Onkel Frickas Augen und demselben Lächeln noch, ein Mann, dem man ansah, dass er den größten Teil seines Lebens im Freien verbracht hatte.

«Ich freue mich so, Norbert, komm rein.»

Er ging voraus in einen gemütlich beleuchteten Raum mit schlichten Sitzmöbeln aus Teakholz und grauem Leinen, deckenhohen Bücherregalen, einem Stutzflügel und farbenfrohen abstrakten Drucken an den Wänden.

Ein wenig steif setzte er sich in einen Sessel, der so aussah, als wäre er für ihn angefertigt worden, und zeigte auf den Tisch, auf dem zwei Bierflaschen standen.

«Setz dich, bitte, und bediene dich. Ich habe sie gerade eben aus dem Kühlschrank geholt. Du trinkst doch Bier?»

«Sehr gern sogar.» Van Appeldorn öffnete beide Flaschen und zögerte.

«Ach, entschuldige», Onkel Fricka machte Anstalten aufzustehen, «du möchtest sicher ein Glas.»

Aber van Appeldorn hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. «Ich brauche kein Glas, ich trinke Bier am liebsten aus der Flasche.»

Der Onkel lehnte sich wieder zurück und nickte zufrieden. «Genau wie ich.»

Er machte es Norbert leicht, stellte keine Fragen, erzählte ein bisschen von sich.

Seit dem Tod seiner Frau lebte er allein, hatte aber eine Zugehfrau, die fünfmal in der Woche kam, für ihn einkaufte und kochte, den Haushalt versah.

Merle war Archäologin und reiste durch die Welt, kam aber immer mal wieder zwischen den verschiedenen Grabungsprojekten zu ihm nach Hause und blieb ein paar Wochen.

«Wir verstehen uns gut.»

«Das ist schön», sagte van Appeldorn.

Onkel Fricka lächelte verschmitzt. «Aber du bist nicht gekommen, um in Familiengeschichten zu schwelgen. Wie kann ich dir helfen, mein Junge? Geht es um die Skelette aus dem Krieg, die ihr gefunden habt, von denen ich heute in der Zeitung gelesen habe?»

«Ja, aber ich weiß eigentlich gar nicht, ob du mir wirklich helfen kannst. Du bist nur der einzige Mensch, den ich kenne, der auch während des Krieges in der Stadt war, der weiß, was passiert ist, der Leute gekannt hat – Kleve war damals doch noch viel kleiner als heute. Früher hast du mir oft von der Kriegszeit erzählt, erinnerst du dich?»

Onkel Fricka schloss die Augen. «Was hat mich nur geritten, dir von dieser furchtbaren Zeit zu erzählen?»

«Aber du hast doch nichts Furchtbares erzählt», wandte van Appeldorn hastig ein. «Du hast von deinen Abenteuern berichtet. Dass du Motorrad gefahren bist, obwohl du nicht einmal fünfzehn warst. Dass du Bombensplitter gesammelt hast und Munition. Und mit deinen Freunden hast du deine Schätze getauscht, genauso wie ich es damals mit meinen Fußballbildern gemacht habe. Vom Radiokrieg hast du gesprochen, weißt du noch?»

Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Onkels. «So habe ich das ausgedrückt? Na ja, für uns Jungen war es das anfangs ja auch, ein Radiokrieg. Als Achtjähriger hatte ich stundenlang vor dem Kasten gehockt und die Olympiade in Berlin verfolgt. Olympische Spiele in unserem Land, das war sensationell. Als der Krieg anfing, war ich elf und saß wieder Tag für Tag vor dem Radio, meist zusammen mit meinem Freund Kurt von nebenan, und statt der Medaillengewinner lernten wir die Luftkriegshelden auswendig.

Der wirkliche Krieg war weit weg. Gut, manchmal gab es Fliegeralarm, und wir rannten in den Keller. Ein Abenteuerspiel, mehr nicht. Die Flugzeuge flogen immer über Kleve hinweg Richtung Ruhrgebiet, unsere Stadt interessierte keinen. Warum auch?

Aber es war Krieg. Krieg war unser Kinderalltag. Und wenn schon nicht wirklich etwas passierte, haben wir eben Krieg gespielt, Unterstände gebaut, in den Gärten mit Wasserpistolen die Bienen abgeschossen, mit der Zwille Tauben von den Bäumen geholt. Mit ausgebreiteten Armen sind wir Jungs brummend durch die Straßen gerannt, waren selbst Jabos und Stukas. Ein Spiel – bis Mitte 44. Da hat die HJ mich doch noch entdeckt, darauf hatte ich schon nicht mehr gehofft. Ich wurde Jungpimpf, Luftwaffenhelfer bei der Flak. Vater war irgendwo draußen an der Front und ich als sein Stellvertreter im kriegswichtigen Einsatz in der Heimat. Ich war stolz wie Bolle.

Eine kurze Ausbildung, und dann wurden wir sofort eingesetzt an der Schanzbaustelle zum Schaufeln. Ein paar tausend Männer und wir Pimpfe.

Dann kam der Luftlandeangriff, und wir kriegten den Befehl, sofort abzurücken. Wie sind gerannt wie die Karnickel, Kurt und ich immer nebeneinander. Hinter uns schlugen die Bomben ein. Die Schanzarbeiter kamen alle um, aber das wussten wir da noch nicht.

Um uns herum Chaos, LKWs mit Soldaten, die von der Front abhauten, die ganze Tiergartenstraße verstopft.

Uns trieb nur ein Gedanke: nach Hause!

Und immer wieder hinter uns der Donner. Kam er näher? Wir sprangen in jedes Einmannloch, das auf unserem Weg lag. Dann wieder weiter über die Gruft den Berg hoch.

Hatte ich Schiss? Wahrscheinlich, aber das war nicht mein stärkstes Gefühl. Die Front war da! Hier bei mir zu Hause. Ich wurde gebraucht, jetzt war ich kriegswichtig!»

Er trank einen Schluck Bier und lehnte sich wieder zurück. «Ende 44 sollten wir dann evakuiert werden, meine Großeltern, eine Tante, meine Mutter und mein kleiner Bruder Erich, dein Vater. Auch ich sollte mit, aber für mich stand fest, ich würde bleiben. Auch Kurt wollte bleiben, wir wollten die Heimat verteidigen. Unseren Müttern haben wir erzählt, wir hätten den Befehl dazu, und sie haben das geschluckt.

Erich lag mit Scharlach im Krankenhaus, alle hofften, dass man ihn rechtzeitig entlassen würde, damit er mitfahren konnte in die sichere Zone.

Am Tag vor der Abreise hieß es plötzlich, die Bahngleise wären kaputt gebombt, es würden überhaupt keine Züge von Kleve aus mehr fahren. Das musste ich natürlich kontrollieren.

Ich schnappte mir mein Fahrrad und radelte mitten hinein in den ersten großen Angriff auf die Stadt. Konnte den Bahnhof schon sehen, die Bomben, die ersten Einschläge. Drehte ab in die Kalkarer Straße, raus aus der Stadt! Bin gerast wie ein Irrer.

Schwerer Fehler, freies Feld rechts und links, die Straße wie ein Damm in der Mitte.

Als ich zurückschaute, drehten die Bomber ab, weite Kurve, dann direkt auf mich zu.

Bin abgesprungen, habe Fahrrad Fahrrad sein lassen, bin in den Straßengraben, platt auf den Bauch. Da waren Einschläge vor mir, keine hundert Meter entfernt, dann direkt hinter mir, höchstens zwanzig Meter. Irgendwie, irgendwohin bin ich vorwärtsgerobbt. Musste mich festkrallen in der Erde, um nicht von den Detonationen hochgerissen zu werden.

Plötzlich war Stille. Ich habe aufgeschaut: überall Qualm, geborstene Bäume. Mein Fahrrad war unter Astwerk begraben. Ich habe es rausgezerrt, bin losgefahren Richtung Unterstadt. Überall Soldaten, Zivilisten auf den Straßen, Gesichter, Rufe. ‹Das Krankenhaus ist getroffen!›

Es war kein Durchkommen. Ich habe das Rad fallen lassen und bin gerannt. Dann stand ich vorm Hospital. Erichs Zimmer, die ganze Isolierstation war weg, ein qualmender Berg aus Steinen, Mörtel, Gestänge. Auf der Wiese lagen Kranke, die Nonnen liefen mit Decken und Kissen herum. Eine fasste mich an der Schulter. ‹Ich habe deinen Bruder gerade noch gesehen.›

Ich weiß nicht, wo ich mein Fahrrad gelassen hatte, also bin ich weitergerannt, die ganze Stadt hoch zum Mittelweg. Und da saß Erich, bleich und zitternd, sprach nicht, lange nicht. War einfach nach Hause gelaufen.

Evakuiert worden sind sie dann am nächsten Tag doch noch. Irgendwer hatte einen Lastwagen organisiert, der sie ins Ruhrgebiet brachte, von wo aus noch Züge verkehrten.

Kurt und ich blieben in unserer Wohnung, notdienstverpflichtet, zuständig für die Zwangsevakuierung.

Auf Kurts Moped fuhren wir zu unseren Einsätzen.

Ständig waren jetzt Flugzeuge über der Stadt. Bald konnten wir sie am bloßen Geräusch auseinanderhalten, die leichten Jabos, die großen viermotorigen Fernbomber. Einen kühlen Kopf bewahren, war das Wichtigste. Ahnen, aus welcher Richtung sie kommen, immer eine mögliche Deckung im Auge haben. Schutz suchen, notfalls unter einer Regenrinne, wenn sirrend die Schrapnellsplitter der Flak herabregneten.

Wir schmierten Butterbrote für die Leute, die auf ihre Evakuierung warteten, fraßen uns selbst dick und rund daran und am Eingemachten, das in unserem Keller stand und nebenan in Kurts Elternhaus. Sturmfreie Bude, herrlich! Ob wir Angst hatten? Nachts manchmal ein leises Gruseln, das schon.

Der 7. Oktober lief ab wie jeder andere Tag in diesen zwei Wochen.

Nach einem opulenten Mittagessen auf dem Mittelweg schwangen wir uns auf Kurts rotes Moped und knatterten los zu unserem Einsatz in der Adolf-Hitler-Straße. Die Sonne schien, der Himmel war wolkenlos.

Aber dann an der Linde sah ich im Westen die ersten Feindflugzeuge, es wurden mehr und mehr, und sie begannen zu kreisen. Ich habe nichts gesagt, Kurt hat nichts gesagt – wir wussten beide, was das bedeutete: Großangriff.

Dann saßen wir erstarrt auf dem Moped und sahen, wie die Bomben aus den Fliegern herausfielen.

‹Dreh um, Kurt, dreh um! Lass uns abhauen!›, schrie ich. Aber es war zu spät, viel zu spät.»

Fricka brach unvermittelt ab.

«Aber ihr habt euch in einen Bunker retten können, nicht wahr? Und nachher habt ihr Menschen aus den Trümmern geborgen», erinnerte sich van Appeldorn.

Der Onkel griff wieder nach seiner Bierflasche, seine Hände zitterten so stark, dass er sie kaum zum Mund führen konnte.

«Wieso habe ich einem kleinen Jungen davon erzählt? Ich war wohl immer noch nicht wieder bei Sinnen.»

Seine Augen waren trüb, als er Norberts Blick suchte.

Van Appeldorn stand auf, hockte sich neben den Sessel und nahm Frickas Hand. «Du bist müde. Es tut mir leid, dass ich dich so aufgeregt habe.»

«Ich bin erschöpft, ja.» Mit einem Knall stellte Fricka die Flasche auf den Tisch. «Und wenn ich erschöpft bin, überfällt mich dieses erbärmliche Zittern, ich hasse es.»

Seine Augen wurden wieder klarer, er drückte van Appeldorns Hand. «Bettzeit für Tattergreise.»

Aus dem Sessel ließ er sich helfen, aber dann schob er van Appeldorns Arm beiseite. «Jetzt haben wir gar nicht über deine Skelette gesprochen», sagte er und klang mürrisch.

«Das macht nichts, ich komme noch einmal wieder», erwiderte van Appeldorn beschwichtigend.

Onkel Fricka schaute ihm in die Augen. «Das wäre sehr schön.»

Van Appeldorn musste lange blinzeln.

«Was ist eigentlich ein Einmannloch?», fragte er schließlich.

Sein Onkel stutzte. «Die hat man damals entlang der Hauptstraßen gegraben, damit man sich vor den Tieffliegern in Sicherheit bringen konnte. Hast du davon noch nie gehört?»

Van Appeldorn grinste. «Hab ich wohl vergessen.»

Auch in den Augen seines Onkels blitzte wieder der Schalk. «Vergessen, so, so. Nun denn, ich werde mal in meinem Gedächtnis kramen. Ruf mich doch morgen an.»