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Zwanzig

Markus Heller war sympathisch.

«Ich hoffe, ich kann irgendwie helfen», sagte er. «Das mit Rainer ist schrecklich, es nimmt meine Frau sehr mit.»

Er folgte van Appeldorn ins Labor und ließ sich bereitwillig Fingerabdrücke und eine Speichelprobe abnehmen, dann kehrten sie ins Büro zurück.

«Er sieht jünger aus als fünfunddreißig», dachte Cox. Ein frisches Gesicht, blondes Haar, blitzblaue Augen hinter einer schicken Designerbrille. Seine Kleidung wirkte lässig, war aber, wie Cox, der eine heimliche Schwäche für gute Dinge hatte, wusste, sehr teuer.

«Ich habe meinem Schwager nicht sehr nahegestanden», begann Heller von sich aus. «Wir haben uns in den fünfzehn Jahren, die ich meine Frau kenne, sicher nicht öfter als sechs- oder siebenmal getroffen. Aber als er dann vorige Woche ins Krankenhaus musste, war meine Frau ganz verzweifelt. Sie ist ja ein Bauernkind und machte sich natürlich Sorgen um die Tiere. Da habe ich nicht lange gezögert und meine Hilfe angeboten.»

Cox nickte. «Ist Ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen auf dem Hof?»

Es war eine ziemlich lahme Frage, aber irgendwo musste man ja anfangen.

Heller wirkte ein wenig betreten. «Na ja, das ganze Anwesen ist etwas heruntergekommen. Ich habe erst einmal ein bisschen sauber gemacht.»

«Sind in den Tagen, in denen Sie dort waren, Leute auf den Hof gekommen?»

«Der Postbote war einmal da, und der alte Herr, der gegenüber wohnt, ist gekommen, um Milch zu kaufen. Das war’s auch schon, mein Schwager lebte sehr zurückgezogen.»

«Hat Ihr Schwager Ihnen erzählt, dass eine Firma an ihn herangetreten ist, die Interesse an seinem Land hat?», wollte van Appeldorn wissen.

Heller schüttelte den Kopf. «Ich habe überhaupt nicht mit meinem Schwager gesprochen.»

«Sie haben ihn nicht im Krankenhaus besucht?»

Heller lächelte. «Man merkt, dass Sie ihn nicht gekannt haben. Besuch wäre ihm äußerst unangenehm gewesen. Aber meine Frau hat regelmäßig mit dem behandelnden Arzt telefoniert und mich auf dem Laufenden gehalten. Man sagte ihr, Rainer müsse sicher drei Wochen stationär bleiben, und wir haben schon darüber nachgedacht, jemanden einzustellen, der den Hof hütet. Schließlich habe ich auch meinen Beruf.»

«Sie sind Immobilienmakler, nicht wahr?»

«Das ist richtig, und ein paar Tage lang kann man da schon mal seine Geschäfte telefonisch betreiben, aber nicht ein paar Wochen. Irgendwann muss man doch wieder persönlich in Erscheinung treten, Besichtigungstermine organisieren, Kundenkontakte pflegen. In meinem Beruf ist eine intensive Kundenbetreuung das A und O, die Konkurrenz auf diesem Markt ist groß.»

«Haben Sie denn jemanden gefunden, der für Sie auf dem Hof einspringen konnte?»

Wieder schüttelte Heller den Kopf. «Dazu ist es gar nicht mehr gekommen. Am Sonntag fuhr auf einmal ein Taxi vor, mein Schwager stieg aus und rief mich. Ich solle den Fahrer bezahlen, er hätte kein Geld dabei. Es war mir ziemlich peinlich, denn Rainer trug dieselbe schmutzige und leider nicht sehr wohlriechende Arbeitskleidung, die er wohl angehabt hatte, als er eingeliefert worden war. Sie war am Rücken voller Blut.»

Er schauderte leicht. «Mir kam er noch ziemlich angeschlagen vor, er konnte kaum richtig gehen. Aber er ist sofort in die Ställe und hat nach den Tieren gesehen. Dann ist er wortlos in seine Kammer gewankt. Ich bin ihm nach und wollte wissen, ob ich etwas für ihn tun konnte, aber daran hatte er wohl kein Interesse. ‹Und tschüss›, hat er gesagt und die Tür zugemacht. Ich meine, ich wusste, wie Rainer sein konnte, aber da war ich dann doch leicht angesäuert.»

«Kein Wunder», meinte Cox.

Heller machte eine wegwerfende Handbewegung. «Ist jetzt auch egal. Ich hab’s ja nicht für ihn getan, sondern für meine Frau. Tja, das war’s dann. Ich habe meine Sachen gepackt und bin nach Hause gefahren, und danach haben wir nichts mehr von Rainer gehört.»


Schnittges und Penny brachten die Kontoauszüge und Pachtverträge, die sie aufgestöbert hatten, und die Prospekte von Greenparc.

«Mehr ist dort nicht zu finden», sagte Penny. «Keine private Korrespondenz, keinerlei Hinweise auf Kontakte zu dubiosen Personen, nichts.»

«Aber wir haben van Gemmern dabei ertappt, wie er sich hinterm Schweinestall die Seele aus dem Leib kotzte», bemerkte Bernie. «Er sei nicht krank, hat er sofort versichert, er hätte nur seit über vierzig Stunden nicht mehr geschlafen. Der Mann ist wirklich verrückt, total manisch. Ich habe ihm angedroht, ihn zwangseinweisen zu lassen, wenn er nicht umgehend nach Hause fährt und sich auspennt. Aber er hat nur die Zähne gebleckt wie ein Totenschädel.» Schnittges war richtig wütend.

«Und dann?», drängte Cox.

«Dann ist Penny ihm um den Bart gegangen, von wegen, in diesem Zustand würde er keinem etwas nützen, wir wären doch darauf angewiesen, dass seine Ergebnisse uns voranbringen. Da ist er dann doch noch zahm geworden und abgedackelt. Penny hat eben mit ihm telefoniert, er ist tatsächlich heil zu Hause angekommen.»

«Dann wird’s wohl noch was dauern mit der Tatrekonstruktion», stellte Cox fest.

Ackermann steckte den Kopf zur Tür herein. «Zomer hat grad angerufen, aber er konnte noch nix sagen. Er war bei Greenparc, aber die machen freitags schon um zwölf dicht. Montag will er ’t nochmal probieren.» Er winkte. «Ich muss wieder, hab noch ’ne Telefonkonferenz wegen Spanien. Sonntag um drei auffem Platz. Un’ dat sich mir keiner von euch drückt!»


Ihnen wurde ein freies Wochenende beschert, und sie nahmen es dankbar an.

Van Appeldorns machten einen Ausflug in den Tiergarten, damit Paul Onkel Fricka «die wilden Schweine» zeigen und ihnen die Eicheln bringen konnte, die sie nicht verbastelt hatten. «Denen ihre Gummibärchen».

Ackermann besuchte seinen neuen Bekannten Volker Hetzel. Er hatte Fotos von Genmaispflanzen mitgenommen, aber das war gar nicht nötig gewesen, Hetzel konnte ihm auch so die «Kuckuckskinder» zeigen. Sie schmiedeten Pläne – Ackermann schmiedete, Hetzel stellte Fragen. Oder auch nicht, wer konnte das schon sagen?

Penny und Cox fingen an, ihren Garten winterfest zu machen, schnitten die Hecke, stutzten Sträucher, rechten Laub und tranken viel Tee.

Bernie las und schrieb Mails, durchforstete das Internet nach einer schönen Wohnung für Marie in Kleve, schrieb und las wieder, zweimal telefonierte er auch.

Plötzlich hatten sie einen freien Samstag, aber keiner von ihnen konnte sich wirklich entspannen.


Als van Appeldorn seine Sporttasche packte, stellte er fest, dass er tatsächlich aufgeregt war.

«Hej!» Ulli knuffte ihn. «Auch wenn sich’s blöd anhört, es ist nur ein Spiel.»

Er musste lachen. «Ja, ich weiß, ich bin bescheuert.»

«Gar nicht, du bist süß. Und jetzt fahr schon, du hast ja doch keine Ruhe mehr. Wir sind pünktlich eine halbe Stunde vorm Anpfiff da. Wenn ich Fricka so lange noch bändigen kann, von deinem Sohn mal ganz zu schweigen.»

Aber van Appeldorn kam kaum auf den Parkplatz. Mehrere Übertragungswagen standen dort und jede Menge anderer Fahrzeuge.

Er stellte sein Auto einfach quer vor der Garage des Vereinswirts ab.

Menschen wimmelten herum, sprachen in Handys, machten sich Notizen auf Klemmbrettern.

Mittendrin Heinz Winkels, der Vereinsvorsitzende, stolz wie ein Gockel.

Van Appeldorn stürmte auf ihn zu. «Was ist denn hier los?»

Winkels’ Blick war die reine Missbilligung. «Benefizspiel. Gott sei Dank hatten wir noch ein altes Banner.» Er zeigte nach oben.

Unter dem Schriftzug «Siegfried Kampfbahn» hatte man, leicht windschief, ein verblasstes Spruchband aufgehängt: «BENEFIZSPIEL». Das «F» von «für» konnte man noch erkennen, der Rest war mit Gaffertape überklebt.

«Das hättest du aber wahrhaftig ein bisschen früher sagen können!»

Van Appeldorn schloss die Augen. «Ackermann!»

«Ja, genau, der hat alles in die Hand genommen, du warst ja nicht da. Ein echtes Organisationstalent, so einen könnten wir brauchen. Hat sogar ein Kassenhäuschen mitgebracht, dabei hätte er das gar nicht müssen. Seine Frau kassiert übrigens den Eintritt. Die ganze Presse ist da, auch aus Holland und sogar RTL. Der WDR schneidet live mit und bringt dann die Ausschnitte die ganze Woche über in der ‹Aktuellen Stunde›.»

Van Appeldorns Magen ballte sich zu einer steinharten Kugel.

«Wo ist der Kerl?»

«Wer?»

«Ackermann!»

«Der sitzt in der Schankstube und gibt Interviews. Ich hab das ja alles gar nicht gewusst. Ich meine, klar hatte ich in der Zeitung von dem Massengrab gelesen, aber dass es keine Verwandten mehr gibt, die die Beerdigung bezahlen können, tja, über so was denkt unsereins ja nicht nach. Der Schiri will dich übrigens sprechen.»

«Welcher Schiri? Ich dachte, Franz wollte pfeifen, das hatten wir doch so abgesprochen.»

Winkels tippte sich an die Stirn. «Nein, mein Lieber, für so ein Ereignis muss ein Profi her. Jupp hat das in meine Hände gelegt, und ich habe das auf die Schnelle tatsächlich noch organisiert gekriegt. Man ist ja lange genug dabei.»

Van Appeldorn mahlte mit den Zähnen. «Ich bring ihn um!»

«Sind Sie der Trainer?» Eine junge Frau mit neongelben Korkenzieherlocken hielt ihm ein Mikrophon unter die Nase.

«Nein!», blaffte er sie an. Sie zog den Kopf ein und entfernte sich rasch.

«Die Holländer sind übrigens schon da, und deine Jungs sitzen auch schon in der Kabine. Die scheinen ziemlich sauer zu sein, dass sie in den abgelegten Trikots von der Ersten Mannschaft auflaufen sollen.»

Van Appeldorn schulterte seine Tasche. «Das wussten sie, und es hat sie bisher auch nicht gestört.»

«Da kamen sie ja auch noch nicht im Fernsehen.»

Auf dem Weg in die Kabine fing ihn der Schiedsrichter ab. Er war schon in voller Montur und hatte sogar zwei Assistenten dabei. Alle drei waren ausgesucht gut gelaunt.

«Sie sind der deutsche Trainer, nicht wahr? Herr Winkels hat mir etwas von zweimal zwanzig Minuten gesagt. Das geht unter diesen Umständen natürlich gar nicht. Sie, wir alle würden uns ja vor der Weltöffentlichkeit lächerlich machen. Volle Distanz, neunzig Minuten, etwas anderes kommt gar nicht in Frage, immerhin filmt das Fernsehen live mit.»

Van Appeldorns Protest schnitt er gekonnt ab. «Das niederländische Team ist sehr erfreut darüber, mit denen habe ich bereits gesprochen. Ihre Mannschaft scheint da eher geteilter Meinung zu sein, aber das ist das Problem des Trainers.» Er schaute auf seine eindrucksvolle Armbanduhr. «Wir sehen uns in fünfundfünfzig Minuten.»

Schuster kam ihm schon entgegengelaufen. «Neunzig Minuten! Das mach ich nicht mit, ich fahre nach Hause. Sieh zu, wie du klarkommst.»

«Das bleibt natürlich ganz dir überlassen.» Van Appeldorn musterte ihn kalt. «Hast du eigentlich schon mal was von gefälschten Protokollen gehört?»

Schuster verschluckte sich an einer Verwünschung und schlich in die Kabine zurück.


Dreißig Minuten lang ging alles gut – Kleve führte durch ein spektakuläres Ackermanntor –, dann begann das Elend. Van Appeldorn konnte gar nicht so schnell auswechseln, wie ihm Spieler auf dem Platz in die Knie gingen.

«Wo ist mein Traubenzucker? Jemand hat mir meinen Traubenzucker geklaut», jammerte Heuvens, dem das Blut über die Finger lief, weil er gar nicht mehr aufhörte, sich zu sticksen.

1:1 – Ausgleich.

Derks kam angetrabt. «Trainer, uns fehlt einer auf links. Wir haben nur zehn Mann auf dem Platz.»

Van Appeldorn drückte Heuvens ein Stück Würfelzucker in die Hand – er hatte mit dem Schlimmsten gerechnet. «Geht’s wieder? Dann los!»

Ein Pfiff und Ackermann, der brüllte: «Wo habt ihr denn diese Pfeife her? Dat war doch nie und nimmer ’n Elfer!»

Die Pfeife zeigte ihm die Gelbe Karte.

Zomer war der Elfmeterschütze, und Look, die Bank, der alte Killer, hielt.

Die Zuschauer jubelten.

Der Halbzeitpfiff.

Sie lagen am Spielfeldrand wie auf den Rücken gefallene dicke Käfer, japsend, mit blutunterlaufenen Augen.

«Ab in die Kabine!», bellte van Appeldorn.

«Genau», keuchte Ackermann. «Keiner auf diese Welt will sich dat Elend hier angucken.»

Zomer klopfte van Appeldorn im Vorübergehen auf die Schulter. «Guter Kampfgeist.»

Van Appeldorn verteilte Wasserflaschen, die über Köpfe und Rücken geleert wurden.

«Trinken sollt ihr», schimpfte er. «Okay», sagte er dann. «Wer von euch kann wirklich nicht mehr?»

Neun Hände fuhren in die Höhe, aber dann lachte jemand, und alle entspannten sich.

«Ich würde sagen, jetzt hilft nur noch der Muschiplan», sagte Derks laut.

«Der wat?» Ackermann hielt sich die Hand hinters Ohr.

«Abseitsfalle, und zwar auf vollen Poker. Der Schiri ist ein Korinthenkacker, und seine Assis sind voll auf seiner Linie. Die kriegen jedes Abseits mit. Wir müssen es einfach nur eiskalt durchziehen.»

«Der Plan könnt’ von mir sein!» Ackermann hatte sich erstaunlich schnell wieder erholt. «Un’ ich hab noch ’ne andere Idee. Norbert, has’ du scho’ ma’ wat von Spielertrainer gehört?»

Die zweite Halbzeit zeichnete sich durch Abseitspfiffe aus.

«Man kann ein Spiel auch kaputtpfeifen», kommentierte der Erste Vorsitzende säuerlich.

«Den Mann hast du doch geholt», erwiderte Franz. «Ich war ja auf einmal nicht mehr gut genug.»

In der 79. Minute fiel das 2:1 für Nimwegen durch den ausgezeichneten Mittelfeldmann Petrus Zomer, aber dann, vier Minuten später, kam, wie einstmals Günter Netzer, aus der Tiefe des Raumes Norbert van Appeldorn und versenkte das Leder souverän im linken oberen Eck.

Schlusspfiff. 2:2. Benefiz. Kein Waterloo.

Und nicht nur van Appeldorn wusste, dass er in den nächsten Tagen ganz bestimmt keine Treppen steigen würde.

«Is’ doch super gelaufen!» Ackermann strahlte ihn an. Er war schweißüberströmt, die Haare klebten ihm im Gesicht, und eines der roten Gummibänder, mit denen er seine Brille hinter den Ohren fixiert hatte, war gerissen.

Und van Appeldorn legte ihm, ebenso schweißnass und knickebeinig, den Arm um die Schultern.