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Sechzehn

Van Appeldorn war immer noch wütend, als er zu Cox ins Büro kam, setzte sich aber erst einmal hin und atmete durch. «Was hat sich bei dir getan?»

«Ich habe Kontakt zur Sondereinheit in Düsseldorf aufgenommen», sagte Cox in besonders ruhigem Ton. «Die sind pfiffig, die Jungs, hatten die Idee, das Rote Kreuz einzuschalten wegen unserer beiden Männer aus dem Massengrab. Falls es Fremdarbeiter waren, könnten sie in ihrer Heimat als vermisst gemeldet worden sein.» Er zog ein Blatt Papier heran. «Dann kamen zwei Anrufe wegen der beiden Down-Kinder, aber die waren wenig vielversprechend. Jetzt habe ich erst einmal eine Rufumleitung nach Düsseldorf schalten lassen, bis wir hier Grund in unserem Mordfall haben. Ich hoffe, das war in deinem Sinn.»

«Ja, natürlich, du wirst die Aktenführung übernehmen müssen», nickte van Appeldorn und berichtete dann von seinem fruchtlosen Gespräch mit der Wirtschaftsförderung. Er schob Cox das Gutachten hin, das man ihm mitgegeben hatte. «Vielleicht guckst du da mal drüber.»

«Mach ich.»

«Jupp hat übrigens seine eigene Theorie, was diese Greenparc-Leute angeht.»

Cox hörte zu. «Interessant», meinte er schließlich. «Aber deshalb bist du doch nicht so sauer.»

«Nein, sauer bin ich wegen etwas anderem.»

Wieder hörte Cox zu, ohne ihn zu unterbrechen. Dann nickte er langsam. «Ein Mordversuch. Der Täter schlägt Schraven bewusstlos und legt ihn dann auf die Schienen, damit er von dem Zug, der hier alle halbe Stunde verkehrt, überrollt wird.»

«Genau so», bestätigte van Appeldorn. «Wenn Schraven unter den Zug gekommen wäre, hätte kein Mensch mehr feststellen können, dass er zuvor niedergeschlagen worden war. Es wäre als Selbsttötung durchgegangen.»

«Und praktischerweise erinnert sich Schraven an nichts», ergänzte Cox. «Also konnte der Täter es noch einmal versuchen.»

«Hör mal», meinte er dann, «es hat seit Wochen nicht mehr geregnet. Vielleicht findet man am Bahndamm ja immer noch Spuren.»


Van Gemmern wurde fuchsteufelswild, als van Appeldorn, den kleinmütigen Derks und den trotzigen Schuster im Schlepptau, auf den Hof kam und ihm erklärte, es helfe alles nichts, er müsse sofort mitkommen und sich einen anderen Tatort anschauen.

«Hast du dich hier mal umgesehen?», schnauzte er. «Glaubst du, die Arbeit macht sich von allein?»

Van Appeldorn starrte ihn verdutzt an, er konnte sich nicht erinnern, dass van Gemmern jemals laut geworden war. Was mochte ihm über die Leber gelaufen sein?

Entschieden nahm er ihn beiseite und erklärte ihm leise, worum es ging.

«In Gottes Namen», sagte van Gemmern schließlich. «Wenn es nicht zu weit weg ist.»

«Keine zwei Kilometer», gab van Appeldorn an. «Wir fahren vor deinem Transporter her und zeigen dir den Weg.»

Da klingelte sein Handy. Er fluchte.

Es war Ulli. «Wir hatten einen sehr schönen Tag miteinander, aber jetzt möchte Fricka gern wieder nach Hause. Spricht irgendwas dagegen?»

Van Appeldorn raufte sich die Haare. «Allerdings! Hier draußen läuft ein Mörder rum, der sich einbilden könnte, dass Fricka ihn gesehen hat. Er kann erst in sein Haus zurück, wenn wir den Täter gefasst haben.»

Er hörte, wie Ulli erschrocken nach Luft schnappte, und sie tat ihm leid. Er hatte nicht nur von nichts auf gleich einen alten Onkel aus dem Hut gezaubert, jetzt sollte der auch noch bei ihnen einziehen. Aber er hatte Ulli falsch eingeschätzt.

«Er wird nicht bei uns bleiben wollen, Norbert», meinte sie bedrückt. «Fricka sorgt sich ja jetzt schon, dass er uns zur Last fällt … Aber ich kriege das schon irgendwie hin. Er wird sicher Kleidung und andere Dinge aus seinem Haus brauchen.»

«Ja, natürlich, ich schicke euch einen Streifenwagen, der euch her- und wieder zurückfährt.»

«Muss das wirklich sein?»

«Ja, es muss sein. Tut mir leid, dass ich so kurz ab bin …»

«Mach dir keine Sorgen, wir kommen schon klar.»

«Da bin ich sicher.» Van Appeldorn schickte ihr eine stumme Umarmung durch die Leitung. «Es wird bestimmt spät heute, aber ich melde mich zwischendurch mal.»


Van Gemmern fand die Schleifspur, die stellenweise durch die Polizisten, den Notarzt und die Sanitäter zertreten worden war, aber deutlich ihren Anfang am Straßenrand hatte, dann durch einen kleinen Graben, die Böschung hinauf über den Schotter bis zu den Gleisen führte.

Und er fand an mehreren Stellen im Gras Blutspuren.

Schließlich kniete er am Straßenrand und goss Reifenspuren aus.

«Zwei verschiedene Autos», erklärte er van Appeldorn. «Diese Spur hier dürfte vom Notarztwagen stammen und die andere vielleicht von dem Wagen, in dem Schraven hergebracht wurde. Die beiden Helden da vorn hatten ihr Auto auf der anderen Straßenseite geparkt.» Er kam wieder hoch. «Für mich eine ganz eindeutige Spurenlage», bemerkte er spitz mit einem Blick auf Schuster und Derks, die ein wenig abseits im Gras saßen.

Derks stand schwerfällig auf und sah aus, als würde er zu heulen anfangen. «Der Mann könnte noch leben, wenn ich …», stammelte er, «wenn ich …»

«Das wissen wir nicht», sagte van Appeldorn. «Lass gut sein, Junge.»

Endlich kam auch Schuster auf die Beine. «Es tut mir leid, Norbert», stieß er hervor, «echt leid.»

Van Gemmern gab ein ungehaltenes Zischen von sich und schob sich zwischen ihnen hindurch. «Für so einen Scheiß habe ich wirklich keine Zeit.» Er hielt ihnen den Beutel mit den blutbefleckten Grashalmen unter die Nase. «Seht lieber zu, dass das hier in die Pathologie kommt, damit wir wissen, ob es wirklich Schravens Blut ist.»


Van Appeldorn hatte die Teamsitzung für sieben Uhr angesetzt, aber es wurde dann doch schon fast acht, bis alle da waren, müde und aufgedreht zugleich, vor allem aber sehr hungrig. Cox hatte Pizza bestellt, und während sie darauf warteten, sortierten sie, jeder für sich, ihre Notizen und Gedanken.

Aber irgendwann hielt Cox es nicht mehr aus: «Was diese Monsanto-Geschichte angeht …»

«Was für eine Geschichte?» Pennys Blick war nicht sonderlich liebevoll. «Anscheinend habe ich da etwas verpasst.»

«Jupp hat da so eine Idee, wer wirklich hinter Greenparc stecken könnte», sprang van Appeldorn Peter zur Seite und erzählte von seinem Gespräch mit Ackermann.

«Das hört sich für mich schon wieder nach einer Räuberpistole an.» Penny war offenbar wirklich genervt.

«Nein, warte mal», bemerkte Bernie. «Ich glaube, ich habe schon öfter was über Monsanto in der Zeitung gelesen, neulich erst wieder. Da ging es um einen Bauern, der seine Milchkühe mit Genmais gefüttert hat und dem alle seine fünfzig Tiere verendet sind.»

Der Pizzabote kam und wischte sich mit einem Tuch das nasse Gesicht.

«Regnet es etwa?»

«Es schüttet wie aus Eimern.»

Van Appeldorn machte im Stillen drei Kreuze, dass er van Gemmern hatte überreden können, den Bahndamm sofort zu untersuchen.

«Was wolltest du denn eigentlich sagen, Peter?», fragte er.

Cox hatte den Mund schon voll Pizza und musste erst einmal kauen und schlucken.

Er wischte sich die Lippen ab. «Du hast mir doch heute Morgen das Gutachten von der Wirtschaftsförderung gegeben, Norbert. Dadrin ist eine schöne Karte von dem Gebiet, um das es eigentlich geht. Ich habe mir dann einen Katasterauszug besorgt. Es handelt sich um eine zusammenhängende Ackerfläche, die elf Betriebe unter sich aufteilen. Hetzel, Vermeer und Schraven gehören dazu. Mit den anderen acht Grundbesitzern habe ich telefoniert. Bei jedem von ihnen sind Greenparc-Mitarbeiter gewesen und haben ihnen die Genossenschaftsidee schmackhaft gemacht. Und sie sind alle dafür. Sie wussten auch, dass drei Leute dabei nicht mitmachen wollten, Hetzel, Vermeer – und Schraven. Sie konnten aber deren Ablehnung nicht so recht verstehen. Weil – und jetzt kommt es – sie alle davon überzeugt sind, dass die Greenparc-Leute von der Wirtschaftsförderung geschickt worden sind. Sie waren ganz verwirrt, als ich ihnen erzählt habe, dass Greenparc ein holländisches Unternehmen ist, das eigene wirtschaftliche Interessen verfolgt und keinesfalls zur Wohlfahrt gehört. Ich bin ziemlich sicher, dass die meisten mir nicht geglaubt haben. Greenparc sei eine Firma, die vom Kreis Kleve mit der konkreten Umsetzung des Projektes beauftragt worden sei, behaupten sie stur. Und als ich dann ganz vorsichtig das Wort ‹Gentechnik› habe fallenlassen, wurden die meisten einigermaßen sauer.»

«Schraven war also auch gegen das Projekt», hielt Schnittges fest.

Ihre Gedanken überschlugen sich.

«Beim ersten Anschlag auf Schraven könnte man durchaus an Profis denken», sprach van Appeldorn aus, was alle dachten, «und Hetzel ist denen gerade noch so entkommen.»

«Gereon!», rief Penny, und niemand wunderte sich.

«Möglicherweise war das gar kein Unfall. Vielleicht hat man das Motorrad manipuliert», schlug Schnittges vor.

«Nein.» Cox schüttelte den Kopf. «Die Maschine ist untersucht worden.»

«Und wenn man ihn vergiftet hat …» Penny legte ihr Pizzastück aus der Hand.

«Wir lassen ihn exhumieren», beschloss van Appeldorn.

«Glaubst du, das kriegst du bei der Staatsanwaltschaft durch?» Cox war skeptisch.

«Das lasst mal meine Sorge sein.» Van Appeldorn spürte neue Energie. «Auf alle Fälle müssen wir jetzt die Kollegen in Nimwegen einschalten. Die sollen diese dubiose B. V. gründlich auf den Kopf stellen.»


Bernie hatte versucht, es sich mit einem Glas Rotwein vor dem Fernseher gemütlich zu machen, aber er kam einfach nicht zur Ruhe.

Schließlich gab er auf, goss sich ein zweites Glas Wein ein, setzte sich an seinen PC und gab Monsanto ein.

Die «Agent Orange»-Geschichte, von der Ackermann erzählt hatte, fand er schnell, aber dann brauchte er Stunden, sich durch die Unzahl von Eintragungen im Netz zu arbeiten.

Irgendwann hatte er einen roten Faden gefunden.

Er machte sich ein Käsebrot, ging pinkeln, holte sich eine Flasche Wasser, noch ein Glas Wein, suchte in der Küche nach Schokolade, drehte die Heizung an, weil er fror, wanderte vom Arbeitszimmer ins Schlafzimmer, ins Wohnzimmer und wieder zurück, merkte das alles aber nicht, weil er diesen Faden nicht verlieren wollte.

So, wie es aussah, hatte Monsanto zunächst Unkrautvernichtungsmittel hergestellt, unter anderem PCB und DDT. Irgendwann fand die Welt dann heraus, dass diese Herbizide große Umweltschäden anrichten und für Mensch und Tier giftig sind. Daraufhin entwickelte Monsanto 1968 ein neues Herbizid, «Glyphosphat», das nach eigener Aussage völlig ungefährlich war, und brachte es 1974 unter dem Namen «Roundup» auf den Markt. «Glyphosphat ist weniger giftig für Ratten als große Mengen eingenommenes Tafelsalz», warben sie.

«Roundup» wurde zunächst zur Unkrautbekämpfung in Wäldern und Parks versprüht, kam dann 1988 auch für Hobbygärtner auf den Markt und wurde zum beliebtesten und meistverkauften Unkrautvernichter.

Das Patent für «Roundup» lief im Jahr 2000 aus, und Monsanto machte sich auf die Suche nach einer neuen Goldgrube. Da kam ihnen die Nachricht gerade recht, dass es der Genforschung, ein bisher eher belächeltes Gebiet der Biologie, zum ersten Mal gelang, Teile von Genen herauszubrechen und woanders wieder einzubauen.

Ab 1985 dann stellte Monsanto die eigene Forschung darauf ab, genveränderte Organismen (GVO) zu entwickeln, die gegen «Roundup» resistent waren, Nutzpflanzen, die das Besprühen mit «Roundup» schadlos überstanden, während alle Unkräuter auf den Feldern eingingen.

Zwei Jahre lang forschte Monsanto erfolglos in seinen Labors, dann suchte man auf einer organischen Mülldeponie, die man großzügig mit «Roundup» besprüht hatte, nach Organismen, die das Gift überlebt hatten, und wurde tatsächlich fündig bei der Petunie und dem Blumenkohlmosaikvirus.

In den folgenden Jahren arbeitete Monsanto daran, Organismen dazu zu zwingen, das resistente Gen ins eigene Genom einzubauen. Vor allem Soja und Mais wurden mit Genkanonen beschossen, und 1993 gelang das Experiment tatsächlich. Monsanto meldete auf das genveränderte Saatgut Patente an.

Die Zulassung der GVO (zu dem Zeitpunkt Genmais und Gensoja) stieß in den USA auf keinerlei Probleme. Die Ernährungsbehörde sprach damals vom ‹Prinzip der substanziellen Äquivalenz› und legte fest: GVO enthalten dieselben Inhaltsstoffe wie normale Lebensmittel, deshalb benötigt man für GVO keine besonderen Gesetze, und Genfood muss auch nicht gekennzeichnet werden.

Erste Proteste tauchten auf, gingen aber sofort wieder unter.

1996 bekam Monsanto dann einen neuen Chef: Robert Shapiro, ein Mann mit einer Mission. Er trat auf wie ein Prediger, reiste in der Weltgeschichte herum und verkündete: Die Welternährung ist einzig und allein durch Genfood zu garantieren.

Bisher hatte Monsanto Herbizide hergestellt, Shapiro aber kaufte nun weltweit alle Saatgutfirmen für Soja, Mais und Weizen auf.

1998 versuchte Monsanto dann, ein sogenanntes «Terminator-Patent» auf eine Pflanze zu bekommen, die am Ende ihres Wachstums ein Protein produzierte, das die Samenkörner sterilisierte.

Bernie hielt die Luft an. Das bedeutete ja, den seit Menschengedenken natürlichen Prozess von Aussaat, Ernte, Zurückbehalten von gesundem Saatgut und erneuter Aussaat gab es ab jetzt nicht mehr. Die Welt war auf Gedeih und Verderb den Saatgutherstellern ausgeliefert. Er las weiter. Jetzt wurden die Proteste so laut, dass Monsanto es nicht schaffte, diese Pflanzen auf den Markt zu bringen.

Ende der neunziger Jahre versuchte Shapiro, auf dem europäischen Markt Fuß zu fassen, und wurde dabei massiv von der ersten Bush-Regierung unterstützt, weil fünf Minister Monsanto-Leute waren, das heißt, sie hatten vorher bei Monsanto gearbeitet oder waren später für Monsanto tätig, unter anderem Donald Rumsfeld. Aber nicht nur die Republikaner waren Genfood-Anhänger, auch Bill Clintons Wahlkampfleiter beschimpfte öffentlich Europa, weil es darauf bestand, GVO zu kennzeichnen.

Im Jahr 2000 beschloss Monsanto, dass das Thema Genfood für Laien einfach zu kompliziert war, und gründete die Abteilung «Regulatory Affair and Scientific Outreach», zu der verschiedene Rechtsanwaltskanzleien und Detekteien in St. Louis gehörten, deren Aufgabe es war, kritische Wissenschaftler zum Verstummen zu bringen und namhafte Unterstützer für Genfood zu gewinnen. Das gelang zum Beispiel beim britischen Premierminister Tony Blair.

Im selben Jahr versuchte Monsanto, Frankreich zu erobern. Zwanzig Millionen Euro wurden in die Werbung für «Roundup» gesteckt. Ein Jahr später stellte man fest, dass plötzlich 75 % der Gewässer in Frankreich den Grenzwert für Herbizide überschritten hatten und so Fische aus einheimischen Flüssen, Seen und küstennahen Gewässern nicht mehr essbar waren. Erste Berichte über Lymphome und Myelome bei Tieren, die mit Genmais gefüttert wurden, tauchten auf.

Man entdeckte, dass «Roundup» in transgenem Mais und Soja nicht etwa abgebaut wurde, sondern erhalten blieb und über die Nahrungskette zum Menschen gelangte. Es führte zu einer Steigerung von Früh- und Fehlgeburten und senkte die Produktion von Sexualhormonen um 94 %.

Drastisch war die Lage in Südamerika.

In Argentinien hatte Monsanto das Land mit transgenen Soja-Monokulturen überzogen, aber auch die Nachbarländer Brasilien und Paraguay waren inzwischen verseucht. Dort wurde das Saatgut von Monsanto eingeschmuggelt und illegal ausgebracht, mit dem Ziel, Patentrechte einzuklagen. Inzwischen waren auch natürliche Maniok-, Süßkartoffel- und Baumwollfelder zerstört worden durch unkontrolliert herumfliegendes «Roundup». Denn, und das war dem Hersteller bekannt, nur 0,3 % von «Roundup» erreichte die Pflanze, die erreicht werden sollte, 99,7 % des Giftes flog in der Luft herum, wurde von Wind und Wasser, von Traktoren und Lastwagen weitergetragen und verseuchte die Umwelt, tötete alle Pflanzen, die nicht resistent waren.

Heute starben in Argentinien Hühner und Enten, Schweine brachten Missgeburten zur Welt, Pferde brachen vor Schwäche zusammen. Obst und Flüsse waren verseucht, Menschen litten an Schäden von Leber, Nieren und Bauchspeicheldrüse und brachten missgebildete Kinder zur Welt.

In Europa war die Lage anders – noch.

Bernies Augen brannten. Er rieb sich den Nacken und merkte, dass seine Schultern ganz verspannt waren, außerdem hatte er einen trockenen Mund. Keinen Wein mehr, entschied er, sonst hatte er morgen einen dicken Kopf, lieber einen Becher Kräutertee. Steifgliedrig ging er in die Küche. Er musste kein Licht einschalten, der Widerschein der starken Lampen, die nachts die Schwanenburg von unten anstrahlten, reichte völlig aus. Er stellte den Wasserkessel auf, hängte einen Teebeutel in einen Becher und trat dann ans Fenster. Die Turmuhr zeigte 2 Uhr 35. Er hatte gar nicht gemerkt, dass es schon so spät war. Mit dem Becher in der Hand ging er an seinen Schreibtisch zurück, setzte sich, tippte gegen die Maus, damit der Bildschirmschoner verschwand, und konzentrierte sich wieder.

Es sah so aus, als ob sich am 10. August 1998 in der BBC-Sendung World in Action erstmals ein Wissenschaftler kritisch geäußert hatte. Arpad Pusztai hatte gesagt: «Ich halte es für unverantwortlich, die Bürger Großbritanniens zu Versuchstieren zu machen.»

Pusztai arbeitete am «Rowett Research Institute» in Aberdeen und erforschte eine Kartoffelsorte, die ein Schneeglöckchengen enthielt, das Lektine gegen Blattläuse produzierte. Dabei stellte er unter anderem fest, dass dieses Fremdgen von der Kartoffel willkürlich ins Genom der Zelle eingebaut wurde und nicht, wie Monsanto-«Wissenschaftler» behaupteten, immer an derselben Stelle. Der Lektingehalt der Kartoffel schwankte erheblich und war völlig unberechenbar.

Das legte nahe, dass die Gentechnologie, als sie zum Einsatz kam, noch lange nicht ausgereift, nicht plan- und damit auch nicht kontrollierbar war. Zudem bildeten die Ratten in Pusztais Labor, die mit der Kartoffel gefüttert wurden, vermehrt Magenzellen, während gleichzeitig der Darm verkümmerte. Sie hatten Schäden an Hirn, Leber, Testikeln und Pankreas, und dabei arbeitete ihr Immunsystem die ganze Zeit auf Hochtouren.

Zwei Tage nach der Fernsehsendung meldete sich Monsanto bei Präsident Clinton, der seinerseits Kontakt zu Tony Blair aufnahm. Blair setzte sich mit Pusztais Chef in Verbindung, und die oberste Wissenschaftsbehörde Großbritanniens, die Royal Society, suspendierte Pusztai. Die Forschung an der Kartoffel wurde mit sofortiger Wirkung eingestellt, alle Rechner wurden konfisziert, und Pusztai erhielt eine GAG-Order – ein Verbot, mit der Presse zu sprechen. Gleichzeitig startete die «Regulatory Affair and Scientific Outreach»-Abteilung von Monsanto in St. Louis eine Pressekampagne gegen Arpad Pusztai, in der der Wissenschaftler als unglaubwürdig dargestellt und verunglimpft wurde.

Aber dieses Mal horchte die Welt auf, und der Schuss ging nach hinten los. Große Lebensmittelkonzerne wie Unilever, Nestlé, Sainsbury, McDonald’s und Burger King gaben öffentlich bekannt, dass sie Genfood ablehnten und keine genveränderten Organismen verarbeiten wollten.

In Europa gab es seit 1999 eine Kennzeichnungspflicht für GVO. In den USA gab es sie nicht. Jeder Schokoriegel, jedes Müsli, jedes Brot, das man heute in einem amerikanischen Supermarkt kaufen konnte, war mit GVO versehen, über die Nahrungskette sogar die Milch und alle Milchprodukte. Die Menschen dort wussten das nicht, und ganz sicher wussten sie nicht, dass sie mit jedem genveränderten Inhaltsstoff gleichzeitig das Pflanzengift «Roundup» zu sich nahmen, das eben nicht abgebaut wurde und von dem man inzwischen überall auf der Welt wusste, was es im menschlichen Körper anrichtete.

Heute ist der Maisexport der USA nach Europa komplett eingebrochen, «Roundup»-resistenter Weizen fand keine Abnehmer mehr, und so hatte Monsanto die Produktion und den Vertrieb im Mai 2004 eingestellt.

Doch schien es bereits eine weltweite Kontaminierung mit GVO zu geben, und diese war irreversibel. Die Geister, die man rief, wurde man nie wieder los …


Bernie fühlte sich klebrig, im Zimmer war es viel zu warm.

Er drehte die Heizung wieder ab und ging ins Bad. Während er duschte, versuchte er, das, was er gelesen hatte, im Kopf so zu sortieren, dass er den anderen davon berichten konnte. Dann trocknete er sich flüchtig ab – er würde zusätzlich zu seinem Wecker auch noch den Handywecker stellen müssen, sonst würde er nie rechtzeitig aus dem Bett kommen –, ging zurück ins Arbeitszimmer, um den Computer auszuschalten, und stellte fest, dass, während er recherchiert hatte, eine Mail eingegangen war:

«Bin eben erst angekommen, der Verkehr war mörderisch. Hier ist immer noch Sommer, die Stadt geht gerade erst schlafen, in meiner Mansarde steht die Hitze. Vielleicht wunderst du dich, dass ich dir schreibe, aber manchmal trifft man jemanden und weiß vom ersten Augenblick an, dass man auf einer Wellenlänge liegt. Marie»

Bernie überlegte gar nicht. «Ich weiß genau, was du meinst. Mir geht es wie dir», schrieb er und drückte auf Senden.