Drei
Die Berichte über den Knochenfund in den Lokalteilen der beiden Zeitungen waren, wie van Appeldorn gehofft hatte, kurz und sachlich gewesen, man hatte nicht einmal Fotos gebracht.
Dennoch waren schon am Samstagnachmittag die ersten Kamerateams und Reporter der Privatsender aufgetaucht, und über den Sonntag waren es noch mehr geworden.
Die Schutzpolizei hatte es geschafft, den Opschlag so weiträumig abzusperren, dass van Gemmern und seine Spurensicherung ungestört arbeiten konnten, aber allein die Anwesenheit der Fernsehleute brachte Unruhe in den Ort, halb Kleve schien sich an diesem Wochenende in der Unterstadt zu tummeln.
Als Norbert van Appeldorn am Montag früh ins Präsidium kam, erwartete ihn ein genervter Pressesprecher. «Die rennen mir hier die Bude ein», ächzte er. «Und ich kann nichts anderes tun, als sie mit irgendwelchen Floskeln abzuspeisen. So langsam brauche ich mal etwas Konkretes von euch.»
«Wir wissen doch selbst noch nichts», gab van Appeldorn zurück. «Aber okay, sag ihnen, dass die Knochen momentan von Pathologen, Historikern und Anthropologen untersucht werden. Und da es sich um einen historischen Fund handelt, werden wir wohl auch Archäologen anfordern müssen.»
«Stimmt das denn?» Der Kollege schaute ihn skeptisch an.
Van Appeldorn zuckte die Achseln. «Bonhoeffer wollte einen Anthropologen hinzuziehen. Aber er hat sich noch nicht wieder bei uns gemeldet. Setz für morgen um elf eine Pressekonferenz an. Bis dahin werden wir ja wohl zumindest ein vorläufiges Ergebnis haben.»
«Ich nagele dich darauf fest, Norbert.»
«Das kannst du.»
Im Büro begrüßte ihn ein ausgesprochen fröhlicher Bernie Schnittges.
«Ich habe die Wohnung am Blauen Himmel bekommen. Wenn ich will, kann ich sofort einziehen. Sie ist toll.» Er streckte van Appeldorn seine Hand entgegen. «Danke für die Vermittlung. Du hast was gut bei mir.»
Aber van Appeldorn winkte ab. «Keine große Sache. Hast du schon was gehört?»
«Klaus war eben da. Heute Mittag um zwei will er uns einen vorläufigen Bericht liefern, er bringt auch Arend mit – und Marie.»
«Wer ist Marie?»
«Arends neue Assistentin, wie es sich anhört.»
«Eine Anthropologin?»
Schnittges zuckte die Achseln. «Weiß ich nicht. Auf alle Fälle muss sie ein Genie sein, Klaus ist richtig ins Schwärmen geraten.»
«Klaus? Ins Schwärmen?» Van Appeldorn zog ungläubig die Augenbrauen hoch.
Bernie schmunzelte. «So würde ich es beschreiben, ja.»
«Ach was? Und? Hat er vielleicht auch irgendwas Sachdienliches preisgegeben?»
«Nur dass sich die Liegezeit bestätigt hat, ungefähr fünfundsechzig Jahre.»
«Dann geht uns das ja tatsächlich etwas an.» Es war Peter Cox, ihr Aktenführer, der hereingekommen war und die letzten Sätze gehört hatte. «Ich hab’s gestern in der Zeitung gelesen: ‹Skelettfund am Opschlag›, und mich gefragt, ob wir da vielleicht tätig werden müssen.» Er hängte seine Jacke über seinen Schreibtischstuhl und setzte sich. «Dann erzählt mal.»
Aber dazu kam es nicht, denn jetzt stand auch Penny in der Tür, die vierte in ihrem Team.
Penny Small, die junge Engländerin, arbeitete seit fast drei Jahren beim KK11 und war seit dem vergangenen Sommer mit Peter Cox verheiratet.
«Morgen.»
Schnittges schaute sie besorgt an. Sie sah aus, als hätte sie stundenlang geweint, und auch Peter war ungewohnt blass. «Was ist denn mit euch?», fragte er und biss sich sofort auf die Lippen. Vielleicht hatten die beiden Krach miteinander, und das ging ihn nun wirklich nichts an.
Aber Penny antwortete sofort: «Bei unserer Motorradtour ist jemand ums Leben gekommen.»
«Das ist ja furchtbar.»
«Jetzt setz dich mal hin, Mädchen», sagte van Appeldorn, «sonst kippst du uns noch um. Wie ist das denn passiert?»
Sie schüttelte nur stumm den Kopf, sodass Cox schließlich einsprang. «Es war am Freitag, gleich zu Beginn unserer Tour, kurz hinter Moyland. Gereon ist in einer Kurve weggerutscht und unter seine Maschine geraten. Er war sofort tot.»
Penny hatte sich inzwischen gesetzt und die Stirn in die Hände gestützt. «Ich begreife es einfach nicht. Er war direkt hinter mir, und es war eine völlig harmlose Kurve. Ich habe sie ganz locker genommen, und ich war sicher schneller als er.»
«Gereon?», fragte van Appeldorn. Der Name war ungewöhnlich. «Gereon Vermeer, der Ökobauer aus Bedburg?»
«Ja», bestätigte Cox. «Kanntest du ihn?»
«Wir kaufen manchmal in seinem Hofladen ein. Ich wusste nicht, dass er zu eurer Motorradgruppe gehört.»
«Doch, schon von Anfang an, seine Frau eigentlich auch.» Cox musste schlucken. «Aber Britta war diesmal nicht mit dabei, weil sie vor einer Woche ein Kind bekommen haben.»
«Ach du Scheiße!»
«Ich kann es einfach nicht begreifen», sagte Penny, jetzt lauter. «Gereon ist einer der besten Fahrer, die ich kenne. Und wieso ist er nicht abgesprungen? Man springt doch ab, wenn man die Kontrolle über die Maschine verliert, das macht man ganz automatisch.»
Es blieb eine Weile still.
Endlich fragte Cox vorsichtig: «Geht’s wieder?»
Penny straffte sich. «Ja, sicher», und schaute van Appeldorn an. «Dann bringt uns mal auf den Stand der Dinge. Wir wissen nur, was in der Zeitung stand.»
«Wir müssen also warten, bis Klaus und Arend heute Nachmittag kommen», meinte sie, als van Appeldorn geendet hatte. «Sind die Skelette intakt?» Sie hob die Hand, als sie van Appeldorns unmutiger Blick traf. «Ich weiß schon, der Bagger. Ich dachte nur, wenn es sich um Bombenopfer handelt, dann müssten die Knochen doch kaputt sein.»
«Das habe ich beim besten Willen nicht erkennen können.»
«Es schadet auf keinen Fall, wenn wir uns im Stadtarchiv die Bebauung am Opschlag vor dem Krieg anschauen», sagte Bernie. «Besser, als bis zwei hier zu sitzen und Däumchen zu drehen.» Was auch ihm einen verärgerten Blick einbrachte.
«Na, dann macht euch auf», meinte Cox schnell. «Ich halte die Stellung und gucke mal, was ich im Netz darüber finde.» Er fuhr seinen Computer hoch. «Man könnte vielleicht auch mal Jupp fragen, der kennt bestimmt jemanden, der etwas darüber weiß.»
Josef Ackermann, ein Kollege vom Betrugsdezernat, war am Niederrhein geboren und aufgewachsen und kannte immer einen, der einen kannte, und er half stets höchst erfreut bei der Mordkommission aus.
«Jupp ist gar nicht im Lande.» Van Appeldorn hörte sich beinahe erleichtert an. «Soweit ich weiß, ist er in Spanien einem internationalen Subventionsbetrug auf der Spur.»
Als sie aus dem Stadtarchiv zurückkehrten, hängte van Appeldorn erst einmal die Kopie eines Stadtplans aus dem Jahr 1929 an die Ermittlungstafel.
An der rechten Seite des Kanals zwischen den beiden Brücken hatten damals keine Häuser gestanden, das wussten sie jetzt.
Der Archivar war sehr hilfsbereit gewesen, hatte den drei Kripoleuten die verschiedensten Quellen gezeigt, und wenn die Zeit nicht gedrängt hätte, wären sie sicher viel länger geblieben. So hatten sie nur das Wichtigste kopiert und setzten sich nun zusammen, um sich ein erstes Bild der Stadt während der Kriegsjahre zu machen.
«Als Ende August 1944 die Front näher rückte, erging der Befehl, einen Panzergraben auszuheben, der sich vom Dorf Keeken an der holländischen Grenze bis zur Anhöhe des Reichswaldes zog, ein 3 Meter 50 tiefer, oben 8 Meter breiter Graben, der die Panzer der Alliierten aufhalten sollte», begann van Appeldorn. «Da die wehrtüchtigen Männer alle an der Front kämpften, wurden Hilfskräfte aus dem Ruhrgebiet herangeschafft. Männer, sechzig Jahre und älter, gruben täglich, auch sonntags, von morgens um acht bis abends um sechs. Aber die Arbeit ging nicht schnell genug voran, also brachte man Kriegsgefangene, Holländer, Italiener, Polen, Russen, Ukrainer, Tausende.
Untergebracht wurden sie zu Hunderten in Baracken, Kuhställen, Scheunen und Schulen. Das Essen war knapp, dünne Suppe und Brot, es gab kein fließendes Wasser, keine sanitären Anlagen, Infektionen breiteten sich aus, die Männer waren unterernährt und schwach. Die Aufsicht über diese verzweifelte Aktion hatte die SA.
Während der gesamten Bauzeit griffen immer wieder Tiefflieger die Schanzarbeiter an, aber es wurde auch auf Eisenbahnen geschossen, auf Tiere und Zivilisten.
Am 17. September 1944 beim Grenzort Wyler «fiel die Front vom Himmel». Die amerikanische 82. Luftlande-Division ließ ihre Truppe mit Fallschirmen abspringen, Lastensegler setzten schweres Gerät ab, brachten Waffen und Munition.
Die SA-Leute machten sich aus dem Staub und ließen die Schanzarbeiter zurück.
Plötzlich war der ganze Kreis Kleve überschwemmt mit fremden Arbeitern und zurückflutenden Truppen.
Auch in der Stadt herrschte Chaos. Parteigenossen versteckten ihre Uniformen und schlossen sich den aus Holland Richtung Wesel fliehenden Frontsoldaten an. Fremdarbeiter zogen durch die Straßen, desertierte Soldaten schoben Handkarren mit Möbeln und Haustieren, Plündergut aus Holland und den Dörfern auf deutscher Seite.
Die Front erstarrte auf deutschem Boden zwischen Wyler und Zyfflich, keine zehn Kilometer von der Stadt entfernt. Die Alliierten versuchten, Nachschubstraßen und Bahnlinien zu zerstören, dadurch war Kleve immer wieder Jaboangriffen ausgeliefert.»
«Jabos, das sind Jagdbomber, nicht wahr?», fragte Penny und las aus ihren Notizen vor: «Am 22. September 1944, einem Freitagnachmittag, fallen in Kleve dreizehn Menschen einem Jaboangriff zum Opfer, Stadthaus und Stadtbad werden zerstört, sieben Menschen sterben in ihrem Wohnhaus an der Kalkarer Straße. ‹In der Wohnung gefallen durch Feindeinwirkung›, steht hier. Könnte das denn nicht auch auf unsere Toten zutreffen, selbst wenn dort am Opschlag kein Haus gestanden hat? Vielleicht waren sie Besucher des Schwimmbads, das lag doch gleich um die Ecke.»
«Nein», entgegnete van Appeldorn. «Man hätte sie auf dem Friedhof beigesetzt, in jedem Fall.»
«Weißt du das wirklich so genau? In dem Chaos?», fragte Penny. «Hört mal, hier: ‹Einen Tag später nur ist das Bahngelände den ganzen Tag lang Jaboangriffen ausgesetzt, dabei kommen am Güterbahnhof mehrere Menschen um.›»
Auch Cox hatte seine Zweifel. «Wir haben gelesen, dass Hunderte von Fremdarbeitern auf der Flucht durch die Stadt gekommen sind, dass auch auf Zivilisten geschossen wurde. Was, wenn unsere Toten Schanzarbeiter waren? Kein Mensch in Kleve kannte diese Leute, sie hatten hier keine Verwandten, vermutlich wollte auch niemand etwas mit ihnen zu tun haben. Also hat man sie einfach begraben, möglichst schnell, vielleicht dort, wo sie umgekommen sind. Es war Krieg, da war nichts mehr normal.»
«Sicher», nickte Schnittges, «möglich ist alles.»
Es klopfte, und Bonhoeffer und van Gemmern kamen herein.
«Ihr seid allein», beschwerte sich van Appeldorn. «Schade, ich hatte gehofft, wir würden die wunderbare Marie kennenlernen.»
Bonhoeffer lachte, van Gemmern nicht, er zog sich auf einen Stuhl in der Ecke zurück.
«Ich konnte sie leider nicht von ihren Analysen weglocken», erklärte Bonhoeffer. «Und sie ist in der Tat wunderbar. Ohne sie wären wir längst noch nicht so weit.»
Während er erzählte, wie er so schnell eine Assistentin gefunden hatte, legte er jedem von ihnen einen Ausdruck hin und blieb dann am Fenster stehen.
«Es handelt sich um die Skelette von acht Personen», begann er. «Bei keinem habe ich die Todesursache feststellen können, es gibt keinen Hinweis auf äußere Gewaltanwendung. Wie Klaus mir sagt, habt ihr mit dem Gedanken gespielt, die Menschen könnten Bombenopfer sein. Das ist mit Sicherheit nicht der Fall, denn es gibt keine Verletzungen, die auf ein solches Trauma hindeuten.
Welche Personen sind es nun, die dort vor ungefähr fünfundsechzig Jahren begraben wurden?
Als Erstes wäre da ein etwa vierzig Jahre alter Mann vermutlich slawischen Ursprungs, bei dem einige Zeit vor seinem Tod eine fachgerechte Oberschenkelamputation rechts durchgeführt wurde. Dann ein circa fünfundzwanzig Jahre alter Mann mit schweren Gesichtsverletzungen, die ebenfalls fachgerecht behandelt worden waren, ich habe Drähte gefunden. Eine junge Frau, noch keine zwanzig Jahre alt, mit Riesenwuchs am linken Bein. Eine weitere Frau, zwischen fünfundvierzig und fünfzig, mit pes equinovarus, also einem Klumpfuß. Schließlich eine etwa dreißig Jahre alte Frau mit Kyphose durch Rachitis.»
«Ja», nickte er Bernie zu, der den Finger gehoben hatte. «Mit einem Buckel, sagt man wohl. Und dann haben wir drei Kinder. Zwei von ihnen etwa zehn bis zwölf Jahre alt, männlich, beide mit Trisomie 21, also Down-Syndrom oder Mongolismus, wie man früher sagte. Und ein kleines Mädchen, vielleicht zwanzig Monate alt, mit einem Hydrozephalus, einem Wasserkopf.»
Es war Bernie, der schließlich als Erster sprach.
«Unwertes Leben …» Seine Stimme klang rau.
«Wie bitte?» Penny blickte verstört.
«Lebensunwertes Leben, die Nazis, Euthanasie, du weißt schon.»
Sie nickte unsicher.
«Ich habe im Erdreich in der Umgebung der Skelette übrigens keinerlei Hinweise auf Kleidung gefunden», meldete sich van Gemmern nun auch zu Wort. «Keine Knöpfe, keine Schnallen, keine Fasern. Das bedeutet wohl, dass die Leichen dort nackt vergraben wurden.»
Penny schüttelte den Kopf, als könnte sie es nicht glauben. «Menschen mit Missbildungen oder Verletzungen, die man nackt verscharrt hat, weil sie ‹unwertes Leben› waren?»
Cox schaute Bonhoeffer fragend an. «Aber du sagtest doch, es gibt keinen Hinweis auf äußere Gewalt.»
«Das stimmt zwar», entgegnete Bonhoeffer. «An den Knochen kann man keine Gewaltanwendung feststellen, es gibt keine Schussverletzungen, keine Schädelfrakturen. Aber das heißt nicht, dass sie nicht gewaltsam zu Tode gekommen sind. Sie könnten erwürgt, erdrosselt, ertränkt oder vergiftet worden sein.»
«Oder vergast», fügte Schnittges finster hinzu.
«Hier in Kleve? Bestimmt nicht», beteuerte van Appeldorn. «Davon hätte ich gehört.»
«Aber das Landeskrankenhaus in Bedburg-Hau war eine Euthanasieklinik, wie du wahrscheinlich weißt. Und so weit ist das ja nicht weg.»
«Du kannst nicht beweisen, dass sie ermordet wurden, Arend?», wollte Penny wissen.
«Nein, bis jetzt nicht. Marie sitzt gerade an der toxikologischen Untersuchung der Knochen und Zähne, aber wir müssten schon sehr viel Glück haben, wenn wir dort noch etwas nachweisen könnten.»
«Das bedeutet doch … entschuldigt, aber das habe ich alles schon zu Hause erlebt … das heißt doch, dass der Staatsanwalt, wenn er sich stur stellt, gar kein Verfahren eröffnen muss.»
«Weil sie alle eines natürlichen Todes gestorben sind?», fragte Bernie böse. «Nach dem Motto: Treffen sich acht nackte Krüppel am Opschlag, schaufeln eine Grube und legen sich zum Sterben hin?»
«Nun mal halblang», versuchte van Appeldorn die Wogen zu glätten. «Bei dem Presseauftrieb wird der Staatsanwaltschaft gar nichts anderes übrigbleiben, als zu ermitteln.»
«Und wir suchen dann Mörder, die wahrscheinlich schon tot sind, nach fünfundsechzig Jahren.» Penny schien immer noch ein bisschen außer Fassung.
Cox fragte sich, wie gut sie eigentlich Bescheid wusste über Nazideutschland und all das Grauenvolle, das damit zusammenhing.
Dann fiel ihm etwas ein. «Sag mal, Arend, könntest du mit deinem neuen 3-D-Programm Gesichtsrekonstruktionen hinbekommen?»
«Ja, selbstverständlich, aber das dauert natürlich ein paar Tage.»
«Glaubst du denn wirklich, dass irgendjemand die Menschen heute noch erkennen würde?», fragte Penny.
«Warum denn nicht?», sagte Schnittges. «Diese Kinder hatten Eltern, vielleicht Geschwister. Und es könnte doch auch jemand auf alten Familienfotos seine Tante wiedererkennen. Auf jeden Fall wäre es ein guter Anfang, wenn wir wüssten, wer diese Menschen waren.»