Vierzehn
«Wer ist der Mann?»
Van Appeldorn schob murrend die feuchte kleine Hand weg und zog sich die Decke über den Kopf.
Der Wecker hatte noch nicht geklingelt, aber Paul war schon putzmunter.
«Welcher Mann?», kam Ullis Stimme aus den weichen Tiefen ihres Kopfkissens.
Paul hüpfte aufs Bett. «In der Küche ist ein fremder Mann. Er kocht Kaffee.»
«Meine Güte!» Ulli setzte sich auf. «Das ist dein Großonkel.»
«Was ist ein Großonkel?»
«Der Onkel von deinem Papa. Er heißt Onkel Fricka, und er ist bei uns zu Besuch.»
«Cool.» Paul krabbelte vom Bett herunter.
«Zieh dir Hausschuhe an, ja?» Sie knuffte van Appeldorn in den Rücken. «Papa und ich gehen ins Bad, und danach frühstücken wir alle zusammen.»
«Okay.»
Ulli tapste ins Badezimmer und drehte die Dusche an. «Es ist noch nicht einmal sechs Uhr», jammerte sie. «Wieso ist der Mann schon wach?»
«Senile Bettflucht, nehme ich an.» Van Appeldorn putzte sich die Zähne. «Vielleicht sollte ich mit ihm zur Trauma-Ambulanz fahren.» Dann schlüpfte er zu Ulli unter die Brause.
Als sie zwanzig Minuten später in die Küche kamen, saß dort ein hellwacher Fricka am Tisch, glatt rasiert und duftend. Auf dem Stuhl neben ihm kniete Paul, in der einen Hand eine Banane, in der anderen einen Apfel. Onkel und Großneffe hatten jeder eine Schüssel Müsli vor sich, die Milch hatte anscheinend Paul eingegossen, denn es war einiges danebengegangen.
«Man muss immer frisches Obst reintun», erklärte Paul mit wichtiger Miene. «Ich darf aber nicht an die scharfen Messer, erst wenn ich sechs bin oder so.»
«Soll ich es dann für uns schneiden? Ich bin schon über sechs», erklärte Fricka ernsthaft. «Was hättest du denn gern? Den Apfel oder die Banane?»
Dann entdeckte er Ulli und Norbert und blickte schuldbewusst. «Es tut mir leid, dass ich hier alles durcheinanderbringe, aber in meinem Alter braucht man einfach nicht mehr so viel Schlaf, und wenn ich zu lange liegen bleibe, tun mir alle Knochen weh. Ich war ganz leise, aber der kleine Mann hat mich wohl trotzdem gehört.»
«Das glaube ich nicht», sagte Ulli. «Paul ist immer so früh wach.» Sie legte Fricka den Arm um die Schultern. «Geht es dir besser?»
«Viel besser, danke. Ich habe Kaffee gekocht, ich hoffe, das ist dir recht.»
«Und wie recht mir das ist!» Ulli holte Becher aus dem Schrank. «Ich glaube, ich mache Rührei und Würstchen», sagte sie, ohne jemanden anzuschauen. «Allerdings nur für Leute, die Hausschuhe tragen und sich die Zähne geputzt haben.»
«Ups!», rief Paul, rutschte vom Stuhl und flitzte hinaus.
Nachdem Ulli und Paul das Haus verlassen hatten, wollte van Appeldorn seinen Onkel ins Wohnzimmer schicken. «Mach es dir bequem, ich räume nur schnell das Frühstücksgeschirr weg.»
Aber Fricka blieb am Küchentisch sitzen. «Hör endlich auf, mich wie ein rohes Ei zu behandeln! Mir geht es wieder gut. Ich habe meine Tabletten genommen, mir ist nicht schwindelig, ich habe keine blauen Lippen. Und wenn mein Blutdruck ein wenig erhöht sein sollte, dann liegt das einzig und allein daran, dass ich mich freue, hier bei dir und deiner wunderbaren Familie zu sein.»
«Also gut», gab van Appeldorn sich geschlagen und räumte die Spülmaschine ein.
«Dass es mir gestern nicht gutging, ist doch wohl kein Wunder», fuhr Fricka fort. «Es war ein furchtbarer Schrecken, der auch einen jüngeren Mann aus der Bahn geworfen hätte.»
«Ja, natürlich.» Van Appeldorn setzte sich wieder zu ihm. Er überlegte einen Moment, dann sagte er: «Sag mal, von deinem Wohnzimmerfenster kannst du doch den Weg einsehen, der zu deinem und Schravens Haus führt.»
«Du willst wissen, ob ich Rainers Mörder gesehen habe», nickte Fricka. «Irgendjemanden, der gestern auf dem Hof war. Aber das konnte ich gar nicht, weil ich fast den ganzen Tag in meinem Arbeitszimmer gesessen habe, und das geht zur anderen Seite raus. Ich bin dabei, ein paar Lebenserinnerungen aufzuschreiben», erklärte er ein wenig verlegen. «Es war Merles Idee.»
«Das ist doch großartig», sagte van Appeldorn. «Wirst du sie drucken lassen?»
«Mal schauen …» Onkel Fricka war mit seinen Gedanken woanders. «Ich überlege die ganze Zeit, ob ich etwas übersehen habe, als ich gestern zu Rainer ging, ob irgendetwas anders war, aber mir fällt nichts ein.»
«Wann hast du Rainer Schraven zum letzten Mal gesehen?»
«Vorgestern Abend, als ich meine Milch geholt habe. Da war er wie immer, stieselig und maulfaul. Und er war allein, auch wie immer.»
«Am Samstag hast du mir erzählt, dass Rainer Schraven im Krankenhaus liegt, weil er angeblich versucht hatte, sich umzubringen.»
«Was ich für ausgemachten Blödsinn halte», fiel ihm Fricka hitzig ins Wort.
«Dann hast du noch gesagt, dass Schravens Schwager sich um den Hof gekümmert hat.»
«Das stimmt, lass mich mal überlegen, das muss vorige Woche Dienstag gewesen sein … der Wievielte war das?»
«Der 20. Oktober.»
«Richtig. Da bin ich rüber zum Milchholen, und dort ist dieser Schnösel, sagt, er sei der Mann von Gabriele, Rainer hätte sich am Kopf verletzt und läge im Krankenhaus, und so lange würde er sich um die Tiere kümmern.»
«Erzähl mir doch einfach mal etwas über die Familie Schraven. Du hast doch damals dein Grundstück von ihnen gekauft.»
«Von Rainers Vater, Hein Schraven, ja. Was soll ich dir über sie erzählen? Eine glückliche Familie war das nicht. Hein Schraven war ein Despot, und seine Frau, die Maria, war, wie man am Niederrhein sagt, ‹vor Gutheit nix wert›, bescheiden, immer freundlich zu uns. Das Leben hat ihr wahrhaftig nichts geschenkt. Sie hatte etliche Fehlgeburten, und zwei Kinder sind ihr im Säuglingsalter gestorben, geblieben sind ihr nur Rainer und Gabriele. Die ganze Familie musste immer nach Heins Pfeife tanzen, nur einmal hat sich Maria gegen ihn durchgesetzt, als Gabriele aufs Gymnasium wollte. Der Alte war strikt dagegen, meinte, die Tochter hielte sich wohl für etwas Besseres. Maria ist dann bald gestorben, hat gar nicht mehr miterlebt, wie Gabriele ihr Abitur gemacht hat und Pharmazie studierte. Der Alte und Rainer waren dann allein auf dem Hof und haben sich krumm gearbeitet. Bis Hein dann einen Schlaganfall hatte, das muss vor zehn Jahren gewesen sein, und gestorben ist. Rainer hat dann ganz schnell so gut wie all seinen Ackergrund verpachtet und haust seitdem so vor sich hin. Ich glaube, der ist in seinem ganzen Leben noch nie aus Hau weg gewesen.»
«Hat er denn keine Ausbildung gemacht?»
«Nein, der Alte hielt das für überflüssig.»
«Und was ist mit Frauen?»
Onkel Fricka lachte trocken auf. «Vor Jahren, kurz nach dem Tod seines Vaters, hat er mal auf Anzeigen im ‹Landwirtschaftlichen Wochenblatt› geantwortet. Er hat dann auch ein paar Frauen zu sich eingeladen, aber die haben immer schnell das Weite gesucht.»
«Keine Frauen und keine Freunde, wie du am Samstag gesagt hast», fasste van Appeldorn zusammen. «Wie sieht es mit seiner Schwester aus? Kam sie Schraven besuchen?»
«Zweimal im Jahr, zu Weihnachten und zu Ostern, immer nur für ein paar Stunden und immer allein. Deshalb kannte ich ihren Mann auch nicht. Und Kinder hat sie keine. Ich denke, sie kam aus Pflichtgefühl oder Mitleid. Rainer und sie können sich eigentlich nicht besonders nahegestanden haben, Gabriele ist vierzehn Jahre jünger als er.»
«Wer verkehrte sonst noch auf dem Hof?»
Onkel Fricka atmete tief ein und stieß die Luft mit einem leisen Prusten wieder aus. «Der Postbote, die Zeitungsfrau, hin und wieder seine Pächter, der Metzger und der Fleischbeschauer, wenn Rainer einmal im Jahr ein Schwein geschlachtet hat. Vielleicht auch mal ein Vertreter … ach ja, und freitags immer der Lieferwagen vom Supermarkt, wo er seine Lebensmittel bestellt hat.»
«Also keine Feinde …»
«Das ist es ja, wie soll sich einer Feinde machen, dem andere Menschen einfach egal sind, dem eigentlich alles schon lange egal ist?»
«Vielleicht hat er übers Internet Kontakte geknüpft», überlegte van Appeldorn.
«I wo, der besitzt nicht einmal einen Computer, soweit ich weiß. Er hat eine Satellitenschüssel auf dem Dach und leistete sich immer die neuesten Fernsehermodelle, aber das war schon sein ganzes Vergnügen.»
«Norbert, gut, dass du kommst.»
Schnittges lief gerade den Gang entlang, als van Appeldorn im Präsidium ankam. Sein Haar war zerzaust, und er hatte sich heute offensichtlich nicht rasiert.
«Einer von der Spusi rief an. Schravens Kühe brüllen vor Schmerzen, weil sie gemolken werden müssen, und die Schweine nehmen vor lauter Hunger den Stall auseinander. Ich habe gerade mit dem Veterinäramt gesprochen, sie schicken jemanden.»
Im Büro hatte er eine neue Falltafel aufgestellt und die Tatortfotos aufgehängt.
Van Appeldorn schauderte, Rainer Schraven war tatsächlich regelrecht abgeschlachtet worden.
Der Tote lag auf dem Rücken, den Kopf nach hinten überstreckt, eine klaffende Wunde an der Kehle. Sein grauer Overall war am Oberkörper völlig zerfetzt und blutdurchtränkt.
«Sind das Abwehrverletzungen an seinen Händen?», fragte van Appeldorn.
«Ich denke schon», antwortete Schnittges. «Heute Mittag wissen wir mehr, Arend führt gerade die Obduktion durch.»
Peter Cox räusperte sich. «Für mich sieht das nach Übertötung aus.»
Penny schaute ihn fragend an. «Das Wort kenne ich nicht.»
«Jemand sticht in rasender Wut immer wieder zu, voller Hass, auch wenn das Opfer schon längst tot ist. Am häufigsten findet man so etwas bei Beziehungstaten.»
«Das sollte man meinen, in diesem Fall scheint das allerdings nicht zuzutreffen», sagte van Appeldorn und gab wieder, was ihm sein Onkel über Schraven berichtet hatte.
Cox blickte skeptisch. «Du willst sagen, dass der Mann keinerlei Beziehungen hatte?»
«So sieht es im Moment aus.»
«Wie auch immer», mischte sich Bernie ungeduldig ein. «Ich war im Krankenhaus. Schraven ist dort letzten Dienstag mit dem Notarztwagen eingeliefert worden. Er kam mit einem Schädel-Hirn-Trauma, hatte aber keinerlei Erinnerung daran, wie er es sich zugezogen hatte. Dieses Gerede von Selbstmord kommt wohl daher, dass man ihn auf einem Bahngelände gefunden hat. Der Arzt in der Klinik hält einen Suizidversuch für völlig absurd, schließlich könne sich Schraven ja wohl kaum selbst auf den Hinterkopf geschlagen haben, meinte er.»
«Schraven hatte also eine Schlagverletzung am Hinterkopf?», hakte van Appeldorn nach.
«Es hörte sich so an, aber dann wollte der Doktor sich doch nicht festlegen, sagte, er sei kein Forensiker. Wir werden also warten müssen, bis Arend fertig ist.» Bernie schrappte über seine Bartstoppeln. «Hör zu, Norbert, um elf kommt Schravens Schwester. Ich fahre dann mit ihr in die Pathologie, damit sie ihren Bruder identifizieren kann. Aber danach will ich so schnell wie möglich an den Tatort zurück. Es gibt da so eine Art Büro mit Bergen von unsortierten Papieren. Ich werde Tage brauchen, bis ich das alles gesichtet habe.»
«Ich denke, Penny könnte dich unterstützen», überlegte van Appeldorn. «Es hilft nichts, wir müssen uns aufteilen. Der Mord hat im Moment Vorrang. Willst du mit unserem NS-Verbrechen weitermachen, Peter? Ruf in Düsseldorf an, die sollen jemanden von der Sondereinheit zu uns abstellen.»
Cox schloss zustimmend die Augen.
«Und Penny», sprach van Appeldorn weiter, «wenn Schravens Schwester nach der Identifizierung noch einigermaßen beisammen ist, dann nimmst du sie dir vor und fragst, welche Beziehung sie und ihr Mann zu Schraven hatten. Gab es Feinde, vielleicht doch Freunde? Du weißt schon.»
«Klar, mache ich», stimmte sie zu, blickte ihn aber aufmüpfig an.
Van Appeldorn grinste leicht. «Und ich, ich fahre zur Wirtschaftsförderung, wo sich hoffentlich herausstellt, dass dieser Hetzel tatsächlich einfach nur spinnt. Danach komme ich raus auf den Hof und mache mir auch ein Bild.»
Die Leute von der Wirtschaftsförderung hatten noch nie von einer Greenparc B.V. gehört.
Es sei schon richtig, man habe großes Interesse daran, dass sich Bauern und Gärtner am unteren Niederrhein selbst organisierten und zu einer Genossenschaft zusammenschlossen. Es ginge vor allem darum, die Zierpflanzen, die in der Region sowieso angebaut wurden, unter Glas zu bringen, um eine ganzjährige Nutzung und Vermarktung zu erreichen. Momentan würden die Betriebe ungefähr ein Drittel des Jahres ruhen und keinen Gewinn machen. In Holland würde der Unterglasanbau schon länger in großem Stil betrieben, und die niederrheinischen Produzenten müssten sich dringend umstellen, wenn sie konkurrenzfähig bleiben und vor allem weiterhin EU-Subventionen bekommen wollten. Das ganze Projekt wäre allerdings erst in der Planungsphase, und bisher sei man überhaupt noch nicht konkret an die betreffenden Gartenbaubetriebe und Landwirte herangetreten.
Der Wirtschaftsförderer schien sehr alarmiert – ein dubioser holländischer Investor, der womöglich die Planung des Kreises zunichtemachen würde? Dabei habe man doch gerade erst ein kostspieliges Gutachten erstellen lassen. Van Appeldorn dürfe sich gern ein Exemplar davon mitnehmen.
Gottergeben ließ er sich das über hundert Seiten dicke Heft in die Hand drücken und ging.
Dann saß er erst einmal geschlagene zehn Minuten im Auto, schluckte an seinem Frust und grübelte.
Schließlich fuhr er zurück zum Präsidium.
«Ist Jupp im Haus?», fragte er den Wachhabenden.
«Der wollte draußen eine rauchen.»
Ackermann saß auf dem Fahrradständer und genoss die Sonnenstrahlen.
Als er van Appeldorn kommen sah, legte er die Stirn in Falten. «Ich war eben bei Peter, ’n bisken quatschen. Bei euch geht et ja hoch her, erst dat Massengrab un’ jetzt auch noch ’n Mord.»
«Und das ist noch nicht alles», meinte van Appeldorn düster. «Hast du schon mal etwas von einer Greenparc B.V. gehört?»
Falls Ackermann überrascht war, ließ er es sich nicht anmerken.
«Doch, doch», antwortete er. «Nix Genaues weiß man nich’, aber wenn de mich fragst, die gehören zu Monsanto.»
Van Appeldorns Gesicht war ein einziges Fragezeichen.
Ackermann schob die Brille auf die Stirn. «Gott, wo soll ich anfangen? Also, pass auf, et gibt da so ’ne Handvoll Großkonzerne, die die Welt unter sich aufteilen, wat die Ernährung angeht. Die sitzen nich’ bloß in Amiland, sondern auch in Europa. Einer von denen hat sogar ’n Ableger in Kleve, Syngenta.»
«Die Welt unter sich aufteilen?» Van Appeldorn verstand kein Wort. «Wie machen die das denn?»
«Ganz einfach, indem die dat Saatgut kontrollieren un’ Patente anmelden auf Pflanzen un’ sogar auf Tiere.» Ackermann ließ seine Brille wieder auf die Nase rutschen. «Bisher war dat immer so, dat der Bauer gesät un’ geerntet hat. Bei der Ernte hat er dann immer ’n bisken Saatgut zurückbehalten un’ dat gekreuzt un’ verfeinert, bis er dat optimale Pflanzgut für seine Region hatte. Weißt du, zum Beispiel, dat et in Peru über zweihundert verschiedene Kartoffelsorten gibt? Weil die dort nämlich genau dat richtige Klima un’ den richtigen Boden für Kartoffeln haben.»
Er merkte wohl, dass er an van Appeldorns Geduldsfaden zerrte. «Wie soll ich dat erklären? Der liebe Gott hatte sich dat so gedacht: natürliche Kreuzung un’ Züchtung von Pflanzen auf den Böden un’ in dem Klima, wo se hingehören, also Kartoffeln in Peru, Mais in Mexiko, Reis in Indien und so weiter.»
Van Appeldorn begann zu verstehen und nickte.
«Tja», fuhr Ackermann deshalb fort, «heutzutage is’ dat anders. Vielleicht hilft ’n Beispiel. Du hast doch bestimmt schon ma’ von unsere hiesige Kartoffel ‹Sieglinde› gehört. Die haben die Buren hier jahrzehntelang angebaut, weil se hier gut wächst un’ weil se lecker is’. Und dann auf einmal durften se dat nich’ mehr, weil ein Konzern sich dat Patent auf die ‹Sieglinde› gekrallt hatte.»
Van Appeldorn schaute ungläubig.
«Doch, dat stimmt», bekräftigte Ackermann. «Dat heißt, die Bauern konnten die Kartoffel schon noch anbauen, aber nur, wenn se die Saatkartoffeln bei der Firma mit de Lizenz eingekauft un’ auch noch Lizenzgebühren bezahlt haben.»
«Was ist das denn für ein Irrsinn?» Van Appeldorn schüttelte den Kopf. «Und wer ist jetzt Monsanto?»
«Monsanto ist der älteste un’ der größte von diesen Konzernen. Dem gehören acht Millionen Farmen auf der ganzen Welt, neunzig Prozent davon in Entwicklungsländern. Monsanto hat fünfundachtzig Prozent vonne Sojaproduktion in USA unter sich un’ fünfundvierzig Prozent vonne Getreideproduktion auffe Welt.»
«Das weißt du einfach so aus dem Kopf?», wunderte sich van Appeldorn.
Ackermann wandte ihm sein ernstes Gesicht zu. «Glaub et mir, manchmal wünscht’ ich, ich wüsste nich’ so viel … Monsanto war et auch, der mit der ganzen Genkacke angefangen hat – GVO nennt man dat kurz, genveränderte Organismen. Die jetz’ auch wir am Arsch haben, Mais, Kartoffeln, Weizen, un’ dat is’ erst der Anfang. Monsanto, dat sind Verbrecher, Norbert. Du kennst doch bestimmt noch ‹Agent Orange›, dat Gift, dat die Amis über Vietnam versprüht haben, um die Bäume zu entlauben, damit se den Vietcong besser abknallen konnten. Un’ woran die Menschen all verreckt sind. Weil in ‹Agent Orange› nämlich Dioxin is’. Dat Teufelszeug hat Monsanto erfunden, hergestellt un’ verkauft. Obwohl die ganz genau wussten, wat Dioxin anrichtet! Oder denk ma’ an Saccharin …» Ackermann musste husten. «Ich hör besser auf, sons’ red ich mich noch in Rage.» Er drückte seine Zigarette aus und ließ den Stummel in seiner Jackentasche verschwinden. «Wat is’ denn mit Greenparc? Wieso fragste danach?»
Und wieder einmal erzählte van Appeldorn Hetzels Geschichte.
Ackermann war der Erste, der nicht darüber lachte.
«Dat hört sich für mich ganz nach Monsanto an. Sind genau die Methoden von denen. Mich würd’ et nich’ wundern, wenn der arme Hetzel demnächst ’ne Klage an den Arsch kriegt, weil auf seinem Acker Genmais steht, auf den Monsanto ’n Patent hat – MON 810 heißt dat Schweinezeug. Dat machen die schon ma’ gerne so, schicken heimlich jemand in dat Maisfeld vom Bauern, un’ der sät dat Zeug aus, un’ kurze Zeit später ‹entdeckt› dann einer von Monsanto ‹zufällig› die Pflanzen un’ sagt: ‹Hallo, wo sind die Lizenzgebühren? Un’ drück ma’ schön die Strafe ab, Bürschchen!› Da sind in USA un’ in Kanada schon zig Farmen dran kaputtgegangen, weil se keine Beweise für ’t Gegenteil hatten un’ vor allem keine Knete für Prozesse.» Ackermann wurde bitterernst. «Die Patente sind dat Problem, Norbert. Wat für ein Wahnsinn, dat jemand ’n Patent kriegt auf irgendwat, von dem wir alle am Fressen bleiben müssen!»
Van Appeldorn ging nicht gleich wieder hinein, sondern spazierte langsam zum Kanal hinunter.
Was für ein Durcheinander! Und ausgerechnet jetzt sirrte ihm ein Gedankenschnipsel im Hirn herum, ließ sich nicht fassen, wollte aber auch keine Ruhe geben.
Er betrachtete die hellgrünen Algenfäden, die sich in einem trägen Tanz in der leisen Strömung wiegten.
Bahngelände … Selbstmord … Dienstag …
Fußballtraining!
Er schüttelte sich kurz und lief zurück.