Eins
«Ich fürchte, du musst rauskommen, Norbert. Die Schweinerei hier sollte sich einer von euch angucken.»
Der Kollege Schuster von der Streife, den normalerweise nichts so leicht erschüttern konnte, klang ernst und wütend.
«Selbstverständlich haben die erst mal so getan, als hätten sie nichts gesehen! Das kennt man ja. Immer schön den Kopf in den Sand stecken.»
Kriminalhauptkommissar Norbert van Appeldorn seufzte leise in sich hinein.
Es war Freitagnachmittag, und er hatte gerade sein Team ins Wochenende entlassen, weil nichts mehr anlag, das nicht bis Montag warten konnte. Auch er war schon auf dem Sprung gewesen, als das Telefon geklingelt hatte.
«Jetzt mal langsam, Pit. Wo steckst du denn?»
«Am Spoykanal, unten am Opschlag. Die machen hier doch gerade das Ufer neu. Und dabei haben die Arbeiter heute Knochen gefunden.»
«Und?» Van Appeldorn wunderte sich über die Aufregung. Der Opschlag war im Mittelalter ein Umschlagplatz für Waren gewesen. Auf dem Treidelpfad dort waren die Lastensegler durch Pferde- oder Menschenkraft den Kanal entlanggezogen worden. Treidler hatten dort gewohnt, und vermutlich hatten die dort auch hin und wieder einen toten Hund begraben oder eine Katze. Immer wieder stießen Bauern in der Gegend beim Pflügen auf knöcherne Überreste von Haustieren, Hunden, Schweinen, manchmal sogar Rindern.
«Es sind Menschenskelette, Norbert!»
Van Appeldorn zog einen Stuhl heran und setzte sich. «Skelette? Du meinst, mehr als eins?»
«Aber hallo! So, wie ich das heraushöre, hat der Baggerführer die Knochen entdeckt und erst mal versucht, sie schnell wieder unter der Erde verschwinden zu lassen. Man muss ja im Zeitplan bleiben. Aber dann waren es ihm wohl doch zu viele. Jedenfalls hat er seinen Polier angerufen, der natürlich schon im Feierabend war, ist klar. Und der hat dann 110 gewählt.»
Schuster wurde plötzlich leise. «Hier liegen vier Schädel, vielleicht noch mehr. Scheiße, Norbert, das sieht mir aus wie ein Massengrab.»
Van Appeldorn griff nach seinem Autoschlüssel. «Ich komme. Sperrt schon mal ab.»
Die Stadt hatte sich endlich dazu durchgerungen, das heruntergekommene Kanalufer zu verschönern, davon hatte van Appeldorn in der Zeitung gelesen, angeschaut hatte er sich die Baustelle noch nicht.
«Du lieber Gott», entfuhr es ihm. «Tod durch Backstein. Der Führer hätte seine helle Freude daran gehabt.»
Offensichtlich hatte Schuster einen zweiten Streifenwagen gerufen. Die vier Beamten waren gerade dabei, Flatterband zu spannen, und sie hatten ihre liebe Mühe, gleichzeitig die Schaulustigen in Schach zu halten. Ein Pulk Kinder war ihnen wohl entwischt. Die Kleinen drängten sich aneinander und starrten sprachlos in die gut zwei Meter tiefe Grube hinunter.
Van Appeldorn lief los, stolperte über ein Abflussrohr, fing sich wieder und brüllte: «Macht, dass ihr wegkommt, aber dalli!»
Die Kinder stoben auseinander.
Hinter einem Kompressor entdeckte er zwei Fotografen von der örtlichen Presse. Anscheinend hörten die immer noch den Polizeifunk ab, wenn sie nichts zu tun hatten.
Er steckte die Hände in die Hosentaschen.
Seit Wochen hatte es nicht geregnet, hier am Ufer war der Boden sandig und trocken, und die Knochen waren deutlich zu erkennen. Ein bizarres Gewirr von Gliedmaßen, Rippen, Schädeln. Vier hatte Schuster gezählt, aber van Appeldorn entdeckte einen weiteren unter einer Beckenschaufel, halb in der Erde noch.
Die Gebeine waren dunkelbraun, ausgemergelt, sie mussten schon lange hier gelegen haben, Jahrhunderte womöglich. Vielleicht hatte hier irgendwann früher einmal eine Kapelle gestanden mit einem kleinen Friedhof.
«Was meinst du?» Pit Schuster war herangetreten.
Van Appeldorn drehte sich um. «Ich würde gern wissen, ob die hier schon so auf einem Haufen gelegen haben oder ob der Bagger dafür verantwortlich ist.»
Schuster rieb sich den Nacken. «Du meinst, das könnten normale Gräber gewesen sein?»
«Möglich, oder? Ich unterhalte mich mal mit den Jungs da drüben.» Er schaute zu dem roten Bagger hinüber, neben dem fünf Arbeiter in Signalwesten zusammenstanden und rauchten.
«Viel Glück.» Schuster grinste. «Soll ich die Spusi rufen?»
«Ja, mach das. Van Gemmern soll ein Zelt mitbringen und Licht. Es wird bald dunkel. Und ruf noch ein paar von euren Jungs aus der Bereitschaft. Wir müssen sehen, dass wir die Gaffer loswerden.»
Schuster tippte sich an den Mützenschirm und wollte sich schon auf den Weg machen, als ihm noch etwas einfiel. «Ach, übrigens, ich hab heute deinen Aushang gesehen wegen der Fußballmannschaft. Da wäre ich gern dabei.»
«Du spielst Fußball?», staunte van Appeldorn. «Ich hätte dich eher in der Tennisfraktion vermutet.»
«Nun ja, ist schon länger her, aber früher in Gerresheim war ich mal ein ziemlich guter Rechtsaußen.»
«Okay, ich setze dich auf die Liste. Aber jetzt bringen wir erst einmal das hier auf die Reihe.»
Die Bauarbeiter standen auf der anderen Seite der Grube, und da die Herzogbrücke durch Maschinen, Schutthaufen und gigantische Kabelrollen versperrt war, musste van Appeldorn den längeren Weg über die Opschlagbrücke nehmen.
Im funzeligen Betontunnel am Spoycenter stank es wie immer nach Urin.
Im Gehen zog van Appeldorn sein Handy aus der Tasche und versuchte, seine Frau zu erreichen, erwischte aber nur ihre Mailbox. Er schaute auf die Uhr, Ulli musste in der Wochenbesprechung sein. «Hallo, Schatz, es wird leider später. Ich melde mich nochmal, wenn ich mehr weiß.»
Dann überlegte er. Toppe, sein Chef und langjähriger Weggefährte, machte mit seiner Liebsten gerade Urlaub in der Karibik. Cox und Penny hatten eigentlich dienstfrei und wollten die letzten Tage des Altweibersommers auskosten und noch einmal eine Motorradtour machen. Also blieb nur Bernie, dem er das Wochenende vermiesen konnte.
Und in der Gerichtsmedizin musste er anrufen. Arend Bonhoeffer würde dabei sein wollen, wenn die Spurensicherung die Gebeine barg, die er dann später in der Pathologie untersuchen würde.
«Was soll denn so wichtig daran sein, wie die ursprünglich gelegen haben?», herrschte der Polier van Appeldorn an. «Tot ist tot, oder sehe ich das falsch?»
Der Baggerführer, ein Zweimetermann, der gut und gerne 150 Kilo auf die Waage brachte, hatte eine nörgelige Knabenstimme. «Ich habe alles genau nach Vorschrift gemacht. Ist schließlich nicht das erste Mal. So was kommt öfter vor in meinem Beruf. Habe ich dem Schupo doch schon alles gesagt.»
«Dann erzählen Sie es mir eben noch einmal», gab van Appeldorn unfreundlich zurück.
Der Mann wechselte einen fixen Blick mit dem Polier und verdrehte die Augen. «Na gut, ich habe ganz normal geschachtet. Dann dachte ich, ich hätte ein Stück Knochen gesehen. Das hat man schon mal, wie gesagt. Denkt man sich nichts bei. Man springt ja nicht jedes Mal von der Maschine, wenn was ist, sonst käme man gar nicht voran. Egal, die nächsten drei, vier Schaufeln war jedenfalls nichts. Und dann auf einmal ein Totenkopf, direkt oben auf dem Aushub. Und dann, klar, ich sofort die Maschine abgestellt und den Chef angerufen. Muss ich ja. Was denn sonst?»
Bernie Schnittges hatte sich gerade frustriert auf eine Bank am Fischmarkt fallen lassen, als van Appeldorns Anruf ihn erreichte.
Das war nun schon die vierte Wohnung gewesen, die er sich in dieser Woche angeschaut hatte, und wieder ein Reinfall. Dabei hatte sich die Anzeige ganz gut angehört: Von privat, 3Z, KDB, Tiefgar.platz, zentr. Lage m. Blick a.d. Burg, geh. Ausstattg., KM 395.-.
Vorgefunden hatte er düstere Kämmerchen mit niedrigen Decken, Fliesenboden aus den Siebzigern und ein fensterloses Bad in Beige und Braun.
Er würde wohl doch in den sauren Apfel beißen und einen Makler mit der Suche beauftragen müssen. Inzwischen waren ihm die Mehrkosten schon beinahe egal, Hauptsache, er kam endlich fort aus Kessel.
Vor anderthalb Jahren hatte er sich wegen einer unseligen Liebschaft aus seiner Heimatstadt Krefeld nach Kleve versetzen lassen und unbedingt ein Haus in einem Dorf mieten wollen, weil ihm ein Leben in ländlicher Idylle reizvoll erschienen war. Für Kessel hatte er sich entschieden, weil er ein paar Leute vom dortigen Laientheater kannte und er sich vorgestellt hatte, sie würden ihm helfen, ins Dorfleben aufgenommen zu werden.
Aber dann war am Tag seines Umzugs ein Mord passiert, keine zweihundert Meter von seinem Häuschen entfernt. Ein Mord, in den Männer verwickelt waren, die bis heute erhobenen Hauptes durch das Dorf spazierten, weil man ihnen nichts hatte nachweisen können.
Unglücklicherweise hatte er einen Mietvertrag über drei Jahre abgeschlossen, und bis vor zwei Monaten war es ihm einfach nicht gelungen, einen Nachmieter für das Haus am Seeweg zu finden. Nur wenn es gar nicht anders ging, hatte er dort übernachtet. Ansonsten hatte er seine freie Zeit wieder in Krefeld verbracht und war bei einem seiner fünf Geschwister untergekrochen. Seit die Nachmieter eingezogen waren, kampierte er bei seinen Eltern. Er mochte seine laute, fröhliche Familie, keine Frage, aber jetzt hatte er lange genug seine Wunden geleckt und wollte endlich wieder ein eigenes Dach über dem Kopf, einen Ort, an dem es ruhiger zuging.
Nur ein Gutes hatten die letzten achtzehn Monate gehabt: In seinem Liebeskummer und dem ganzen Elend mit dem Haus hatte er angefangen zu laufen und Spaß daran bekommen, und seit Anfang des Sommers ging er jetzt auch noch regelmäßig zum Karatetraining. Für seine Schwestern war er immer «unser Teddybär» gewesen, aber nun hatte er nicht mehr viel Knuddeliges an sich, und das gefiel ihm. Das Theaterspielen vermisste er kaum.
Sein Handy summte. «Schnittges … ach, Norbert, du bist’s … Am Opschlag? Ich bin gleich um die Ecke, keine fünf Minuten.»
Die Leute von der Spurensicherung hatten große Zelte über der Grube aufgebaut und waren dabei, Licht zu verlegen, immer darauf bedacht, sich dabei von den Gebeinen fernzuhalten, um nicht noch mehr Spuren zu verwischen.
Jetzt leuchteten die Lampen auf. Klaus van Gemmern, der Chef der Spusi, schaute sich um.
«Das reicht noch nicht», entschied er und bückte sich wieder. Er verlegte gerade ein paar Planken, damit der Gerichtsmediziner näher an die Skelette herankommen konnte.
Van Appeldorn und Schnittges blieb im Moment nichts weiter zu tun, als zuzuschauen, wie Arend Bonhoeffer Schutzkleidung überzog, van Gemmern seinen Koffer hinüberreichte, dann vorsichtig den provisorischen Steg entlangbalancierte und sich am Ende hinkniete.
Es war ruhig geworden, die meisten Schaulustigen waren verschwunden, weil sie in der Dämmerung sowieso nichts mehr erkennen konnten. Nur einige Reporter von den Lokalzeitungen standen in der Nähe.
Wieder gingen die Lichter an, und man sah Bonhoeffer mit Sonden und Pinseln hantieren. Schließlich stand er auf, wechselte ein paar Sätze mit van Gemmern und kam zu den Kripomännern herüber.
«Es hat keinen Sinn, heute noch weiterzumachen», sagte er und zog sich die Kapuze vom Kopf. «Wir brauchen Tageslicht. Der Bagger hat die Skelette völlig durcheinandergeschoben. Wir müssen die Erde Schicht für Schicht abtragen und durchsieben, um alle Knochen zu finden.»
«Das hatten wir schon befürchtet», nickte van Appeldorn. «Was meinst du, wie alt sind die Skelette?»
Bonhoeffer zog die Überschuhe aus und schälte sich aus dem Overall. «Die Standardantwort würde lauten: Liegezeit zwischen fünfzig und hundert Jahren. Aber nach allem, was ich so über die Jahre gesehen habe, schätze ich, dass die Menschen vor etwa fünfundsechzig bis siebzig Jahren begraben worden sind.»
«Scheiße», murmelte Schnittges. Van Appeldorn schaute ihn fragend an, aber er schüttelte den Kopf.
«Das muss natürlich noch verifiziert werden», fuhr Bonhoeffer fort. «Und was das Lebensalter der einzelnen Personen angeht, mal sehen, vielleicht werde ich einen Anthropologen hinzuziehen.» Er schaute auf seine Uhr. «Wenn ich mich beeile, schaffe ich es noch. Ich habe nämlich eine Verabredung zum Essen und dachte schon, ich müsste sie absagen.» Dann nahm er seinen Koffer. «Klaus und ich fangen morgen gleich bei Sonnenaufgang an. Aber es wird schon ein paar Tage dauern, bis ich die Knochen zugeordnet und die einzelnen Skelette zusammengefügt habe.»
«Entschuldigen Sie?» Der Journalist von der Niederrhein Post kam auf sie zu. Van Appeldorn kannte ihn, er war ein vernünftiger Bursche. Bis jetzt hatten sie Glück gehabt, dass die Sensationspresse noch keinen Wind von dem Knochenfund bekommen hatte. Aber egal, wie klein morgen die Notiz im Lokalteil sein mochte, sie würde die überregionalen Geier auf den Plan rufen.
«Können Sie mir schon etwas sagen?» Der Mann klang angenehm sachlich.
Bonhoeffer spreizte die Hände. «Nur sehr wenig, fürchte ich. Es handelt sich um die Gebeine von mindestens sechs Menschen.»
«Liegezeit zwischen fünfzig und hundert Jahren», fügte Schnittges hinzu.
«Handelt es sich um ein Massengrab?»
«Das kann man beim besten Willen nicht mehr sagen», antwortete van Appeldorn.
«Verstehe, die Bauarbeiten …»
«Wie auch immer, heute passiert hier nichts mehr», sagte Schnittges schroff und wandte sich zum Gehen. «Ich kümmere mich um die Nachtwachen, Norbert, und treffe dich dann nachher im Präsidium.»
Arend Bonhoeffer sagte seine Einladung zum Abendessen doch noch ab.
Er würde am 30. November in den Ruhestand gehen, also blieben ihm knappe sechs Wochen, diesen Fall zu Ende zu bringen, was ohne Hilfe unmöglich schien.
Bis heute war nicht klar, ob seine Stelle neu besetzt oder die gerichtsmedizinische Abteilung in Emmerich aufgelöst werden sollte. Wenn er gute Arbeit leistete, wenn der Fall groß durch die Presse ging, würde sein Dienstherr sich vielleicht für den Erhalt der Pathologie entscheiden.
Er würde gut sein, das wusste er, aber er musste auch schnell sein, und das war ein Problem. Ein Problem, das er unauffällig und vor allem sofort zu lösen gedachte. Und die Lösung hieß Marie Beauchamp. Die Tochter eines Studienkollegen hatte bisher an verschiedenen Universitäten gearbeitet, gerade war ihr Vertrag am Institut in Bologna ausgelaufen, und sie wartete nur darauf, sich auf seine Stelle zu bewerben, wenn diese denn neu ausgeschrieben würde. Es reizte sie, eigenverantwortlich zu arbeiten, auch wenn sie dafür in die Provinz ziehen musste, aus demselben Grund hatte auch er damals in Emmerich angefangen.
Noch vom Opschlag aus führte er zwei Telefonate und machte sich dann auf den Weg zum Verwaltungschef seiner Klinik, der irgendeinen Topf auftun sollte, aus dem man Marie für ihre Mitarbeit bezahlen würde.
Wohnen konnte sie bei Sofia und ihm auf Haus Eyll, das würde ihr bestimmt gefallen. Sie hatte in den letzten Jahren öfter mal ein Wochenende bei ihnen verbracht, wenn sie auf einer ihrer Radwandertouren gewesen war, und sich immer wohl bei ihnen gefühlt.
Als Bernie Schnittges ins Präsidium kam, hatte van Appeldorn seinen Bericht schon geschrieben.
«Gib mir mal einen Aktendeckel rüber, du stehst gerade.»
Schnittges tat, wie ihm geheißen, und setzte sich dann. «Vor fünfundsechzig bis siebzig Jahren, sagt Arend, das heißt doch, die Leute sind während des Krieges begraben worden», überlegte er.
«Ja, sieht so aus», stimmte van Appeldorn zu. «Warum guckst du denn so finster?»
«Ach, mir ist etwas eingefallen. Vor drei oder vier Jahren hat man in Stuttgart ein Massengrab entdeckt mit Skeletten, die etwa genauso lange dort gelegen haben. Es sollen Häftlinge aus einem Konzentrationslager gewesen sein, die man dort auf die Schnelle entsorgt hat, als die Alliierten anrückten. Monatelang ist dort gegraben und geforscht worden, jede Menge Archäologen und Anthropologen waren dabei und eine Sondereinheit für NS-Verbrechen vom LKA. Ich hoffe nur, dass uns hier nicht auch so etwas blüht.»
Van Appeldorn schüttelte den Kopf. «Bei uns hier hat es kein KZ gegeben und auch kein Arbeitslager.»
«Das ist schon mal gut.» Bernie lehnte sich zurück und schaute van Appeldorn nachdenklich an. «Vielleicht sind es ja Bombenopfer. Kleve ist doch schwer bombardiert worden, oder?»
«Zweimal», bestätigte van Appeldorn. «Am 26. September 44 gab es einen Angriff auf die Unterstadt, und am 7. Oktober ist dann die restliche Stadt fast vollständig ausradiert worden.»
«Aber die Stadt war doch sicher schon vorher evakuiert worden, oder?», fragte Schnittges. «Wenn ich mich richtig erinnere, war die Front doch schon ab Mitte September 44 am Niederrhein.»
«Ja, stimmt, aber es gab wohl Probleme. Die Leute wollten nicht weg. Soweit ich weiß, hatte man es bis Anfang Oktober geschafft, gerade mal die Hälfte der Bürger zu evakuieren.»
«Dann könnten unsere Toten tatsächlich Bombenopfer sein.» Schnittges stand auf und ging zum Stadtplan hinüber, der an der Wand hing. «Haben dort am rechten Kanalufer vor dem Krieg Häuser gestanden?»
«Ich bin mir nicht sicher.» Van Appeldorn rieb sich die Augen. «Aber ich habe zu Hause ein paar Bücher über die Stadtgeschichte, auch alte Bildbände. Wenn ich da nichts finde, müssen wir am Montag ins Stadtarchiv.»
«Ja.» Schnittges fuhr sich durchs Gesicht. «Ich habe Hunger. Sollen wir was essen gehen?»
«Nein, lieber nicht. Meine Frau wartet auf mich.» Van Appeldorn zögerte. «Aber für ein schnelles Bier reicht die Zeit noch.»
Doch Schnittges hob abwehrend die Hand. «Kein Alkohol für mich, ich muss noch nach Krefeld.»
«Sag bloß, du hast immer noch keine Wohnung gefunden.»
Bernie wunderte sich, dass Norbert überhaupt etwas von seiner Misere mitbekommen hatte. Beruflich verstanden sie sich nach ein paar Startschwierigkeiten ganz gut, aber privat hatten sie nichts miteinander zu tun. Auch die Kollegen schienen keinen engeren Kontakt zu van Appeldorn zu haben. Er blieb gern mit seiner Familie für sich und nahm wohl an, dass die anderen es am liebsten genauso hielten.
«Bei uns um die Ecke steht ein Haus leer», sagte er jetzt. «Ich könnte mal fragen.»
«Ihr wohnt doch in Nütterden, nicht?» Bernie lachte. «Nein danke, nett von dir, aber mich kriegen keine zehn Pferde mehr in ein Dorf.»
Auch van Appeldorn lächelte, dann runzelte er die Stirn. «Warte mal, mir fällt da was ein. Ich habe neulich meinen früheren Vermieter getroffen, der hat mir was von einer Kernsanierung erzählt, die wohl gerade abgeschlossen ist. Es ging um das Häuschen am Blauen Himmel, in dem ich mal gewohnt habe. Vielleicht ist es ja noch frei.»
«Das ist doch gleich an der Schwanenburg, oder? Eine tolle Lage.» Bernie wurde ganz kribbelig.
«Ja, ich habe gern dort gewohnt. Es war auch günstig, aber ich weiß nicht, wie viel er jetzt nach der Sanierung dafür haben will. Soll ich ihn mal anrufen?»
«Am liebsten sofort.»