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Elf

Onkel Fricka trug einen weißen Leinenanzug und einen Strohhut mit breiter Krempe. Er saß da in seinem Schaukelstuhl im Schatten der alten Linde, paffte eine Zigarre und war sichtlich mit der Welt im Reinen.

Van Appeldorn fühlte sich in eine andere Zeit versetzt.

«Du hättest einen erstklassigen Kolonialherren abgegeben», sagte er.

«Hm.» Der Onkel strich sich die Weste über dem Bauch glatt. «Ein etwas zweifelhaftes Kompliment, würde ich sagen.»

«Ich meinte doch nur deinen Anzug, den Hut und die Art, wie du deinen Blick schweifen lassen kannst über unendliche Ländereien.»

Tatsächlich sah man ringsum nur Wald, Felder und Wiesen mit kleinen Baumgruppen.

«Wie hast du hier nur eine Baugenehmigung bekommen? Das war doch damals sicher kein Bauland.»

«Ist es heute noch nicht.» Fricka schob den Hut in den Nacken. «Vitamin B, wie man so schön sagt. Das Grundstück habe ich dem Bauern Schraven abgeluchst.» Er schaute hinüber zur Ligusterhecke am anderen Ende des Rasens, hinter der man das rote Schindeldach einer Scheune schimmern sah. «Und wenn man in der richtigen Position war und die richtigen Leute kannte … Nun ja, heute bin ich nicht mehr unbedingt stolz darauf.»

Man hörte einen Hund kläffen, eine barsche Männerstimme, dann wehte der strenge Geruch von Schweinedung herüber.

«Puh!» Van Appeldorn hielt sich die Nase zu.

Onkel Fricka lachte. «Man gewöhnt sich daran. Und früher war es auch nicht so schlimm, erst seitdem die Alten tot sind und Rainer den Hof allein führt. Ein Eigenbrötler, wie er im Buche steht, der Rainer, kriegt kaum die Zähne auseinander. Keine Frau, keine Kinder, dabei ist er schon zweiundfünfzig. Auch keine Freunde, soweit es mir bekannt ist.»

«Keine Angestellten?»

Onkel Fricka schüttelte den Kopf. «Die braucht er nicht. Er hält nur ein paar Mastschweine und Milchkühe, Hühner und Gänse, aber das wohl nur noch als Hobby. Er hat nämlich reichlich Land, alles verpachtet, davon kann er anscheinend ganz gut leben. Im Moment ist er allerdings im Krankenhaus. Er soll versucht haben, sich umzubringen, haben die Leute beim Bäcker erzählt. Aber das glaube ich nicht, dafür ist Rainer nicht der Typ.»

«Und wer kümmert sich jetzt um das Vieh?»

«Sein Schwager aus Xanten.» Er nahm den Hut ab und fächelte sich damit Luft zu. «Obwohl ich mir gar nicht vorstellen kann, wie der das schaffen will. Ich habe ihn Anfang der Woche kennengelernt, den Schönling. Ich hole nämlich jeden Abend dort meinen halben Liter Milch, direkt nach dem Melken – leckere Rohmilch, die bekommt man ja heute sonst nirgendwo mehr.» Er runzelte die Brauen. «Aber was erzähle ich hier eigentlich für dummes Zeug? Das interessiert dich doch gar nicht.»

«Doch, natürlich», entgegnete van Appeldorn.

«Gieß uns noch eine Tasse Kaffee ein», sagte der Onkel und setzte den Hut wieder auf.

«Du stellst gar keine Fragen.»

Van Appeldorn schenkte Kaffee nach und fing dann an, die Kuchenkrümel auf seinem Teller zusammenzuschieben. «Weil ich nichts wissen will.»

«Das muss ich wohl akzeptieren.»

Sie schwiegen, schließlich schaute van Appeldorn auf. «Lebt er noch?»

Onkel Fricka nickte langsam, sein Blick war milde. «Ja, dein Vater lebt noch. Früher haben wir ihn ein paarmal besucht. Er hatte es nicht schlecht getroffen in Kanada, hat ganz gut verdient mit seiner Versicherungsagentur in Toronto. Nur mit Frauen hatte er keine glückliche Hand. Er hat noch zweimal geheiratet und sich zweimal wieder scheiden lassen. Mittlerweile ist er sechsundsiebzig und lebt in so einem Rentnerparadies. Du weißt schon: Golfplatz, Swimmingpool und Lieferservice. Er scheint dort ganz zufrieden zu sein.»

«Und Marlies?»

«Deine Schwester nennt sich jetzt Mary und lebt in Kalifornien. Die hat mit ihrem dritten Ehemann wohl eine gute Partie gemacht. Im Grunde weiß ich nicht viel von ihr, wir haben keinen Kontakt.» Seine Augen funkelten. «Man sagt so etwas eigentlich nicht, aber ich habe sie schon als Kind nicht besonders gemocht. Sie war – entschuldige – einfach ein bisschen doof. Aber vor allem hatte sie immer so etwas Forderndes, Nörgeliges an sich.»

Van Appeldorn schaute ihn überrascht an. «Das stimmt, und daran hatte sich auch nichts geändert, als sie sich schließlich vom Acker gemacht hat.»

«Man kann sich seine Geschwister halt nicht aussuchen.»

«Und seine Eltern auch nicht», beendete van Appeldorn das Thema. «Du siehst ein wenig müde aus. Soll ich schon mal den Tisch abräumen?»

Onkel Fricka schaute auf seine Armbanduhr. «Nein, lass nur, das mache ich später. Ein halbes Stündchen Zeit hast du noch.»

Van Appeldorn war etwas eingefallen. «Mir ist da gestern eine Sache untergekommen, bei der du mir vielleicht weiterhelfen kannst. Gibt es die Möglichkeit, von einem Feld mehrmals im Jahr zu ernten?»

«Ja, sicher, durch Direktsaat», bestätigte der Onkel. «Dabei verzichtet man auf die Bodenbearbeitung, also auf Pflügen und Eggen. Man schlitzt den Boden auf und legt das Saatgut ab. Ausgesät werden nicht nur Hauptfrüchte, sondern auch verschiedene Zwischenfrüchte, die man dann chemisch abtötet, um eine Mulchschicht zu erhalten.»

«Ach so.» Van Appeldorn war nicht sicher, ob er alles verstanden hatte.

«Ich persönlich halte gar nichts davon», sprach Onkel Fricka weiter. «Erst einmal dauert es ein paar Jahre, bis das System überhaupt rentabel ist. In der Zeit hat man so gut wie keine Erträge. Außerdem sind die Früchte höchst anfällig für Schädlinge, was natürlich den Einsatz chemischer Waffen nötig macht. Und mit der Zeit wird der Boden, weil er ja nicht mehr umgebrochen wird, so verdichtet, dass Fließwege entstehen, durch die die Pestizide viel schneller direkt ins Grundwasser gelangen als bei der herkömmlichen Bodenbearbeitung. Ich halte es da eher mit der bewährten Fruchtfolge. Da baut man abwechselnd verschiedene Feldfrüchte an, damit der Boden nicht ermüdet und spezifische Schädlinge sich erst gar nicht ausbreiten können.» Er gähnte und schaute wieder auf die Uhr. «Wie sind wir denn jetzt darauf gekommen?»

Van Appeldorn stand auf und fasste seine Hand. «Das Wetter macht einen ganz schön müde, du solltest dir ein Nickerchen gönnen.»


Seine Truppe hatte sich heute beim Training etwas lahm angestellt, also hatte van Appeldorn sie eine Weile «Stürmer gegen Verteidiger» spielen lassen, um sie ein bisschen in Schwung zu bringen. Er selbst hatte sich so wenig wie möglich bewegt, denn die vier großen Stücke Pflaumenkuchen lagen ihm schwer im Magen. In die Vereinskneipe war er nicht mehr mitgegangen, weil er wusste, dass Ulli anrufen würde, damit Paul seinem Papa «Gute Nacht» sagen konnte, und da wollte er zu Hause sein, ohne Kneipenlärm und blöde Kommentare der Kollegen.

Jetzt stand er in der Küche und überlegte, was er zum Abendbrot essen sollte. Nach all dem Süßen am Nachmittag stand ihm der Sinn nach etwas Herzhaftem. Im Kühlschrank fand er ein paar Pellkartoffeln, die von gestern übrig geblieben waren – Bauernpfanne war eine gute Idee. Während die Kartoffeln in der Butter brutzelten, briet er in einer zweiten Pfanne Zwiebel- und Fleischwurstwürfel, schnitt noch kleine Gewürzgurken hinein, gab alles zu den Kartoffeln und rührte zwei verquirlte Eier unter. Ulli streute immer noch Kräuter darüber. Also zog er die Pfanne von der Herdplatte, ging hinaus in den Küchengarten und schnitt ein paar Halme Schnittlauch und einen Stängel Dill ab.

Er schaute zum Himmel, von Westen her zog es zu, Regen lag in der Luft, aber es war immer noch so warm, dass er draußen essen konnte.

Also legte er eine Rio-Reiser-CD auf, holte seine Kartoffelpfanne und ein Glas Milch und setzte sich auf die Terrasse.

Der Sandkasten musste abgedeckt werden, bevor es zu regnen anfing, und wenn er schon einmal dabei war, konnte er auch gleich das Wasser aus dem Planschbecken ablassen, zum Baden war es mittlerweile sicher zu kühl.

Was sollten sie nur mit diesem Hetzel anfangen?

Bernie hatte erzählt, dass sich die Wirtschaftsförderungsgesellschaft einen Agropark in Bedburg-Hau wünschte. Sie hatten sich das Gebiet auf der Karte angeschaut, es war ein riesiges Areal mit etlichen landwirtschaftlichen Betrieben, und mittendrin lag der Ökohof der Vermeers, bei denen Ulli so gern Gemüse kaufte.

Die Wirtschaftsförderung wollte Landwirte «ins Boot holen», hatte in der Zeitung gestanden, also musste die holländische Firma, die ja wohl der Betreiber des Agroparks sein würde, nicht nur an Hetzel, sondern auch an andere Bauern herangetreten sein. Vermutlich konnte Britta Vermeer ihnen weiterhelfen, aber es widerstrebte ihm, sie so kurz nach dem Tod ihres Mannes zu behelligen. Es war sicherlich besser, beim Katasteramt die Besitzer der anderen Grundstücke zu erfragen und sie abzuklappern.

Es klingelte.

Van Appeldorn stapelte Teller, Besteck und Glas und brachte alles in die Küche, bevor er zur Haustür ging. Wer mochte das sein an einem Samstag um diese Uhrzeit? Normalerweise bekamen sie nie unangemeldeten Besuch.

«Wenn ich stör, bin ich in null Komma nix wieder weg. Du muss’ et bloß sagen.»

Josef Ackermann, der Kollege vom Betrugsdezernat, grinste ihn treuherzig an.

«Jupp! Ich dachte, du bist in Spanien.» Van Appeldorn stellte verwundert fest, dass er sich tatsächlich ein bisschen freute – normalerweise ging er Ackermann, der sich in der Rolle der niederrheinischen Frohnatur gefiel, am liebsten aus dem Weg.

«War ich auch bis heute Mittag.»

«Komm doch rein!»

«Ne, lass ma’, ich will euer Familienglück nich’ stören, wo du doch anscheinend tatsächlich ma’ Wochenende has’. Ich weiß doch selbst, wie dat is’.»

«Ach was, ich bin sowieso allein. Ulli ist auf einer Fortbildung und hat Paul mitgenommen.»

«Wenn dat so is’ – aber bloß auf’n Sprung.»

Ackermann folgte van Appeldorn durchs Wohnzimmer auf die Terrasse und redete dabei weiter: «Ich dreh grad ’ne Runde mit de Fiets. Tagelang bloß in miefige Büros un’ dann im Flieger, da brauch ich ’n bisken Wind um die Nase. Un’ mein Guusje wollt mich sowieso unter de Füße weghaben, weil se grad wat besonders Leckeres für mich am Kochen is’, wo ich doch so lang weg war.»

«Ja, klar, setz dich doch, Jupp. Ein Bier?»

«Nee danke, am liebsten Wasser. Ich bin sowieso schon müd’.»

Van Appeldorn stutzte, dachte dann an das Glas Milch, das er eben getrunken hatte, und seufzte. «Ich glaube, wir werden langsam alt.»

«Wem sagste dat! Aber eigentlich muss ich gar nix trinken. Ich wollt nur fragen, ob du mich noch brauchen kanns’ inne Mannschaft. Ich mein, ich weiß, ich hab Trainingsrückstand, aber meinen Torriecher hab ich noch. So wat kann man nich’ lernen, so wat hat man, un’ dat bleibt auch.»

Van Appeldorn grinste breit. «Dich schickt der Himmel!»

«Klasse!», freute Ackermann sich, blickte dann aber sofort misstrauisch. «Soll dat heißen, dat wir die totale Gurkentruppe sind? Komm, setz dich un’ erzähl ma’.»

Das tat van Appeldorn.

«Wie oft is’ denn noch Training?»

«Montag, Donnerstag und notfalls auch noch am Samstag.»

«Da bin ich dabei. Un’ wenn ich ab jetzt noch jeden Tag ’n paar Kilometer auffe Fiets runterreiß, dann können sich die Tulpenzwiebeln aber warm anziehen.»

«Dein Wort in Gottes Ohr.» Van Appeldorn lachte und stand auf. «Jetzt hole ich uns doch mal ein Wasser.»

«Jau, aber mit Kribbel, bitte. Die ganze neue Mode mit medium un’ hastenichgesehen is’ nix für mich. Schmeckt alles wie eingeschlafene Füße.»

Er streckte die Beine aus und atmete tief durch. «Jetzt kann man den Herbst schon riechen. Un’ et könnt’ Regen geben. Der Sandkasten müsste abgedeckt werden.»

«Wollte ich gerade machen.»

«Haste Folie oder ’n Brett?»

«Ein Brett, steht da vorn an der Garagenwand.»

«Dann mach ich dat ebkes, wenn du die Drinks hols’.»

«Nobel, nobel», meinte er, als van Appeldorn mit den Gläsern zurückkam, «Eisklümpkes un’ Zitronenscheibe.» Er trank einen Schluck, schloss die Augen und sah mit einem Mal sehr müde aus.

«Was hast du eigentlich in Spanien gemacht?», fragte van Appeldorn.

«Subventionsbetrug», antwortete Ackermann, ohne die Augen zu öffnen.

«Und wie kommst du da ins Spiel?»

«Ich kenn mich aus mit Molkereien.»

Ackermann schob seine Brille auf die Stirn und blinzelte van Appeldorn kurzsichtig an.

«Interessiert dich dat echt?»

«Klar, sonst hätte ich nicht gefragt.»

«Et gibt da so ’ne spanische Enklave in Afrika, haste vielleicht schon ma’ von gehört: Ceuta. Dat liegt auffem Gebiet von Marokko, is’ aber spanisch.»

Van Appeldorn schüttelte den Kopf. «Da habe ich offenbar eine Bildungslücke.»

«Quatsch», winkte Ackermann ab, «dat kennt keine Sau. Jedenfalls gibt et ’ne holländische Firma, die in Ceuta EU-Milch zu Milchpulver verarbeitet un’ dann nach Afrika exportiert. Damit machen die natürlich den Milchmarkt in Afrika kaputt. Die haben nämlich selber Milch in Afrika, die aber natürlich nich’ so billig is’ wie dat Pulver vonne Holländer. Aber dat nur am Rande, so wat wird ja leider nich’ als kriminell angesehen.» Er rubbelte sich die Wangen und schob die Brille wieder auf die Nase. «Die Milch, die da in Ceuta zu Pulver verarbeitet wird, is’ mit EU-Mitteln subventioniert un’ muss deshalb auch in Europa bleiben. Alles andere is’ eben Betrug. Die Spanier haben eine Soko zusammengestellt un’ mich reingeholt, weil ich mich ’n bisken auskenn mit holländische Firmen un’ Molkereien.»

«Das habe ich gar nicht gewusst», gab van Appeldorn zu und schämte sich ein wenig.

«Wieso auch? Is’ ja nich’ dein Ressort», sagte Ackermann. «Diese B. V. in Ceuta betreibt auch ’n paar Molkereien in Nordrhein-Westfalen, weißt du.»

«Und? Ist was rumgekommen bei eurem Einsatz?»

Ackermann nickte. «Den Laden in Ceuta haben wir dichtgemacht, aber dat is’ doch alles nur ’n Tropfen auffem heißen Stein. In Afrika verrecken die Menschen, un’ ein paar Superkonzerne verdienen sich damit einen goldenen Arsch. Scheiß Globalisierung! Diese verfluchte neoliberale Kacke reißt die ganze Welt in ’t Verderben. Ich kann gar nich’ so viel kotzen, wie mir schlecht is’.» Er leerte sein Glas in einem Zug und klopfte auf den Tisch. «Genug davon, ich will mich heute nich’ mehr aufregen. Ich geh jetzt nach mein’ Weib un’ ess wat Leckeres. Un’ danach will ich se inne Arme nehmen.»

Van Appeldorn brachte ihn zur Tür und schaute ihm nach, wie er mit seinem Rad in der Dunkelheit verschwand.

Ackermann hatte sich mit keinem Wort nach dem Massengrab erkundigt, er war kein bisschen neugierig gewesen, und das sah ihm überhaupt nicht ähnlich.