[zur Inhaltsübersicht]

Siebzehn

Nicht nur Schnittges fühlte sich an einen Fernsehermittler aus Los Angeles erinnert, als Ackermann während der Frühbesprechung ins Büro geschlichen kam, den Kopf gesenkt, einen Arm entschuldigend über den Kopf gehoben, und sich auf den Hocker neben dem Aktenschrank setzte, alles in allem so unauffällig, als hätte jemand eine Glocke geläutet.

Aber Bernie ließ sich nicht lange beirren, sondern berichtete weiter von seiner Internetrecherche.

Als er geendet hatte, war es erst einmal still, schließlich meinte Penny: «Ziemlich gruselig, was du da erzählst. Bist du sicher, dass du nicht auf irgendwelchen antiamerikanischen Propagandaseiten gelandet bist?»

«Schön wär’ et», meldete sich Ackermann aus seiner Ecke, «aber leider hat dat alles Hand und Fuß, wat der Bernie euch da verklickert hat.»

Van Appeldorn schob seinen Kaffeebecher beiseite. «Und du glaubst, dass Greenparc zu Monsanto gehört?»

Ackermann nickte. «Könnte gut sein.»

«Wie auch immer, es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als die Nimwegener Kollegen um Amtshilfe zu bitten», sagte Cox. «Was sind das für Leute bei Greenparc? Wie ist deren Geschäftsgebaren?»

«Geschäftsgebaren?» Schnittges’ Grinsen war ein wenig bitter. «Eine nette Umschreibung für: Räumen sie Leute, die nicht spuren, einfach aus dem Weg?»

«Wollt ihr da ’ne offizielle Anfrage loslassen, oder tut et auch der kleine Dienstweg?», fragte Ackermann. «Ich kenn da nämlich einen vom Betrug in Nijmegen, de zwarte Pit. Der war mit mir inne Soko wegen der Milchpulvergeschichte. Petrus Zomer heißt der in Wirklichkeit. Soll ich den ma’ anrufen?» Er hatte sein Handy schon gezückt.

«Das wäre prima, Jupp», antwortete van Appeldorn erfreut, ein kurzer Draht würde viel Zeit sparen.

Ackermann ging zum Fenster hinüber und fing an, holländisch zu schnattern.

Van Appeldorn hörte gleich, dass es wohl ein längeres Gespräch werden würde, und zog schon mal seine Jacke über. «Ich fahre jetzt zur Staatsanwaltschaft und versuche, Vermeers Exhumierung durchzudrücken.» Er schaute Penny und Schnittges an. «Ihr wolltet doch zum Hof und Schravens Papiere durchforsten. Tut mir den Gefallen und tretet van Gemmern auf die Füße. Die Leute vom Labor warten immer noch auf die Fingerspuren, die Klaus am Tatort genommen hat.»

Ackermann hatte sein Telefonat beendet und griente zufrieden. «Piet kommt heute Mittag zu uns, so gegen zwei. Ich soll dir sagen, dat er sich freut, dich kennenzulernen, Norbert. Er is’ nämlich der Kapitän vonne Nimweger Mannschaft, die am Sonntag gegen uns aufläuft.»


Dr. Müller sei leider erkrankt, erfuhr van Appeldorn bei der Staatsanwaltschaft, in der Zwischenzeit betreue Dr. Stein seine Angelegenheiten.

Van Appeldorn machte innerlich einen Luftsprung, er kannte Stein seit fast zwanzig Jahren, und ihre Zusammenarbeit war immer unkompliziert gewesen. Und so war es auch heute. Der Staatsanwalt stellte zwei, drei Fragen und sagte dann wie immer: «Ihr seid näher dran als ich, und ich bin mir sicher, dass ihr wisst, was ihr tut.»

Er schaute in seinen Terminkalender. «Wenn Bonhoeffer Zeit hat … Mir würde heute Nachmittag um vier passen.»

Van Appeldorn nickte anerkennend, er hatte nicht damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde.

«Auf welchem Friedhof liegt der Mann?»

«Auf dem Friedhof in Hau.»

«Gut, ich sage den Totengräbern dort Bescheid und kümmere mich um das Behördliche.» Stein stand auf und drückte van Appeldorn die Hand. «Wir sehen uns dann um sechzehn Uhr.»


Cox war froh, dass endlich Ruhe eingekehrt war.

Er überlegte einen Moment – eigentlich war er dazu nicht verpflichtet, aber er vergab sich ja nichts dabei …

Kurz entschlossen wählte er die Nummer der Wirtschaftsförderung und ließ sich zum Chef durchstellen. Der Mann sollte erfahren, dass die Bauern in Bedburg verunsichert waren und womöglich gerade dabei, sich einem Unternehmen auszuliefern, von dem man noch nicht wusste, wes Geistes Kind es war.

Dann nahm er sich endlich die Tatortfotos und van Gemmerns Notizen dazu vor und begann, Spurenakten anzulegen.

Als das Telefon klingelte, hob er den Hörer ab, war aber so vertieft in seine Arbeit, dass er nicht verstand, wer was von ihm wollte.

Der Kollege vom LKA blieb geduldig. «Die beiden Männer aus dem Grab konnten identifiziert werden. Wir haben eine Mail geschickt, schaut da mal rein.»

Cox rief die Mail auf: Boris Godunow und Alexandr Repin waren 1942 in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten, danach hatte nie wieder jemand etwas von ihnen gehört. Ihre Familien hatten die beiden Männer nach dem Krieg als vermisst gemeldet, und sie hatten immer noch auf der Liste des Internationalen Roten Kreuzes gestanden.

Boris Godunow war 1906 geboren, also achtunddreißig Jahre alt gewesen, als er starb. Das Foto, das in seinen Militärunterlagen gewesen war, zeigte einen Mann mit hohen Wangenknochen und weit auseinanderstehenden Augen – slawische Gesichtszüge, wie Bonhoeffer gesagt hatte.

Alexandr Repin sah aus wie vierzehn, obwohl er schon neunzehn gewesen war, als man ihn fotografiert hatte, dreiundzwanzig, als er ums Leben kam.

1942 in Gefangenschaft geraten, dachte Cox, und dann hatte man sie als Zwangsarbeiter zum Schanzbau an der Westfront eingesetzt, so konnte es gewesen sein. Und als die Front vom Himmel gefallen war, waren sie verletzt worden, Godunow hatte sein Bein verloren und Repin sein Kindergesicht. Man hatte sie ins Antonius-Hospital gebracht, vermutlich hatte Zirkel sie operiert. Aber dann waren sie im Weg gewesen, «unwert», genauso wie die kleine Rosel mit dem Wasserkopf, Lis und Lisken, beide «verwachsen», hätte man früher gesagt, verwachsen und von fragwürdiger Moral.

Er schüttelte langsam den Kopf. Er hatte sich nicht vorstellen können, dass es nach fünfundsechzig Jahren noch möglich sein würde, die Opfer zu identifizieren, ihnen ihren Namen, ihre Geschichte wiederzugeben.

Ob die beiden russischen Soldaten Nachkommen hatten, die sich an sie erinnerten?

«Von Reiter nach wie vor keine Spur», lautete der letzte Satz der Mail aus Düsseldorf.

Am Montag würde er noch einmal an der Heine-Uni ein bisschen Dampf machen wegen Reiters Dissertation, beschloss Cox, nahm sich dann ein Foto von einem Paar Gummistiefel vor, das neben einer Waschmaschine von anno Tobak stand, und versuchte, van Gemmerns Notizen zu entziffern. Konnte das «Hauswirtschaftsraum» heißen?

Diesmal klingelte nicht das Telefon, sondern sein Handy. Es war Penny, und sie war sauer.

«Van Gemmern ist nicht da!»

«Was meinst du mit ‹nicht da›?», fragte Cox sanft. Wenn Penny diesen Ton in der Stimme hatte, sah man sich besser vor.

«Welches der beiden Wörter verstehst du nicht?», fauchte sie. «Klaus ist weg! Er hat einem von seinen Lakaien letzte Nacht eine SMS geschickt. Er sei auf einem Kongress in Italien und nicht vor Samstag zurück.»

«Das ist ein Witz, oder?»

«Höre ich mich so an? Ich dachte, du wüsstest vielleicht davon.»

«Ich? Dann hätte ich es euch doch wohl gesagt.» Jetzt schwoll auch Cox der Kamm.

Penny atmete hörbar aus. «Ach, Mist, sorry, ich wollte dich nicht so anblaffen. Es ist nur, van Gemmerns Leute rennen hier rum wie kopflose Hühner. Weil dieser Arsch – entschuldige –, weil unser Einstein nicht in der Lage ist, zu delegieren. Die Küche sei ‹No-Go-Area›, hat er ihnen eingebläut. Und wo er die bisher genommenen Fingerspuren versteckt hat, weiß kein Mensch. Wo sind wir denn hier? Im Kindergarten?»

Cox verstand die Welt nicht mehr. Klaus van Gemmern war immer da und ruhte nicht eher, bis er seine Aufgabe hundertprozentig erfüllt hatte. Niemals.

«Sei nicht böse, wenn ich ein bisschen langsam bin, aber nochmal bitte zum Mitschreiben: Van Gemmern ist zu einem Kongress nach Italien gefahren?»

«Richtig.»

«Ohne seine Ermittlungen abzuschließen?»

«Nicht einmal ansatzweise, Peter. Du hast doch gehört, was Norbert gesagt hat: Das Labor wartet auf die Proben. Und seine Mitarbeiter hier erzählen uns auf einmal was von Brandstiftung auf der Tenne und dass die Reifenspuren am Bahndamm zu Schravens Mercedes passen könnten. Alles ohne Hand und Fuß. Und festlegen wollen die sich auf gar nichts, bevor ihr Chef nicht wieder da ist. Das kann doch nicht sein! Es muss doch einen Plan B geben für den Fall, dass Klaus mal krank ist oder im Urlaub.»

«Wenn ja, kenne ich ihn nicht.» Cox wunderte sich selbst, dass er noch nie darüber nachgedacht hatte. Aber das war ja eigentlich auch Toppes Aufgabe.

«Ich werde Klaus schon auftreiben», versuchte er, sie zu beruhigen.

«Wenn du sein Handy meinst, vergiss es. Das habe ich schon dreimal versucht, er hat es ausgeschaltet.»

Cox hörte, dass sie mit jemandem sprach.

«Super», sagte sie dann. «Jetzt hat auch noch Bernie Schaum vorm Mund. Norbert hat ihm gerade Gereons Exhumierung aufs Auge gedrückt, weil er selbst um die Zeit den Coach für dieses dämliche Fußballspiel geben muss und ich persönlich involviert sei.» Er hörte sie schlucken. «Was ich zweifelsohne bin.»

«Wir sehen uns um zwei im Büro, wenn der Holländer kommt», sagte sie dann leise.

Cox entspannte sich. «Ich umarme dich.»

«Ich dich auch.»

«Gut.»


Van Appeldorn schaute auf die Uhr. Bis Petrus Zomer kam, blieb ihm noch genug Zeit, mal eben nach Hause zu fahren und zu schauen, wie die Dinge dort standen.

Ulli würde noch bei der Arbeit sein und Paul in der Kita, und er fragte sich, wie sein Onkel allein zurechtkommen mochte. Heute Morgen beim Frühstück war er ziemlich still gewesen.

Fricka saß am Küchentisch und las die Tageszeitung. Aus einem Topf auf dem Herd duftete es gut.

«Du kochst?», staunte van Appeldorn.

Der Onkel lachte. «Zu viel der Ehre, ich taue nur eine Minestrone auf, die Ulli eingefroren hatte. Aber den Parmesankäse dazu habe ich frisch gerieben.» Er legte die Zeitung weg. «Machst du Mittagspause? Deine Lieben kommen doch erst in einer Stunde.»

Van Appeldorn zog einen Stuhl heran und setzte sich rittlings darauf. «Mittagspause ist ein Fremdwort in meinem Beruf. Nein, ich wollte nur mal sehen, wie es dir so geht.»

«Wie es einem Mann geht, der frisch verliebt ist. Deine Ulli ist eine Traumfrau. Aber ein leichtes Leben hat sie nicht. Als ich zu Bett ging, war es nach zehn, und du warst immer noch nicht zu Hause.»

«Das ist nicht die Regel», entgegnete van Appeldorn und kämpfte das schlechte Gewissen nieder, das sofort seinen Kopf reckte. «Und wenn es doch einmal vorkommt, dann trägt Ulli das mit. Deshalb funktioniert es mit uns so gut.»

«Das sehe ich ja, aber pass auf, dass du das nicht irgendwann für selbstverständlich hältst.»

«Den Fehler mache ich mit Sicherheit nicht», erwiderte van Appeldorn gleichermaßen ernsthaft.

«Da bin ich froh», sagte Fricka, und seine Stimme klang belegt. «In deinem Alter weiß man oft nicht, wie kostbar das ist, was man hat.»

Dann stand er auf, ging zum Herd, lüpfte den Topfdeckel, rührte um und schaltete die Herdplatte aus. «Fertig!»

Er feixte. «Und du wolltest also mal kontrollieren, ob dein alter Onkel euch nicht aus Schusseligkeit die Bude abgefackelt hat.»

«Jetzt hör aber auf!»

Fricka setzte sich wieder und kicherte. «Das ist das Schöne am Alter: Wenn einem danach ist, kann man ungestraft Gemeinheiten von sich geben. Nein, aber jetzt mal ohne Blödsinn, Ulli und ich haben heute früh alles abgesprochen. Wir essen gleich zusammen das leckere Süppchen, und danach übernehme ich Paul. Dann hat Ulli mal ein bisschen Zeit für sich und kann ein paar Besorgungen machen oder wonach ihr sonst der Sinn steht.»

«Das ist wirklich nett von dir.»

«Von wegen nett, das ist der reine Egoismus. Ihr habt ja den Wald gleich gegenüber, und da dachte ich mir, ich mache mal einen Herbstspaziergang mit dem Kleinen. Gerade jetzt gibt es doch so viel zu gucken.»


Petrus Zomer hatte lackschwarzes Haar, einen ebenso schwarzen Vollbart und dunkle Augen – daher rührte wohl sein Spitzname.

«De zwarte Pit» war der holländische Name für «Knecht Ruprecht», den furchteinflößenden Begleiter des heiligen Nikolaus, und van Appeldorn hatte einen finsteren Mann erwartet, wortkarg und streng. Aber Zomer hatte so gar nichts Bedrohliches an sich, er war Mitte vierzig, ein bisschen übergewichtig, und seine Augen blickten humorvoll und warm.

Ackermann spielte den Maître de Plaisir, schenkte Kaffee ein und reichte Pappschalen mit frittierten braunen Bällchen herum, dazu Mayonnaise und Senf.

«Was ist das?» Penny schnupperte. «Kann man das essen?»

«Das sind Bitterballen», antwortete Zomer. «Schau mich an, wir Holländer essen die bei jeder Gelegenheit. Jupp wollte wohl, dass ich mich wie zu Hause fühle.»

Penny biss in ein Bällchen und machte ein komisches Gesicht. «Schmeckt gar nicht so schlecht …»

Zomer lachte. «Aber an die Konsistenz muss man sich gewöhnen, nicht wahr?»

«Wollen wir uns setzen?», fragte er dann und wischte sich die Hände an einer Papierserviette ab. «Ich komme nicht aus der Gegend hier, und ich spreche auch kein Platt. Für mich ist Deutsch eine Fremdsprache, wenn ich Fehler mache, müsst ihr das bitte entschuldigen.»

Sein Akzent war charmant.

«Ihr habt also den Verdacht, dass Monsanto hier bei euch Fuß fassen will.»

«Jupp hat den Verdacht», korrigierte van Appeldorn. «Wir anderen sind da wohl ziemlich unbedarft. Ich zumindest hatte bisher noch nie etwas davon gehört», gestand er.

«Dann sollten wir ein bisschen weiter ausholen, denke ich.» Zomer schaute Ackermann an, aber der hob beide Hände.

«Nee, nee, mach du dat ma’ lieber, du kannst dat bestimmt besser wie ich.»

«Also gut, der Name Rockefeller sagt euch doch bestimmt etwas.»

Nicken.

«Diese Rockefellers, eine sehr mächtige Familie übrigens, haben vor vielen Jahren einmal die Firma Monsanto gegründet, im Vergleich zu den anderen Unternehmen ihres Imperiums ein eher kleiner Betrieb, der Saccharin herstellte und Herbizide. Behaltet das einfach mal im Hinterkopf.»

Er überlegte und zupfte dabei an seinen Schnurrbarthaaren.

«In den siebziger Jahren kam in den USA die Sorge auf, die Entwicklungsländer könnten durch unkontrolliertes Bevölkerungswachstum und damit steigendem Nahrungsbedarf den Amerikanern die Lebensgrundlage entziehen. Also beauftragte die Nixon-Regierung Henry Kissinger damit, eine Lösung für dieses Problem zu finden.»

«Den Henry Kissinger?», fragte Bernie verblüfft.

«Den Henry Kissinger», bestätigte Zomer. «Kissinger verfasste 1974 sein ‹National Security Memorandum for Drastic Global Population Control›, also eine nationale Sicherheitsstudie zur weltweiten Geburtenkontrolle, deren Kerngedanke es war, das Bevölkerungswachstum über die Ernährung zu kontrollieren. Er entwarf eine ‹New Food Diplomacy› unter dem Motto: Belohne Freunde, bestrafe Feinde. Und prägte den Satz: Wenn du die Kontrolle über das Öl hast, kannst du Staaten kontrollieren, wenn du die Kontrolle über Nahrungsmittel hast, kontrollierst du Völker.

Die Studie formulierte das Ziel, die USA sollten die ‹Kornkammer› der Welt werden. Das hört sich harmlos an, ist es aber nicht, denn es ging darum, den USA möglichst schnell die Kontrolle über die gesamte Welternährung zu verschaffen. Völkern, die nicht willens oder in der Lage waren, ihr Bevölkerungswachstum zu kontrollieren, sollten Nahrungsmittel vorenthalten werden, forderte das Memorandum. Wenn unterlegene Rassen sich dem Sicherheitsbedürfnis in den Weg stellten, müsse man Mittel finden, sie loszuwerden.»

Zomer machte eine Pause. Die ungläubigen, schockierten Gesichter waren ihm nicht neu.

«Wie konnte der Plan, die USA zum Welternährer zu machen, umgesetzt werden?» Er stellte selbst die entscheidende Frage. «Die damalige US-Regierung suchte, unter der Beratung von Kissinger, dreizehn Länder aus, die den USA besonders gefährlich erschienen, weil ihr Bevölkerungswachstum sehr hoch war und deren Verbrauch von Nahrungsmitteln dringlichst reduziert werden musste. Zu den Ländern gehörten unter anderen Mexiko, Brasilien, Indien, Nigeria, aber auch die Türkei.

Die Familie Rockefeller, die den US-Regierungen immer schon aufs engste verbunden war, schickte ihre damals noch kleine Firma Monsanto ins Rennen. Und Monsanto verkündete noch im selben Jahr ein neues Firmenkonzept, die ‹Green Revolution›, deren Grundidee es war, kleine Bauernbetriebe in Landwirtschaftsfabriken, sogenannte ‹Factory Farms›, umzuwandeln und aus Agrikultur Agriwirtschaft zu machen. Das Wort ‹Agrobusiness›, das heute manchem so leicht von den Lippen geht, hat dort seinen Ursprung.»

«Agrobusiness», warf Ackermann hitzig ein, «hieß nix anderes, als die kleinen Bauern inne Wüste zu schicken un’ riesige Monokulturen anzulegen, Betriebe, die angewiesen sind auf Saatgutimporte aus USA.»

«Das ist richtig», bestätigte Zomer. «Monsanto entwickelte nämlich für diese Schwellenländer neue Hybridsamen, die kaum reproduktionsfähig sind, sodass Jahr für Jahr wieder Saatgut bei Monsanto eingekauft werden muss. Und auf dieses genveränderte Saatgut hat Monsanto Patente, also zahlen die Landwirte nicht nur für die Samen, sondern zusätzlich auch noch Lizenzgebühren. Und wenn doch einmal ein Bauer heimlich Samen zurückbehält und im folgenden Jahr ausbringt, zahlt er horrende Strafen.»

«Un’ dat bedeutet», mischte Ackermann sich wieder ein, «bevor du wat zu fressen has’, brauchste ers’ ma’ ’ne Menge Knete. Un’ wenn de die nich’ has’: Pech! So kriegt man die Bevölkerung in null Komma nix reduziert, dat sag ich euch.»

«Die USA haben es aber lange verstanden, ihre Idee werbewirksam zu verkaufen», sagte Zomer. «Seht her, die Vereinigten Staaten garantieren der Welt – auch den armen Entwicklungsländern – eine absolute Nahrungssicherheit! Nahrungssicherheit ist das Schlüsselwort. Und sie sind gar nicht schlecht gefahren mit dieser Politik.» Er schaute Ackermann an. «Die Zahlen hast du besser im Kopf.»

«Ja, ja.» Ackermann klang ungeduldig. «Dat hab ich Norbert alles schon erzählt, als ich versucht hab zu erklären, wer auf dieser verkommenen Welt wirklich die Macht hat.»

«Es klingt vielleicht naiv», sagte Penny, «aber wieso steht keiner auf und tut etwas dagegen, wenn man das alles weiß?»

«Nun ja», antwortete Zomer. «Es hat lange gedauert, bis man das Ganze durchschaut hatte, und ein bisschen tut sich ja auch etwas. Es gibt mittlerweile eine weltweite Gegenbewegung, nicht nur in den betroffenen Schwellenländern. Auf einem ‹World Food Summit› hat sich 1996 ein Bauernnetzwerk gegründet, das sich ‹La Via Campesina› nennt und deren Motto lautet: Der Anbau des eigenen Saatgutes ist bereits Widerstand gegen die Globalisierung.»

«Wenn ich dat kurz einwerfen darf – wat dat Wort ‹Globalisierung› angeht, hat Freund Kissinger et von Anfang an auf’n Punkt gebracht: Globalisierung bedeutet konkret die Vorherrschaft der USA auf der Welt.»

«Stimmt, Jupp. Und ‹La Via Campesina› will jetzt regionale Saatgutzentren aufbauen, um Nahrungssouveränität zu erreichen.»

«Im Gegensatz zu Nahrungssicherheit, die der Große Bruder so gern für alle Zeiten gepachtet hätt’. Überall auffe Welt wollen die Bauern wieder ihr eigenes Ding machen.»

«Ich verstehe», nickte van Appeldorn. «Wie du gesagt hast: Kartoffeln in Peru, Reis in Indien, Mais in Mexiko …»

«Genau!»

«Tja, so einfach wird es nicht werden», wandte Zomer ein. «Da die Globalisierung inzwischen so weit fortgeschritten ist und wirtschaftliche Interessen ja immer über allem stehen, hat die Idee der Nahrungssouveränität mächtige Gegner. Die USA natürlich, aber auch die EU, die World Trading Organisation, die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds, zum Beispiel. Die alle tragen dazu bei, dass heute, 2009, 97 % aller Saatgutpatente im Besitz von Unternehmen aus Industrieländern sind, während 90 % aller biologischen Ressourcen auf der Südhälfte der Erde liegen, nämlich in den sogenannten Schwellenländern.»

«Patente auf Lebewesen», rief Cox. «Was für ein Irrsinn!»

«Kalkulierter Irrsinn», bemerkte Schnittges böse.