39

Edie Kaplan begriff nicht, was ihre Freundinnen so erstaunlich an ihrer Haushaltsführung fanden. Sie kochte koscher mit zweierlei Geschirr, eines für Fleisch, das andere für Molkereiprodukte, weil das für sie einfach normal war. Ihr Vater war Schammes einer großen Synagoge in Boston gewesen, und von einem Synagogendiener erwartet man, dass er ein frommer Mann ist, der sich streng an die religiösen Vorschriften hält. Er war nicht nur für die Instandhaltung des Gebäudes verantwortlich, sondern musste auch alle notwendigen Vorbereitungen für die Gottesdienste treffen, bei den täglichen Gebeten als Vorbeter fungieren, aus den Schriftrollen lesen und sogar gelegentlich den Kantor vertreten.

Edie war in einem Haus aufgewachsen, in dem die Vorstellung, Fleisch und Molkereiprodukte vom selben Geschirr zu essen, ebenso unmöglich war wie die, etwa vom Fußboden zu essen. Und den Gedanken, beides während derselben Mahlzeit zu essen, war für sie einfach Ekel erregend. Schon wenn sie nur ein Rezept las, das für die Zubereitung eines Fleischgerichts die Verwendung von Butter oder Milch vorschrieb, drehte sich ihr der Magen um.

Sie wusste natürlich, dass andere Leute Schweinefleisch und Hummer aßen, für sie selbst aber waren diese Dinge ebenso fremd und ausgefallen wie Schnecken, Schlangenfleisch oder geröstete Ameisen, die ja auch von manchen Leuten gegessen wurden. Auch sah sie in ihren Essgewohnheiten kein Opfer, das sie aus religiösen Gründen brachte, wie die Katholiken, wenn sie am Freitag Fisch aßen. Gewiss, sie wusste verstandesmäßig, dass die Speisen, die sie aß, gestattet waren, und die Speisen, die sie nicht aß, nach den Regeln ihres Glaubens als tabu galten, tatsächlich aber reagierte sie in dieser Beziehung rein instinktiv. Sie hätte keinen Bissen von den verbotenen Speisen schlucken können, und hätte man sie gezwungen, sie hätte ihn wieder ausgewürgt. Wenn die Kaplans mit ihren Freunden auswärts aßen, bestellte sie sich immer Fisch, und wenn einer aus der Gesellschaft sich Fleisch bestellte und dann vor allem ein mit Butter bestrichenes Brötchen dazu aß, zuckte sie unwillkürlich zusammen und musste sich abwenden.

«Aber ist es nicht furchtbar umständlich, Edie, von allem jeweils zwei Garnituren zu haben? Bringst du sie nicht durcheinander?»

Dann zuckte sie die Achseln und antwortete: «Als wir in Israel waren, haben wir gesehen, wie die Beduinen auf dem Boden saßen und alle gemeinsam aus einer Schüssel aßen, mit den Händen. Zum Essen an einem Tisch zu sitzen, jeder mit einem eigenen Teller und einem eigenen Besteck, muss ihnen auch furchtbar umständlich vorgekommen sein.»

Edie hatte Chester geheiratet, als dieser noch Jurastudent war, und sie hatten mehrere Jahre bei ihren Eltern gewohnt. Es war nicht unangenehm gewesen, aber ihr Mann hatte sich über die Notwendigkeit dieses Arrangements geärgert. Nach bestandenem Staatsexamen hatten einige seiner Freunde öffentliche Ämter übernommen, etwa als Assistant District Attorney, oder waren bei Versicherungen und großen Anwaltskanzleien gelandet. Chester dagegen hatte sich entschlossen, eine eigene Anwaltspraxis zu eröffnen, aber es kamen keine Klienten.

Edie glaubte jedoch an ihn, ebenso wie sein Schwiegervater, der manchmal sagte: «Keine Sorge, Chester, vertraue auf Gott, und alles wird gut werden.»

«Meinst du, Er wird mir Klienten schicken?», spöttelte Kaplan.

«Nun, zweifellos wird Er für dich nicht hinter Krankenwagen herjagen, Chester», antwortete sein Schwiegervater, «und Verbrechen wird Er für dich auch nicht arrangieren, damit du die Täter verteidigen kannst. Doch wenn du betest, werden deine Wünsche erfüllt werden. Als junger Mann wollte ich immer Rabbi werden und habe eifrig dafür studiert, aber das eine oder das andere kam dazwischen. Trotzdem verlor ich den Glauben nicht und bekam schließlich das, was ich mir wirklich wünschte.»

«Aber du bist doch gar kein Rabbi. Du bist Schammes.»

«Gewiss, aber was hatte ich mir denn wirklich gewünscht? Zuerst wollte ich Rabbi werden wegen der Ehre. Später, als ich älter und reifer wurde, wollte ich Rabbi werden, weil ich dachte, dass mir das Leben gefallen würde: studieren, beraten, Menschen auf den richtigen Weg lenken, lehren. Und genau das mache ich jetzt. Ich habe Zeit zum Studieren, ich unterrichte eine Gruppe Männer im Talmud und bin fast immer die Stimme der Gemeinde, wenn ich täglich bei der Andacht vorbete. Und ich habe drei Rabbis an der Synagoge überdauert. Alle waren sie so beschäftigt mit Sitzungen und Ausschüssen und der Vorbereitung kleiner Ansprachen, dass sie nie Zeit zum Studieren hatten und nicht mal immer am täglichen minjen teilnehmen konnten. Drüben, in der alten Heimat, war das alles natürlich ganz anders – anders für den Rabbi und anders für den Schammes. Aber wir sind nicht mehr in der alten Heimat. Wir sind hier. Und hier tue ich, was ich mir wirklich gewünscht habe.»

«Warum passiert denn mir so was nicht? Ich gehe jeden Morgen und jeden Abend mit dir zum minjen …»

«Aber man muss beten», antwortete sein Schwiegervater.

«Und was mache ich? Lese ich vielleicht die Zeitung?», fragte Chester aufgebracht.

«Du sprichst, wie die meisten, lediglich die Worte aus. Das Gebet muss in deinen Gedanken sein.»

Im Laufe der Zeit ging es Edies Ehemann immer besser. Klienten kamen, zum Teil aufgrund der Kontakte, die er in der Synagoge angeknüpft hatte, und schließlich konnten Edie und Chester ihre eigene Wohnung beziehen. Insgeheim war er überzeugt, dass sein Glaube diesen Erfolg ausgelöst hatte. Er hängte diese Überzeugung jedoch nicht an die große Glocke, denn der Glaube war unmodern, und seine Zeitgenossen hätten ihn für schrullig gehalten. So legten sie seine regelmäßige Teilnahme an den Gottesdiensten als eine leichte Exzentrizität aus oder als Gefälligkeit seinem Schwiegervater gegenüber. Oder sogar als günstige Gelegenheit, Klienten zu werben.

Als Leah geboren wurde, fanden sie, eine Stadtwohnung sei für die Entwicklung von Kindern ungeeignet, und zogen um nach Barnard’s Crossing. Chester wurde Mitglied der orthodoxen Synagoge im nahen Lynn und nahm regelmäßig am minjen teil. Der Sabbat jedoch stellte sie vor ein Problem. Die Synagoge lag gute fünf Meilen vom Haus entfernt, zu weit, um zu Fuß zu gehen, und Autofahren war tabu. Er besprach das Problem mit Edie. «Ich könnte am Freitagnachmittag in ein Hotel gehen und …»

Sie schüttelte den Kopf. «Dann würdest du das Sabbatmahl zu Hause versäumen. Und Vater sagt, das ist weit wichtiger, als zur schul zu gehen. Du musst deinen Verstand gebrauchen. Einmal zum Beispiel fiel kurz vor dem Freitagabendgottesdienst der Strom in der Synagoge aus. Und aus irgendwelchen Gründen war der Hausmeister nicht da. Mein Vater wusste, was zu tun war. Eine Sicherung war durchgebrannt. Aber sie auszuwechseln hätte Arbeit am Sabbat bedeutet. Er wollte auf die Straße gehen, weil er hoffte, einen nichtjüdischen Passanten zu finden, den er bitten konnte, ihm zu helfen, aber dann hatte er Angst, dass dabei was passieren könnte. Er ist im Umgang mit Elektrizität immer ein bisschen ängstlich gewesen. Andererseits, was würde geschehen, wenn die Leute kamen und die ganze Synagoge war dunkel? Also wechselte er, obwohl es Arbeit und daher am Sabbat verboten war, die schadhafte Sicherung selber aus.»

«Aber ich kann nicht am Samstag im Auto an der Synagoge vorbeifahren.»

«Dann parkst du einen Block entfernt und gehst von da aus eben zu Fuß», riet Edie.

Als Jacob Wasserman eine Organisation für den Bau einer Synagoge in Barnard’s Crossing gründete, trat Chester Kaplan natürlich bei, zeigte aber wenig Interesse daran, da es eine konservative Synagoge werden sollte. Als dann Tochter Leah alt genug war, um in die jüdische Schule zu gehen, beschloss er jedoch, sie in die Schule der Synagoge von Barnard’s Crossing zu schicken, statt all die Umstände auf sich zu nehmen, die es bedeutete, das Kind täglich in die Schule der Synagoge von Lynn zu bringen. Infolgedessen bekam er engeren Kontakt mit der einheimischen Synagoge und entsprechend weniger mit der Synagoge von Lynn. Zwar vermisste er hier verschiedene Dinge, aber es gab Kompensationen. Als aktiv praktizierender und in Dingen der Religion beschlagener Jude gehörte Chester zu einer kleinen Elite der einheimischen Synagoge, während er in Lynn nur einer von vielen gewesen war. Daher erwies man ihm besonderen Respekt.

Kurz nach Leahs Scheidung begann ihr Vater mit seinen Mittwochsempfängen und den Klausuren in New Hampshire. Edie war von beidem nicht sehr begeistert, aber sie drängte ihm ihre Meinung nicht auf, da sie undeutlich spürte, dass Chesters neu gewonnenes Interesse irgendwie etwas mit Leahs Scheidung zu tun hatte, dass es eine Reaktion auf das Unglück war, von dem ihre Tochter heimgesucht wurde, eine spezielle religiöse Übung dafür, dass er in Ungnade gefallen war.

Als ihr Mann zum Präsidenten der Gemeinde gewählt wurde, war Edie erfreut, aber nicht übermäßig, denn sie war in einem Haushalt aufgewachsen, in dem der Präsident der Synagoge häufig als Feind oder wenigstens als Opposition betrachtet wurde. Als er Pläne für eine permanente Klausur zu schmieden begann, zeigte sie nur geringes Interesse.

«Aber was hältst du von der Wirkung, die so etwas auf die Gemeindemitglieder ausüben wird?», fragte Chester. «Diese Klausur bietet ihnen die Chance, an ihrer Religion zu arbeiten, ihrer Religion mehr Sinn zu verleihen.»

«Komisch, ich habe das nie als Arbeit betrachtet», gab Edie zurück. «Es gibt Vorschriften, und alles wird ganz deutlich erklärt. Man weiß immer, was man zu tun hat. Wo siehst du da Arbeit?»

Als sie hörte, dass der Rabbi gegen die Klausur war, zeigte Edie sich beunruhigt, doch ihr Mann war so begeistert von dem Projekt, dass sie nicht mit ihm streiten wollte. Als sie allerdings dann hörte, wie er Bill Safferstein nach der Sitzung erklärte, er brauche sich keine Sorgen zu machen, der Rabbi sei der einzige Gegner, und er hege nicht den geringsten Zweifel, sein Antrag auf Neuabstimmung werde abgelehnt, konnte sie nicht mehr schweigen.

«Es ist nicht richtig, Chet», sagte sie. «Mein Vater hat im Laufe der Jahre mit vielen Rabbis zu tun gehabt. Manche mochte er, und manche mochte er nicht so sehr. Mit einigen hat er diskutiert, mit einigen hat er gestritten, weil er ein gelehrter Mann war und den Talmud ebenso gut kannte wie sie. Doch wenn er einen Rabbi nach einer Rechtsangelegenheit fragte, akzeptierte er dessen Entscheidung. Man stellt sich nicht gegen einen Rabbi, Chet. Wenn man ihn um sein Urteil bittet, nimmt man dieses Urteil an.»

«Aber ich habe ihn in diesem Fall nicht um seine Meinung gebeten. Er hat sie uns aufgedrängt.»

«Das ist dasselbe, Chet. Wenn man ihn fragt, akzeptiert man seine Antwort. Und wenn er meint, dies sei eine Angelegenheit, die ihn angeht, akzeptiert man diese Entscheidung ebenfalls. Aus dieser Sache entsteht nichts Gutes, Chet. Glaube mir.»