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Polizeichef Lanigan schob seinem Lieutenant die Physicians Desk Reference hinüber und sagte: «Also, das hier hat Doc Cohen verschrieben, und das hier hat der alte Kestler erhalten und eingenommen.»

Lt. Eban Jennings richtete den Blick der wasserblauen Augen auf die kleine Farbtafel, dann betrachtete er die Pille, die auf der Schreibtischplatte lag. Sein ausgeprägter Adamsapfel hüpfte, als er sagte: «Völlig verschieden. Der Apotheker muss sich geirrt haben.»

Lanigan schüttelte den Kopf. «Laut Dr. Cohen ist ein Irrtum des Apothekers höchst unwahrscheinlich. Ich habe mich außerdem bei Timilty erkundigt, der Brundages Geschäft am Ende von meiner Straße übernommen hat, und der sagt ebenfalls, dass Apotheker beim Ausführen von Rezepten keine Fehler machen. Nun ist Timilty einer von diesen übereifrigen, der der Konkurrenz, wenn ihm die Möglichkeit gegeben wird, gern eins auswischt. Aber er war derselben Meinung wie der Doktor: Ein Apotheker macht so einen Fehler nicht.»

«Ja, aber was ist es dann?»

Lanigan lehnte sich bequem zurück. «Tja, ich würde sagen, wenn es kein Fehler war und doch geschehen ist, dann muss es Absicht gewesen sein.»

«Aber das wäre Mord!», gab Jennings zu bedenken.

«Oder Totschlag. Und warum nicht? Morde werden nicht nur mit Schießeisen und Dolchen begangen. Die meisten Menschen besitzen weder einen Dolch noch einen Revolver. Wenn man von den Profis absieht, wird in den meisten Fällen verwendet, was gerade zur Hand ist. Der scharfe Gegenstand entpuppt sich fast immer als etwas ganz Alltägliches, ein Steakmesser etwa. Erinnern Sie sich an Millicent Hanbury, die eine Stricknadel benutzt hat? Und an Ronald Sykes, der Isaac Hirsh umbrachte, indem er einfach den Ventilator seines Wagens verschloss, während der Motor lief? Überlegen Sie mal. Das natürlichste Mordinstrument ist das, was griffbereit ist. Hier haben wir einen Apotheker mit einem ganzen Laden voll Chemikalien. Wenn der jemand umbringen wollte, könnte er natürlich versuchen, sich einen Revolver zu beschaffen. Viel wahrscheinlicher aber ist es, dass sein erster Gedanke all den vielen Dingen gilt, die er selbst in seinen Regalen hat.»

«Ja aber … Aber was, das ist doch verrückt? Hören Sie, Hugh, ich kaufe im Town-Line Drugstore, seit wir das Haus verkauft und uns die Wohnung an der Salem Road genommen haben. Ich holte mir dort fast jeden Abend die Zeitung und ein paar Zigarren, und man könnte sich keinen netteren Menschen vorstellen als Marcus Aptaker. Nicht dass er einer von diesen leutseligen Typen ist. Nein, er ist eigentlich eher konservativ, wissen Sie, mit einem ausgeprägten Verantwortungsbewusstsein. So ein Mann würde bestimmt nicht hingehen und Medikamente rausgeben, mit denen man Menschen umbringen kann.»

«Ich kenne Marcus Aptaker länger als Sie», erwiderte Lanigan. «Als ich damals zur Polizei kam, musste ich des Nachts auf der Salem Road Streife gehen. Zu jener Zeit waren die Drugstores noch bis Mitternacht geöffnet, und ich pflegte mich bei Aptaker aufzuwärmen. Er hatte eine Kochplatte, und Marcus Aptaker spendierte mir oft genug eine Tasse Kaffee, die ich trank, während wir uns unterhielten. Ich mag Aptaker, aber er gehört zu diesen starren, gradlinigen Typen. Diese Art Menschen sieht alles nur schwarz und weiß, ohne Zwischentöne. Und wenn er glaubt, jemand hätte ihm Unrecht getan, kann ich mir vorstellen, dass er das Gefühl hat, Richter und Jury zugleich sein zu müssen – und sogar Vollstrecker. Erinnern Sie sich an seinen Sohn Arnold?»

«Ja. Hat der ihm nicht im Geschäft geholfen?»

Lanigan lehnte sich in seinem Drehsessel zurück und legte die Füße auf die herausgezogene unterste Schreibtischschublade. Den Kopf in die gefalteten Hände gelegt, starrte er zur Decke empor. «Diesen Jungen, den Arnold, warf er vor zwei, drei Jahren hinaus, weil er die Hand in die Kasse gesteckt hatte.»

«Nein!»

«O doch. Der Junge trieb sich damals in den Nightclubs und Spielkasinos von Revere herum und hatte Schulden gemacht, die er mit einem Schuldschein beglich. Wahrscheinlich drängte man ihn zur Einlösung des Scheins und bedrohte ihn sogar. Wenn man bei diesen Kerlen nicht bezahlt, brechen die einem Arme und Beine. Ich vermute, dass Arnold deswegen Geld aus der Kasse genommen hat, und der Alte hat ihn dabei erwischt und rausgeworfen.»

«Wieso habe ich nichts davon erfahren?»

«Weil Sie damals in Washington waren, bei dem FBI-Auffrischungskurs, für den ich der Stadt das Geld abgeluchst hatte.»

«Ach so. Und was war dann? Ist Aptaker zu Ihnen gekommen?»

«Zunächst nicht. Marcus Aptaker löste den Schuldschein ein und sagte dem Geldeintreiber, er wolle ihn nie wieder in seinem Laden sehen.» Der Chief stellte die Füße auf den Boden und richtete sich kerzengerade auf. «Aber diese Typen geben ja nie Ruhe; sie hören nicht auf, die anderen zu ducken. Der Mann lachte ihn aus und erwiderte, der Laden sei ein öffentlicher Platz und er werde kommen, wann immer er Lust dazu habe. Da kam Aptaker zu mir. Er wollte, dass ich den Mann warne. Er werde den Kerl umbringen, wenn er nicht aufhöre, ihn zu belästigen, erklärte er.»

«Was konnte er denn tun, wenn dieser Mann aus Revere war?»

«Der Mann war gerade in unsere Stadt umgezogen. Es war Joe Kestler.»

«Joe Kestler?», fragte der Lieutenant verblüfft. «Ich wusste nicht, dass der in den rackets ist. Ich dachte, er arbeitete mit seinem Alten zusammen, Hypotheken und so weiter.»

«Ich will auch nicht sagen, dass er in den rackets ist», korrigierte Lanigan freundlich. «Er sagte zu Aptaker, er habe den Schuldschein gekauft oder diskontiert.»

«Und was haben Sie gemacht?»

«Ich bin zu Kestler gegangen.»

«Was haben Sie ihm gesagt?»

Lanigan grinste. «Es war wohl weniger das, was ich ihm gesagt habe, als das, was ich ihm seiner Auffassung nach gesagt habe. Ich habe lediglich gesagt, ich wünsche keinen Ärger in unserer Stadt, er sei neu hier, und wenn er in Ruhe und Frieden leben wolle, solle er keinen Streit anfangen. In anderen Städten bedeutete eine derartige Warnung durch den Polizeichef vermutlich, dass er alle möglichen Schwierigkeiten mit den Behörden haben wird, falls er nicht sauber bleibt, dass sein Besitz neu veranlagt wird oder die Leute von der Baubehörde kommen und seine Installationen beanstanden. Jedenfalls, soweit ich weiß, hielt er sich zurück. Wenigstens hat Aptaker sich nie mehr bei mir über ihn beschwert. Schade, dass Kestler nicht weiterhin Abstand gehalten hat, aber ich nehme an, jetzt, wo sein Vater krank war …»

«He, Augenblick mal, Hugh! Wollen Sie sagen … Aber das ist doch drei Jahre her!»

«Ja, aber manche Sachen werden mit der Zeit nur schlimmer», erwiderte der Chief. «Aptakers Sohn kam nicht mehr zurück. Je länger es dauerte, desto größer wurde der Schmerz. Und außerdem – falls Kestler wirklich Abstand gehalten hat, war dies die erste Gelegenheit für Aptaker, sich an ihm zu rächen.»

«Aber das Medikament war nicht für Joe bestimmt, den Mann, mit dem er damals den Ärger hatte, sondern für dessen Vater», wandte Lieutenant Jennings ein.

«Daran habe ich auch gedacht», sagte Lanigan. «Auf dem Etikett der Flasche erscheint jedoch lediglich der Buchstabe J, und der passt auf den Vater und auf den Sohn. Der Vater hieß nämlich Jacob. Wenn also der Vater krank war, wäre dann nicht der Sohn gekommen, um das Medikament abzuholen? Wenn also der Sohn nicht kam, war er möglicherweise selber krank und holte das Medikament nicht ab, weil er es nicht konnte.»

Eban Jennings schüttelte langsam den Kopf. «Das kann ich nicht glauben. Nicht von Marcus Aptaker.»

«Man kann nie wissen, was die Menschen tun werden, Eban. Man kann nie dem Anschein nach urteilen.»

«Aber das ist doch unlogisch», protestierte Jennings. «Aptaker hat vor drei Jahren mit Joe Kestler Streit, also bringt er drei Jahre später dessen Vater um?»

«Aufgrund dieses Streites verließ ihn sein Sohn, Eban, mit dem er große Pläne hatte. Für Marcus ist das Geschäft mehr als eine Einnahmequelle. Für ihn ist es eine Tradition, die Arnold nach ihm fortsetzen sollte. Das ist ein großer Unterschied.»

«Ja, aber woher sollte Marcus wissen, dass diese neuen Pillen Mr. Kestler schaden würden? Bitte, beantworten Sie mir das.»

«Das konnte er natürlich nicht wissen. Nicht mit Bestimmtheit. Laut Doc Cohen wurde das Tetracyclin jedoch für Menschen entwickelt, die auf Penicillin allergisch reagieren. Für einen Apotheker lag es also auf der Hand, dass dieses Medikament verschrieben worden war, weil der Patient kein Penicillin vertrug. In diesem Fall würde eine Penicillinpille großen Schaden anrichten, auch wenn sie den Patienten vielleicht nicht umbringen würde. Eines ist jedenfalls sicher: Der Town-Line Drugstore hat in einer Sache einen Fehler gemacht, in der Apotheker niemals einen Fehler begehen …»

«Und was haben Sie vor?»

«Nun, ich glaube, ich sollte Mr. Aptaker ein paar Fragen stellen.»

«Aber woher wollen Sie wissen, dass Marcus Aptaker selbst den Austausch vorgenommen hat?», fragte Jennings. «Woher wollen Sie wissen, dass es nicht der andere Apotheker war, Ross McLane? Also das ist wirklich ein widerlicher Kerl! Er ist grob und ironisch und hat keine Ahnung, wie man mit Menschen umgeht. Wenn ein Kunde in den Laden kommt, Hugh, wird er ausschließlich von Marcus bedient. Und warum? Weil McLane einfach nicht mit Kunden umgehen kann. Er fährt sie an: ‹Was wollen Sie?› – als hätten sie ihn gestört und er tue ihnen einen Gefallen, wenn er ihnen was verkauft.»

«Worauf wollen Sie hinaus, Eban?»

«Ich will damit sagen, wenn im Geschäft Kunden sind, wie es am Mittwoch wegen des bevorstehenden Unwetters der Fall gewesen sein muss, ist immer Marcus vorn im Laden. Während McLane hinten die Rezepte anfertigt.»

«Aber McLane ist neu hier in der Stadt», entgegnete der Chief.

«Seit ungefähr einem Jahr», sagte Jennings.

«Und wir wissen nichts von einer Verbindung mit Kestler.»

«Das muss nicht heißen, dass es keine gibt. McLane hatte vorher einen Drugstore in Revere. Und Kestler kommt ebenfalls von dort.»

«Tja …»

«Hören Sie, Hugh, wenn Sie Ihr Gespräch mit Aptaker noch ein paar Tage aufschieben, könnte ich mich in Revere ein bisschen umhören und sehen, ob ich irgendwas ausgrabe.»

Lanigan nickte. «Na schön. Einige Tage hat’s wohl noch Zeit. Aber ich wünsche keine langwierige Untersuchung, weil Dr. Cohen so lange den Prügelknaben spielen muss.»