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«Hast du irgendwo gegessen?», erkundigte sich Mrs. Aptaker. Denn ihr Sohn hatte nach seiner Rückkehr aus der Synagoge behauptet, er wolle kein Frühstück, er sei nicht hungrig.
«Nein, aber …»
«Kein Aber, bitte! Was glaubst du wohl, wie ich mir vorkomme, wenn mein eigner Sohn kein Essen von mir annehmen will? Du bist fromm geworden, und meine Speisen sind nicht koscher? Also gut, ich werde dir Cornflakes und Milch geben, in … in … der Rührschüssel. Die ist aus Glas, also kannst du alles draus essen. Stimmt’s?»
Er brachte es nicht übers Herz, sie darauf hinzuweisen, dass der Löffel nicht aus Glas und daher in seinen Augen nicht koscher war. Aber er dachte sich, dass das Gebot ‹du sollst Vater und Mutter ehren› ebenso wichtig sei wie die Essensvorschriften, darum antwortete er: «Na schön, wenn es Glas ist, kann ich vermutlich draus essen.»
Er füllte die trockenen Cornflakes in die Schüssel und goss Milch drüber.
«Ein paar Eier, Arnold? Ich könnte sie so machen, dass du sie aus der Schale essen kannst. Das ginge doch, nicht wahr? Und eine Tasse Kaffee. Wenn du willst, gebe ich sie dir in einem Glas.»
«Gern, Ma. Wunderbar.»
«Du kannst alle deine Mahlzeiten hier einnehmen. Wenn du kein Vertrauen zu meinen Töpfen und Pfannen hast, kann ich in Alufolie kochen, wie ich’s gemacht habe, als dein Onkel ein paar Tage bei uns war. Der ist genauso schlimm wie du. Und Glasgeschirr habe ich auch genug. Kuchenteller, Puddingschalen und so weiter, aus denen kannst du immer essen. Du brauchst also nicht zu hungern oder ins Lebensmittelgeschäft zu gehen, um dir was zu essen zu holen, das du dann aus der Tüte isst wie ein Tier.»
«Ja, sicher. Von mir aus gern, wenn’s dir nicht zu viel Mühe macht. Und wenn’s Dad nichts ausmacht, dass ich was anderes esse als er. Du kennst ihn ja.»
«Allerdings, ich kenne ihn.» Sie setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. «Ich kenne ihn. Aber kennst du ihn?»
«Was meinst du damit?»
«Ich meine, weißt du, dass dein Vater schon zweiundsechzig ist? Und dass er jeden Tag, winters wie sommers, auch bei dem allerschlimmsten Wetter ins Geschäft geht? Er schließt jeden Tag selber auf. Und er arbeitet sehr lange. Sogar wenn es McLanes Tag ist, schließt dein Vater auf, und statt sofort nach Hause zu kommen, wenn McLane da ist, hängt er den ganzen Vormittag im Laden herum. Und abends geht er hin und schließt ab. Ross McLane arbeitet nur vierzig Stunden in der Woche, dein Vater viel mehr. Die anderen Geschäfte in unserem Viertel schließen um acht oder neun Uhr abends, aber dein Vater hat immer noch bis zehn Uhr auf. Und weißt du, warum? Weil er es für seine Pflicht hält, für seine Aufgabe. Die anderen schließen immer eher, weil sie Angst haben, wegen der vielen Überfälle durch Rauschgiftsüchtige …»
«Ist Dad auch schon mal überfallen worden?», fragte er rasch.
«Ja, einmal. Aber man hat sie erwischt. Dein Vater hält sich nicht für gefährdet, weil wir an der Salem Road liegen, wo es immer viel Verkehr gibt. Was ich empfinde, danach fragt er nicht.»
«Tja, nun … Ich wüsste nicht, was ich da machen kann.»
«Du weißt nicht, was du machen kannst? Na, zunächst mal könntest du hingehen und deinem Vater helfen, solange du hier bist, damit er merkt, dass du immer noch sein Sohn und Mitglied unserer Familie bist. Dann könntest du heimkommen und hier bei uns in Barnard’s Crossing leben. Dieselbe Arbeit, die du im Laden eines Fremden verrichtest, könntest du hier in deinem eigenen Geschäft verrichten. Und dann, mit der Zeit, könntest du das Geschäft übernehmen, wie dein Vater es von seinem Vater übernommen hat. Das könntest du tun.»
«Ich komme nicht nach Barnard’s Crossing zurück. Das ist endgültig», sagte er stur. «Ich habe mir in Philadelphia mein eigenes Leben eingerichtet. Alle meine Freunde sind dort.»
«Früher waren alle deine Freunde hier. Du bist hier geboren. Und aufgewachsen.»
«Das heißt noch lange nicht, dass ich hier sterben muss.»
«Das Leben in Barnard’s Crossing ist also wie Sterben? Ist es so schlimm hier?»
«Das habe ich nicht gemeint. Hör zu, Ma, in Philly habe ich einen Job. Ich arbeite vierzig Stunden in der Woche, alles andere ist Freizeit für mich.»
«Aber du arbeitest für einen Fremden und gegen Gehalt.»
«Na und? Wenn ich mit der Arbeit fertig bin, habe ich frei.»
«Hör mal, Arnold, eine Kinderschwester kümmert sich um Kinder, und eine Mutter kümmert sich um Kinder. Die Kinderschwester hat frei, wenn sie den Dienst hinter sich hat, eine Mutter hat niemals frei. Was ist also besser: Kinderschwester zu sein oder Mutter? Hier würdest du für …»
«Hier würde ich für das Geschäft arbeiten. Als ich noch zu Hause war, hat Dad sich viel mehr um das Geschäft gekümmert als um mich», sagte er bitter.
Sie nickte. «Ja, so scheint es gelegentlich. Das kommt daher, dass ein Geschäft, um das man sich kümmert, sich auch um einen selbst kümmert. Dein Vater lebt von diesem Geschäft, und dein Großvater vor ihm ebenfalls. Erinnerst du dich noch an deinen Großvater?»
«Ich war noch klein, als er starb, aber ich kann mich an ihn erinnern.»
«Das war ein Mann, dein Großvater! Er war drüben, in der alten Heimat, Apotheker, und als er hierher kam, wurde er von allen hoch geachtet. Hast du eine Ahnung, was es damals bedeutete, Apotheker zu sein, und dazu noch in der alten Heimat Apotheker gewesen zu sein? Die anderen Einwanderer waren fast alle Schneider, Flickschuster, Trödler, größtenteils ungebildet. Dein Großvater aber hatte das Gymnasium besucht, und anschließend eine Fachhochschule. Heutzutage mag es nicht mehr so großartig sein, einen Drugstore zu besitzen. Die Leute sehen darin nichts weiter als ein ganz normales Geschäft. Wie viel bringt es ein? Wie hoch sind die Nettoeinnahmen? Damals aber war das ein akademischer Beruf wie Arzt. Man hielt jeden Tag bis Mitternacht offen – nicht um ein paar Dollar mehr einzunehmen, sondern weil man der Gemeinde gegenüber eine Verantwortung hatte. Mit dieser Einstellung ist dein Vater aufgewachsen. Für ihn ist das Geschäft nicht einfach nur ein Geschäft. Deswegen hält er länger offen als die anderen Drugstores in dieser Gegend. Und Mittwochabends, wenn die anderen Drugstores alle früh schließen, weil die Ärzte Mittwochnachmittags keine Sprechstunde haben, hält er bis zum normalen Geschäftsschluss offen.»
«Ja, ja, ich weiß – sechzig, siebzig Stunden die Woche», gab er angewidert zurück. «Und von mir erwartete er das Gleiche. Und wenn ich mir mal ein bisschen Freizeit für Vergnügungen nahm, rumms, fiel er über mich her wie eine Wagenladung Wackersteine.»
«Du hast dir aber auch Geld aus der Kasse genommen, Arnold», sagte sie bedrückt. «So etwas kann kein Ladeninhaber dulden, nicht mal von seinem eigenen Sohn. Das wäre genauso, als würde man ein Loch in ein Boot bohren.»
«Ich wollte es ja zurücklegen.»
«Diese Art Geld legt man nie zurück. Du hast es beim Glücksspiel verloren und für deine Freundinnen ausgegeben. Das waren keine netten Leute, mit denen du drüben in Revere rumgezogen bist. Es wäre immer schlimmer geworden.»
«Ich habe nie mehr ausgegeben, als ich mir wirklich leisten konnte. Dieser Schuldschein, mit dem Kestler mich verfolgte, war frisiert worden. Ich war nur fünfzig Dollar schuldig, und er hatte ihn auf hundertfünfzig gefälscht …»
«Siehst du nun, was für Leute das waren, mit denen du damals umgegangen bist?»
«Na schön, was sollte ich tun? Ich saß in der Klemme. Wär’s dir vielleicht lieber gewesen, wenn sie mir beide Arme gebrochen hätten?»
«Du hättest es uns sagen müssen. Dein Vater hätte alles erledigt.»
«O ja, natürlich!»
«Ja, natürlich. Am Tag nachdem du fort warst kam Kestler zu uns und suchte dich. Dein Vater fragte ihn, was er wollte, und er zeigte ihm den Schuldschein. Dein Vater bezahlte ihn und sagte ihm dann, er wünsche ihn nie wieder im Geschäft zu sehen.»
Er hieb krachend mit der Faust auf den Tisch und sprang wütend auf. «Und ich habe ihn eine Woche später bezahlt, mit meinem ersten Gehalt. Ich habe ihm alles zurückgezahlt.»
«Du hast ihm hundertfünfzig Dollar gegeben?»
«Nein, fünfzig. Mehr war ich ihm ja nicht schuldig. Oh, dieses Schwein! Ich bringe ihn um!»
«Das sind Ausdrücke, die man in Gegenwart seiner Mutter nicht gebraucht. Hast du das von deinen neuen frommen Freunden gelernt?»
«Aber Ma, er hat das Geld von mir genommen, nachdem er es bereits von Pa bekommen hatte. Ich werde zu ihm gehen …»
«Du bist nur für ein paar Tage hier und willst gleich Scherereien machen? Und dann verschwindest du wieder und …»
«Aber ich kann ihm das nicht durchgehen lassen.»
«Mir scheint, du solltest lieber überlegen, was du deinem Vater schuldig bist.»
«Na schön ich schicke ihm einen Scheck, wenn ich wieder in Philly bin.»
«Er will keinen Scheck von dir.»
«Was will er denn?»
«Ich habe dir gesagt, was er will. Ist das zu viel verlangt? Aber du könntest wenigstens ins Geschäft gehen und ihm helfen, solange du hier bist.»
«Na schön. Ich werde sofort rübergehen.»
Sie dachte nach. «Nein, geh lieber erst heute Abend, wenn Ross McLane auch im Geschäft ist. Am ersten Tag solltet ihr beiden lieber nicht allein bleiben.»
«Dann gehe ich gleich nach der Abendandacht.»
«Und, Arnold, frag deinen Vater nicht, was du tun sollst. Geh hinein, als gehörte dir das Geschäft. Sieh zu, was zu tun ist, und fang an zu arbeiten.»
«Okay, okay.»