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Morton Brooks, der Direktor der jüdischen Schule, klopfte und betrat, ohne eine Aufforderung abzuwarten, das Studierzimmer des Rabbi. Er war vierzig und somit ein bis zwei Jahre älter als der Rabbi. Das lange Haar, kunstvoll von der Seite her quer über den Schädel frisiert, betonte seine Glatze eher, als sie zu verbergen. Eine Zeit lang hatte er in seiner Jugend in New York einen Bürojob bei einem jiddischen Theater gehabt, das ständig am Rand des Bankrotts balancierte und ihn, um die Gage für einen Schauspieler zu sparen, hin und wieder als Statist einsetzte. Infolgedessen verstand er sich vorwiegend als Theatermann. Während der letzten fünfzehn Jahre hatte er, auf den Ruf eines Produzenten wartend, an jüdischen Schulen gelehrt. «Warum klopfen Sie an, wenn Sie doch nicht warten wollen, bis ich Herein! sage?», fragte der Rabbi übellaunig.
«Weil ich wusste, dass Sie allein sind», erklärte Brooks unbekümmert. «Ich hab an der Tür gelauscht, bevor ich klopfte.» Er hockte sich lässig auf eine Ecke der Schreibtischplatte und steckte sich eine Zigarette an.
Da sie ungefähr gleichaltrig waren und Brooks im Grunde genommen der Ältere war, fiel es dem Rabbi schwer, ihn an seinen Platz zu verweisen, insbesondere da er nicht wusste, wo dieser Platz war. Denn obwohl es im Allgemeinen als selbstverständlich galt, dass der Rabbi die Oberaufsicht über die Unterrichtung der Gemeinde im Judentum hatte, fiel die Leitung der Schule unter die Verantwortlichkeit des Direktors, der seinerseits wiederum nicht dem Rabbi, sondern dem Schulvorstand Rechenschaft ablegen musste, der alljährlich neu gewählt wurde. Sogar hinsichtlich der Bezahlung war sich der Rabbi nicht ganz sicher, wer besser dastand. Denn über sein eigenes Gehalt wurde öffentlich vom Synagogen-Vorstand abgestimmt, während die Gehälter des Direktors und der Lehrer vertraulich durch den Schulvorstand festgelegt wurden.
Morton Brooks blies Rauch gegen die Decke. «Sie vergessen doch den Sonntag nicht, David – wie?», fragte er.
«Was ist denn mit Sonntag?»
«Da ist Elternsprechtag.»
«Ach so! Ja und?»
«Nun, ich wollte Sie fragen, ob wir nicht was ändern könnten.»
«Zum Beispiel?», fragte der Rabbi vorsichtig.
«Nun, wie Sie sich erinnern werden, hat der Schulvorstand den Elternsprechtag vor ein paar Jahren eingerichtet, damit die Eltern mit den Lehrern über ihre Kinder sprechen konnten. Und wenn sie damit nicht zufrieden waren, konnten sie mit einem von uns beiden sprechen.»
«Was gefällt Ihnen nicht daran?»
Brooks’ Stimme nahm einen klagenden Ton an. «Nun, es hat sich einfach anders entwickelt. Die Eltern gehen zum Lehrer, dann kommen sie zu mir, und dann wollen sie unbedingt mit Ihnen sprechen. Und manchmal sagen Sie ihnen dann Sachen, die nicht ganz mit dem übereinstimmen, was ich ihnen gesagt habe.»
«Ich kann nicht wissen, was Sie ihnen gesagt haben.»
«Natürlich nicht. Aber die Grundidee des Schulvorstandes war doch, dass wir uns die Arbeit teilen sollten. Stattdessen gehen sie von mir zu ihnen, als wären Sie die übergeordnete Autorität.»
«Ich kann mich wohl kaum weigern, mit ihnen zu sprechen», erklärte der Rabbi.
«Ja, aber angenommen, Sie wären nicht zu erreichen.» Er beugte sich vor. «Sehen Sie, David, zur gleichen Zeit findet eine Vorstandssitzung statt, und an denen nehmen Sie normalerweise teil. Wenn die Eltern nun sagen, sie wollten Sie sprechen, könnte ich ihnen antworten, Sie würden an der Vorstandssitzung teilnehmen, weil dort ein besonders wichtiges Thema behandelt wird.»
«Und dann kommen sie den ganzen Nachmittag über zu mir nach Hause.» Der Rabbi schüttelte den Kopf. «Kommt nicht infrage. Außerdem wären bestimmt mehrere Frauen von Vorstandsmitgliedern dabei, und die wüssten genau, dass bei der Sitzung nichts Besonderes stattfinden wird.»
«Seien Sie nicht zu sicher, David», gab Brooks von oben herab zurück.
«Was soll das heißen?»
«Nun, Sie müssen zugeben, dass ich weit mehr über das weiß, was hier so vorgeht, als Sie.»
«Wirklich?»
«Selbstverständlich, David. Ich sehe die Kinder jeden Tag, und manchmal erzählen sie mir, was sie zu Hause gehört haben. Außerdem werden viele von ihren Müttern gebracht und wieder abgeholt. Die Mütter stehen im Gang herum, bis der Unterricht zu Ende ist, und ich höre häufig, wie sie sich miteinander unterhalten.»
«Und was haben Sie über die Vorstandssitzung am Sonntag gehört?», fragte der Rabbi mit leichtem Lächeln.
Brooks wich aus. «Nichts Bestimmtes, aber ich habe das Gefühl, dass etwas in der Luft liegt. Ich habe den Eindruck, dass für diesen Sonntag etwas geplant ist, und zwar gerade weil alle wissen, dass Sie nicht dabei sein werden.»
«Und wissen Sie auch, was?»
«Nichts Bestimmtes. Aber wenn sie wirklich was im Schilde führen – und ich bin überzeugt, dass das der Fall ist –, ist dies für Sie eine großartige Gelegenheit, den Spieß umzudrehen.» Er sprang vom Schreibtisch und ging zum Besucherstuhl, den er wegzog, damit er näher an den Rabbi herantreten konnte. Sein Ton wurde verschwörerisch. «Gleich nach dem minjen am Sonntag tritt der Vorstand zu seiner Sitzung zusammen. Stimmt’s? Statt also mit ins Sitzungszimmer zu gehen, sagen Sie nonchalant: ‹Tja, ich muss mir jetzt wohl die Beschwerden der Eltern anhören›, als wäre das eine furchtbare Last für Sie. Und dann kommen Sie direkt hierher in Ihr Studierzimmer. Okay, mag sein, dass die eine oder andere Mutter mit Ihnen sprechen will. Aber das glaube ich eigentlich nicht, denn gewöhnlich gehen sie erst in die Klassen, um dem Unterricht zuzusehen. Trotzdem bleiben Sie hier sitzen.
Der Vorstand hat inzwischen mit seiner Sitzung begonnen, der Sekretär liest das Protokoll und die Berichte der Ausschüsse vor und vielleicht auch alte Angelegenheiten. Das wird vermutlich bis zehn Uhr oder so dauern. Das müssen Sie besser wissen als ich. Ich kann die Zeit nur auf der Grundlage abschätzen, dass die Vorstandssitzungen meistens gleichzeitig mit dem Schulunterricht beendet sind. Um zwölf. Daher nehme ich an, dass die erste Stunde mit Routine ausgefüllt ist.»
«Bitte weiter.»
«Okay, dann kommen sie zu den neuen Angelegenheiten», fuhr Brooks fort. «So, wie ich mir die Sache vorstelle, gibt es eine Gruppe, die den Vorschlag befürwortet und die Übrigen überzeugen muss. Jetzt fürchten sie aber, dass Sie ihnen Sand ins Getriebe streuen würden, wenn Sie dabei wären, weil es sich um etwas handelt, womit Sie vielleicht nicht einverstanden sind, oder etwas, das Sie lieber ganz langsam angehen möchten. Okay, also steht einer auf und stellt einen Antrag.» Er stand auf und hob die Hand, als sei er derjenige, der den Antrag stellte. «Ein anderer unterstützt den Antrag.» Er trat einen Schritt beiseite, um den Unterstützer darzustellen. ‹«Diskussion über den Antrag.›» Er trat wieder einen Schritt zurück, um den Vorsitzenden zu verkörpern. «Nun diskutieren sie also eine Zeit lang, und vielleicht beantragt jemand eine Abstimmung.» Brooks ging zur Zimmertür, die er öffnete und krachend schloss. Mit ausgestreckten Armen blieb er vor der geschlossenen Tür stehen. «In diesem Moment kommen Sie herein – trara!» Stirnrunzelnd überlegte er. «Nein, ich glaube, Sie spielen das doch lieber gedämpft.» Abermals öffnete er die Tür und drückte sie diesmal leise ins Schloss. «Sie schieben sich mehr oder weniger herein. Verstehen Sie?» Zustimmung heischend sah er den Rabbi an.
Um den Mund des Rabbi zuckte es. «Und was kommt dann? Muss ich etwas sagen?»
Stirnunzelnd dachte Morton Brooks über die Szene nach. Dann hellte sich seine Miene auf. «Natürlich, jetzt hab ich’s! Sie machen auf cool, also sagen Sie: ‹Würde bitte jemand so freundlich sein und mich über das zur Diskussion stehende Thema aufklären?› Dann sehen Sie sich überall um, entdecken eine Menge roter Köpfe und vielleicht auch einige, die zu verlegen sind, um Ihnen in die Augen zu sehen. Also konzentrieren Sie sich auf einen, und der windet sich. Sie lassen ihn ein bisschen schmoren, und dann sagen Sie, ziemlich scharf: ‹Nun, Mr. Meltzer?›» Er blickte erwartungsvoll auf den Rabbi, der ihm zunickte und beifällig applaudierte.
«Eine Ihrer besten Darstellungen, Morton. Meltzer bricht daraufhin vermutlich zusammen und gesteht, dass sie gerade über den Vorschlag abstimmen wollten, die Synagoge in eine Rollschuhbahn zu verwandeln. Nein, Morton, bei der Sitzung am Sonntag wird nichts passieren, was nicht bei jeder anderen Sitzung auch passiert. Wenn jemand mit einer neuen Idee ankommt, wird darüber gesprochen, und dann kommt sie auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung und wahrscheinlich der nächsten und der übernächsten, bis sie die Idee totdiskutiert haben und es schließlich zur Abstimmung kommt. Und was die Eltern angeht, so werde ich natürlich mit ihnen sprechen, weil ihre Kinder ihnen viel bedeuten und, außerdem, weil sie mir selber viel bedeuten – viel mehr als die Vorstandssitzung.»
«Tja, wenn Sie es unbedingt so wollen …»
«Allerdings will ich es so», antwortete der Rabbi abschließend.
«Okay, aber ich habe Sie gewarnt.»