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Am Freitagnachmittag machte Rabbi Small den Kestlers seinen Kondolenzbesuch. Er hatte diese traurige Pflicht im Laufe der Jahre zahllose Male ausgeübt, aber er hatte sich nie daran gewöhnen können; daher empfand er die halbe Stunde, oder wie lange der Besuch dauern mochte, immer wieder als äußerst unbehaglich. War der Verstorbene jung gewesen, ein Kind vielleicht, war der Kummer der engsten Familie zumeist überwältigend, und wenn er ging, hatte er jedes Mal das Gefühl, die Trauernden nur gestört zu haben. War es dagegen ein alter Mensch, etwa ein greiser Elternteil, war die Atmosphäre eher gedämpft als traurig. Er wusste genau, dass die Gespräche vor seinem Eintreffen ebenso normal gewesen waren wie bei anderen gesellschaftlichen Ereignissen, hier und da vielleicht sogar durch einen kleinen Scherz aufgeheitert. Ja, zuweilen hatte er sogar gedämpftes Lachen gehört, als er sich der Tür näherte, die angelehnt blieb, damit die Familie nicht bei dem ständigen Läuten immer wieder aufspringen musste. Sobald er eintrat, wurden jedoch die Mienen ernst, und das Gespräch bestand nur noch aus philosophischen Platitüden, fast so, wie lärmende Schulkinder still werden, wenn sich der Lehrer der Klasse nähert. Und er verabscheute diese deprimierende Rolle, die er als professioneller Kondolenzträger der Gemeinde ausüben musste. Er konnte sich nie ganz damit aussöhnen. Zwar war es angebracht und richtig, die Toten zu betrauern, diese Trauerzeit sollte auch dazu dienen, den Hinterbliebenen bei der Bewältigung ihres Kummers zu helfen, und da er sie durch seine Gegenwart immer wieder daran erinnerte, tat er ihnen vielleicht einen schlechten Dienst. Überdies fand er, dass es falsch sei, Trauer vorzutäuschen, die man nicht empfand.

Nichtsdestoweniger war er entsetzt, als er das Haus der Kestlers betrat und Joe mit seiner Frau beim Kartenspielen antraf.

«Ach, Sie sind’s, Rabbi!», sagte Joe Kestler. «Kommen Sie rein.» Und dann erklärte er ein wenig verlegen: «Meine Frau war so deprimiert, da dachte ich, ein bisschen Rommé könnte sie vielleicht ablenken von: na ja, von allem.»

«Ich verstehe», erwiderte der Rabbi.

Christine Kestler kam ihrem Mann zu Hilfe: «Ja, stimmt, Rabbi. Ich war ganz kribbelig. Es war ein solcher Schock für uns.»

«Immerhin war er sehr alt und außerdem krank», wandte der Rabbi ein.

«Aber er hätte noch jahrelang leben können», behauptete Kestler, «wenn Cohen ihm nicht diese Pille gegeben hätte.»

Eingedenk seiner Unterhaltung mit Lanigan gab der Rabbi scharf zurück: «Wollen Sie damit andeuten, der Arzt hätte Ihrem Vater absichtlich ein Medikament gegeben, das ihm schadete?»

«Ich will überhaupt nichts andeuten», sagte Kestler halsstarrig. «Ich weiß nur, dass Cohen sauer auf meinen Vater war, weil der ihn wegen des Zauns verklagt hat. Vielleicht hat er sich deswegen nicht genug Zeit für ihn genommen. Er war im Handumdrehen mit ihm fertig. Ich habe ihm deswegen sogar Vorwürfe gemacht. Nicht wahr, Chris?»

«Das stimmt!» – Sie nickte energisch. «Joe war richtig sauer darüber.»

«Wenn die Diagnose auf der Hand lag …», meinte der Rabbi.

«Dann lag sie eben nicht auf der Hand, sonst wäre mein Vater ja nicht gestorben. Er war krank, aber nicht lebensgefährlich. Sie haben ihn selbst gesehen. Dann hat er diese Pille genommen, und nach einer halben Stunde war er tot. Sie haben gesehen, wie er die Pille nahm. Sie waren Zeuge.»

«Ich habe gesehen, dass Ihre Frau ihm eine Pille gab» erwiderte der Rabbi kalt. «Was für eine Pille das war, konnte ich nicht wissen.»

«Ach, das macht nichts», sagte Kestler selbstsicher. «Die Polizei hat die Pillen mit dem Streifenwagen gebracht. Sie haben die doch sicher vorfahren gehört. Jedenfalls haben die bestimmt die Zeit aufgeschrieben, und das war, während Sie hier waren. Eine Minute später kommt meine Frau rauf und gibt sie ihm. Als später der Krankenwagen der Polizei kam, haben die die ganze Flasche mitgenommen. Was also die Beweise angeht, haben wir alles hieb- und stichfest beisammen.»

«Aber ich kann nicht mit Bestimmtheit behaupten, dass die Pille, die Mrs. Kestler von der Polizei bekam, dieselbe war, die sie Ihrem Vater gab.»

«Wollen Sie sagen, dass meine Frau sie vertauscht haben kann, Rabbi? Dass meine eigene Frau ihrem Schwiegervater schaden wollte?» Kestler war zutiefst entsetzt.

«Ich sage gar nichts, aber die Beweiskette ist nicht so vollständig, wie Sie zu glauben scheinen. Und die Diskrepanz, auf die ich Sie hingewiesen habe, ist genau das, worauf sich ein Verteidiger sofort stürzen würde. Außerdem könnte er es, genau wie das Gericht auch, für merkwürdig halten, dass Sie einen Arzt geholt haben, mit dem Sie Streit hatten.»

«Ich wollte Cohen ja gar nicht rufen. Mein Vater hat mich dazu gezwungen. Ich habe ihn gebeten, es nicht zu tun. Aber er meinte, die Klage wegen des Zauns sei eine Sache für sich und habe nichts damit zu tun, dass man Cohen als Arzt rufe. Also selbst wenn er Unrecht gehabt hätte, gibt das Cohen immer noch nicht das Recht, ihm ein falsches Medikament zu verschreiben.»

«Und Sie glauben, weil er böse auf Ihren Vater war, habe er ihm ein falsches Medikament verschrieben?»

Kestlers Miene drückte listige Verschlagenheit aus. Er lächelte. «O nein, ich behaupte nicht, dass er das mit Absicht getan hat. Das wäre Mord, und ich will ihn auf keinen Fall des Mordes beschuldigen. Ich sage nur, weil er sauer auf meinen Vater war, hat er sich nicht genug Zeit für eine sorgfältige Diagnose genommen und somit einen Fehler gemacht. Das ist Nachlässigkeit, und das ist falsche Behandlung. Und deswegen werde ich ihn verklagen.»

«Als Sie Dr. Cohen anriefen – hat er da sofort gesagt, dass er kommt?», fragte der Rabbi.

Kestlers Augen verengten sich, als er über diese Frage nachdachte. Er argwöhnte, dass ihm der Rabbi eine Falle gestellt hatte. «Na ja, sofort würde ich eigentlich nicht sagen.»

«Aber Sie haben darauf bestanden?»

«Es war schließlich Mittwoch», warf Mrs. Kestler ein.

Ihr Mann funkelte sie böse an. «Mein Vater hatte Vertrauen zu ihm als Arzt.»

«Ich verstehe. Er kam also zu Ihrem Vater, obwohl es ein Mittwoch war, sein freier Tag. Und Sie werfen ihm vor, er habe sich ihn nur flüchtig angesehen und Ihnen dann ein Rezept gegeben, das Sie …»

«Er hat mir kein Rezept gegeben», widersprach Kestler. «Er hat es durchtelefoniert, als er wieder zu Hause war.»

Der Rabbi zeigte sich erstaunt. «Als er wieder zu Hause war? Warum hat er nicht von hier aus angerufen oder Ihnen einfach das Rezept gegeben?»

«Weil Joe dachte, er hätte vielleicht ein Ärztemuster», erklärte Mrs. Kestler rasch.

Joe Kestler warf ihr einen giftigen Blick zu. «Es war ziemlich spät», berichtete er, «und die Drugstores waren alle geschlossen. Bis auf Aptakers, aber dahin gehe ich nicht. Darum fragte ich ihn, ob er Ärztemuster hätte, und er sagte, wenn ja, würde er sie vorbeibringen. Sonst würde er das Rezept durchtelefonieren, und die würden es uns liefern.»

Der Rabbi nickte nachdenklich. «Da ist also ein Arzt», sagte er, als versuche er sich die Situation selbst darzulegen, «der an seinem freien Tag zu einem Mann gerufen wird, der ihn verklagt hat. Und er kommt nicht nur zu ihm, sondern erbietet sich, ein Ärztemuster des von ihm verschriebenen Medikaments vorbeizubringen oder dafür zu sorgen, dass es ins Haus geliefert wird. Und das ist der Mann, den Sie verleumden und den Sie verklagen wollen?».

«Er hat einen Fehler gemacht», sagte Kestler beharrlich, «und daran ist mein Vater gestorben. Das ist falsche Behandlung. Ich habe nichts gegen den Doktor persönlich, aber es ist mein gutes Recht, ihn zu verklagen, genau wie ich’s tun würde, wenn mein bester Freund mich mit seinem Wagen anfahren würde.»

«Das muss ja die Versicherung zahlen», stellte Mrs. Kestler fest.

Der Rabbi erhob sich. «Der Arzt mag einen Fehler gemacht haben», sagte er, «genau wie wir alle mal einen Fehler machen. Aber er kann auch das richtige Medikament verschrieben haben. Gehen Sie mit der Klage vor Gericht, wird das Gericht darüber entscheiden. Üble Nachrede aber gilt laut unserem Gesetz als schwere Sünde, Mr. Kestler. Unserer Tradition gemäß zieht sie die fürchterlichsten Strafen nach sich.»

Eingedenk der missbilligenden Blicke ihres Mannes fürchtete Mrs. Kestler einen Schwall von Beschimpfungen, sobald der Rabbi das Haus verließ. Joe Kestler wahrte jedoch ein bedrückendes und finsteres Schweigen, während er in Gedanken versunken im Zimmer auf und ab wanderte. Endlich blieb er wieder stehen und sah sie an.

«Weißt du, was der angedeutet hat?»

«Na ja, Joe, ich glaube …»

«Halt den Mund und hör mir zu. Dieser Cohen ist ein Mitglied seiner Gemeinde, weißt du. Deswegen muss er für ihn sorgen. Er weiß, dass ich ihn als Zeugen benennen werde, und da er ein Rabbi ist, muss er die Wahrheit sagen. Aber dieser Kerl ist schlau; er kann sie drehen und wenden, ganz wie er will. Deswegen meine ich, es wird langsam Zeit, dass ich einen Anwalt aufsuche. Bis dahin wünsche ich, dass du aufhörst, den Mund über Doc Cohen aufzureißen. Kapiert?»

«Aber ich habe nie …» Sie sah, wie ärgerlich er war, und antwortete: «Natürlich, Joe. Ich sage kein Wort.»