14
Marcus Aptaker warf sich unruhig herum, dann wurde er wach. Er rieb sich die Augen und gähnte ausgiebig. Seine Frau saß im Bademantel im Schaukelstuhl und sah zum Fenster hinaus.
«Was ist los? Kannst du nicht schlafen?»
«Es ist Viertel vor zwei», sagte sie, «und Arnold ist immer noch nicht da.»
«Na und? Er ist inzwischen erwachsen.»
«Aber das Unwetter … Er hat vielleicht … Im Radio haben sie gesagt, dass viele Bäume entwurzelt worden sind. Telefon- und Lichtmasten sollen umgefallen sein.»
«Großer Gott, warum malst du dir solche Sachen aus?» Aber er stand auf und zog ebenfalls den Bademantel an. «Warte, ich mache dir ein bisschen Milch heiß. Dann wirst du sicher schlafen können.»
Sie folgte ihm in die Küche. «Ich will keine heiße Milch. Ich finde, wir sollten die Polizei anrufen.»
Er starrte sie an. «Warum?»
«Na ja, du könntest fragen, ob …»
«Hör zu, Rose, wenn es einen Unfall gegeben hat … Falls du dir deswegen Gedanken machst, glaube mir, dann wird man uns Bescheid geben.»
«Aber wo kann er denn nur sein?»
«Woher soll ich das wissen? Wahrscheinlich besucht er einen Freund, und sie haben die Zeit vergessen.»
«Wen sollte er denn hier besuchen? Was für Freunde hat er hier noch?»
«Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er ein paar Mal telefoniert hat.»
«Ich finde, wir sollten doch die Polizei anrufen», sagte seine Frau hartnäckig.
«Ich denke gar nicht daran. Was soll ich denn sagen? Dass es beinahe zwei Uhr morgens ist und dass mein achtundzwanzigjähriger Sohn noch nicht nach Hause gekommen ist? Die würden mir was husten. Wahrscheinlich hat er einen Platten und wird schon bald wieder hier sein.»
«Warum hat er dann nicht angerufen? Er muss doch wissen, dass wir uns Sorgen machen und uns fragen, ob ihm bei diesem Wetter nicht was zugestoßen ist!»
«Woher soll ich, verdammt nochmal, wissen, weshalb er uns nicht angerufen hat? Vielleicht hatte er keinen Dirne.»
Brummelnd ging Marcus Aptaker ins Wohnzimmer. Seine Frau folgte ihm. Er stellte im Fernseher das Nachtprogramm an und starrte auf den Bildschirm, ohne wirklich etwas zu sehen.
«Warum gehst du nicht zu Bett?», drängte sie ihn. «Du musst morgen früh aufstehen.»
«Ich bin nicht müde.» Er war ebenso beunruhigt wie sie, aber er konnte seine Besorgnis nicht aussprechen, weil das die ihre nur noch gesteigert hätte.
Um drei Uhr kam Akiva heim. Er war glücklich. Er war euphorisch. Er war unsicher. «Himmel, das Haus ist ja beleuchtet wie ‘n ganzer Weihnachtsbaum!», sagte er munter. «Geht ihr eigentlich nie zu Bett?»
«Ach, Arnold! Wir haben uns so um dich gesorgt!», jammerte die Mutter.
«Wo, zum Teufel, bist du gewesen?» Aptakers Besorgnis verwandelte sich umgehend in flammenden Zorn.
«Konntest du dir denn nicht denken, dass wir uns Sorgen um dich machen?», schluchzte die Mutter. «Wo bist du gewesen?»
«Ich … Bei einem Mädchen.»
«In Revere, möchte ich wetten!», brüllte der Vater. Er wandte sich an seine Frau. «Bei einer von diesen Flittchen, mit denen er sich immer rumgetrieben hat. Du wolltest wissen, wen er hier kennt, bei wem er sein könnte. Ich werd’s dir sagen. Bei einer von diesen reizenden jungen Damen in Revere, die man gar nicht persönlich kennen lernen muss, da war er. Er ist ja religiös geworden. Geht in die Synagoge. Will nicht essen, was du kochst, weil es nicht heilig genug für ihn ist. Und dann ist er erst einen Tag zu Hause und jagt schon hinter den Huren her.»
Akiva verlor die Selbstbeherrschung. «So kannst du mit mir nicht reden!», schrie er. «Das brauche ich mir nicht gefallen zu lassen.»
«Solange du unter meinem Dach lebst …»
«Verdammt nochmal, dann verlasse ich eben dein Dach!» Und stürzte hinaus. Beinahe sofort kam er zurück – mit seinem Koffer in der Hand. Er warf den Hausschlüssel, den sie ihm gegeben hatten, auf den Tisch. «Da! Ich verschwinde.» Er ging zur Tür.
«Bitte, Arnold! Ich bitte dich!», flehte die Mutter. «Wohin willst du?»
«Zurück nach Philly. Ich hätte gar nicht erst kommen sollen.» Er knallte die Tür hinter sich zu.
Fassungslos starrte Mrs. Aptaker ihren Mann an, der finster zu Boden blickte. «O Mark, du hättest nicht …»
«Lass ihn doch gehen! Wer braucht den schon?»
«Nein!» Sie riss die Tür auf und lief auf die Veranda. Sie rief hinter ihm her, aber er fuhr bereits die Einfahrt hinab und bog in die Straße ein.
Während Akiva durch die Nacht fuhr, nahm er im Geist verschiedene Passagiere mit: zuerst seine Mutter, der gegenüber er ein schlechtes Gewissen hatte. «Ich wusste, dass es nicht klappen würde, Ma. Deswegen bin ich ja auch nicht früher gekommen. Dad ist wirklich nicht so übel, aber wir passen einfach nicht zusammen, unsere Vibrationen harmonieren nicht. Das ist nicht seine Schuld, und es ist nicht meine Schuld. Es ist eben einfach so.»
Dann Reb Mendel, mit dem er eher scherzhaft sprach. «Ich glaube, rebbe, diesmal hat es mit der tieferen Einsicht nicht so ganz hingehauen. Ein kleiner Fettfleck auf der Feldstecherlinse vielleicht?»
Und Leah, mit der er sehr ernsthaft redete. «Es ist vermutlich am besten so, Liebes. In ein paar Tagen hätte ich ohnehin fort müssen. Gewiss, wenn du nach Philly kommen könntest und dir dort einen Job suchen, oder auch nach Washington, wo ich dich jedes Wochenende besuchen könnte …»
Seine Tagträume wurden von dem unverwechselbaren Klang einer Polizei-Trillerpfeife zerrissen. Da sein Wagen der einzige auf der Straße war, wusste er, dass das Pfeifen ihm galt. Resigniert bremste er und hielt. Im Rückspiegel beobachtete er, wie ein Polizist vom Motorrad stieg und gemächlich auf ihn zukam. Er schaltete die Deckenbeleuchtung ein und begann im Handschuhfach nach den Wagenpapieren zu kramen.
Der Polizist bückte sich und warf einen Blick in den Wagen. «Hübsches Tempo, was Sie da draufhaben, Mister, nicht wahr? Wo brennt’s denn?»
«Hören Sie, Officer, ich muss nach Philly … He, sind Sie nicht Purvis? Joe Purvis?»
«Ja. Kennen Sie mich?» Der Polizist musterte ihn eingehend. «Sie sind doch nicht …»
«Arnold Aptaker.»
«Na, so was! Wie geht’s denn? Wieso der Bart?»
«Ach, weißt du, ich wollte das nur mal ausprobieren. Spart ‘ne Menge Rasierklingen.»
«Na, so was! Warst du zu Hause? Ich habe dich gar nicht gesehen.»
«Ich habe nur ein paar Tage meine Eltern besucht. Ich bin jetzt in Philly. Wie lange bist du denn schon bei der Polizei? Ich dachte, du wärst Zimmermann.»
«Ich war Zimmermann, bis vor ein paar Jahren. Magere Zeiten, im Winter, deswegen hab ich das Polizistenexamen abgelegt. Hin und wieder, wenn ich keinen Dienst habe, mache ich für alte Kunden immer noch Zimmermannsarbeiten.»
«Du hast doch einen Bruder, nicht wahr?», fragte Akiva, der bestrebt war, das Gespräch möglichst freundschaftlich zu gestalten.
«Caleb? Ja, der war eine Klasse unter uns.»
«Stimmt. Er war in meiner Englisch-Klasse. Was macht er denn? Ist der auch bei der Polizei?»
«Nein. Der ist beim Courier, Verkaufsleiter. Er schreibt alle Crossers an, die von hier weggezogen sind, nach Florida, zum Beispiel. Die fragt er, ob sie das Blatt nicht abonnieren wollen, um den Kontakt mit ihrer Heimat nicht zu verlieren. Macht seine Sache ziemlich gut.»
Akiva hatte eine Eingebung. «He, das ist ‘ne gute Idee!» Er suchte wieder im Handschuhfach und holte Bleistift und Papier heraus. Auf einen Zettel kritzelte er seinen Namen und seine Adresse und reichte ihn dann dem Polizisten. Aus der Brieftasche holte er einen Fünfdollarschein. «Hier ist ein Fünfer. Gib ihn deinem Bruder und sag ihm, er soll mir die Zeitung schicken.»
«Tja, Mann, schreib ihm doch selber, dann schickt er dir ein Formular. Ich weiß nicht genau, wie viel das kostet.»
«Na und? Wenn er mir Zeitungen für fünf Dollar geschickt hat, wird er mir schon wegen der Verlängerung des Abonnements schreiben. Du weißt doch, wie das immer ist. Wenn ich mich erst lange hinsetzen und einen Brief schreiben muss, komme ich nie dazu.»
«Okay, na schön.» Der Polizist faltete den Zettel um die Banknote und schob alles hinter das Schweißband seiner Mütze. «Aber wenn du mal wieder hierher kommst, besuch mich doch. Und sei vorsichtig auf der nächsten Strecke. Da liegen überall runtergefallene Äste auf der Fahrbahn.»