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Am Mittwochmorgen kam Marcus Aptaker, Besitzer des Town-Line Drugstore, genau wie an jedem anderen Tag des Jahres um Punkt sieben Uhr zum Frühstück herunter. Er war ein methodischer, systematischer Mensch und verrichtete die Dinge, die er regelmäßig tat, automatisch. Frisch rasiert, die randlose Brille blitzend, das dünne, bräunlich-blonde Haar angeklebt, als sei es aufgemalt. Er war schlicht, aber elegant in seinen blauen Anzug gekleidet: der blaue für Montag, Mittwoch, Freitag, der graue für Dienstag, Donnerstag und Sonnabend. An Sonntagen trug er, da das Geschäft nur halbtags geöffnet hatte und es daher ein halber Feiertag war, einfach Hose und Pullover. Nachdem er den Laden betreten hatte, würde er unfehlbar sein Jackett aufhängen und stattdessen eine Arbeitsjacke aus Baumwolle anziehen, aber er tat das wie ein Arzt, der für seine Visite im Krankenhaus den Arztkittel anlegt. Hauptsache, er war auf dem Weg von und zum Geschäft anständig gekleidet, eine Pflicht, die er seiner Stellung schuldete.
Als seine Frau Rose wenige Minuten später eintrat, saß er bereits am Frühstückstisch. Sie war noch im Bademantel; das glatt aus dem runden freundlichen Gesicht zurückgekämmte Haar hing ihr in einem lockeren Zopf auf dem Rücken. Sie tischte ihm das Frühstück auf, das aus frisch gepresstem Orangensaft, Eiern, Speck und Toast bestand. Mit einem Kopfnicken zu dem dritten Gedeck hinüber sagte er nachsichtig: «Arnold wird heute sicher ausschlafen.»
«Nein, er ist schon sehr früh aufgestanden. Er ist fortgegangen», entgegnete seine Frau.
«Fortgegangen? Wohin? Und ohne Frühstück?»
«Er hat gesagt, dass er zum Frühstück wieder da ist. Er wollte zur Morgenandacht in die Synagoge. Man müsse erst beten und dann essen, hat er gesagt.»
«Ist heute ein besonderer Feiertag? Ich habe nichts davon gehört.»
«Nein, nur der übliche Gottesdienst, den sie jeden Tag morgens und abends halten. Als meine Mutter starb, ging mein Vater ein ganzes Jahr lang hin, jeden Morgen und jeden Abend.»
«Verrückt!» Er trank seinen Orangensaft.
Sie hatte sich selbst eine Tasse Kaffee mitgebracht, den sie trank, während er saß. «Was kann’s schon schaden?», erwiderte sie vernünftig. «Ein junger Mann, der ganz allein lebt. Besser, er interessiert sich für Religion als für einige von den Sachen, die die jungen Menschen heutzutage so treiben.»
«Hast du mit ihm gesprochen, als ich zu Bett gegangen war?
Hat er irgendwas über seine Pläne gesagt?», erkundigte sich Marcus zögernd.
«Nur, dass er bis Montag wieder in Philadelphia sein muss. Er hat nur diese Woche Urlaub.»
«Ich meine seine Pläne ganz allgemein. Hast du mit ihm übers Geschäft gesprochen? Hast du ihm das von Safferstein erzählt?»
«Ich habe ihm gesagt, dass wir einen Käufer für das Geschäft haben, aber dass du nicht verkaufen willst, ehe du nicht definitiv weißt, dass dein Sohn es nicht übernehmen will.»
«Und was hat er gesagt?», fragte er eifrig.
«Du sollst es nur verkaufen. Du könntest dich zur Ruhe setzen, wir könnten reisen oder nach Florida gehen oder …»
«Und was soll ich dann machen?», fragte er. «Na schön, ich reise eine Weile, sechs Monate etwa, oder ein Jahr. Und dann? Ich bin zweiundsechzig und gesund. Was soll ich tun, wenn ich mit Reisen fertig bin? Rumsitzen und auf den Tod warten?»
«Aber wenn’s ihn doch nun mal nicht interessiert …»
«Es muss ihn interessieren», beharrte Aptaker, und seine Stimme hob sich allmählich. «Ich habe beinahe vierzig Jahre in das Geschäft investiert und vor mir mein Vater fünfzehn Jahre. Es ist ein Familienunternehmen. Kann man denn etwas, wofür man sein Leben lang und vorher der Vater schon gearbeitet hat, einfach stehen und liegen lassen? Das Geschäft ist nicht nur eine Verdienstquelle. Es ist etwas, das wir uns in langen Jahren mühsam aufgebaut haben.»
«Ja, und du arbeitest sechzig bis siebzig Stunden in der Woche. Warum sollte sich ein junger Mensch wie Arnold dafür interessieren, wenn er einen guten Job hat, wo er nur vierzig Stunden in der Woche zu arbeiten braucht, und zwar ohne die Kopfschmerzen und die Verantwortung?»
«Aber für Lohn arbeiten! Wo er sein eigenes Geschäft hat …»
«Vielleicht bekommt er mit der Zeit auch ein eigenes Geschäft. Warum sollte er sich mit einem belasten, mit dem es ständig abwärts geht …»
«Es geht nicht bergab mit unserem Geschäft!», schrie er und schlug zur Bekräftigung mit der Faust auf den Tisch. «In diesem Jahr haben wir mehr verdient als im letzten.»
«Ein paar hundert Dollar mehr.»
«Na schön, ein paar hundert Dollar mehr. Aber ein junger Mann könnte es weiter ausbauen …»
«Es liegt an der Gegend, Marcus.» Traurig schüttelte sie den Kopf. «Eine schlechte Geschäftslage kann man nicht ausbauen. Du kannst das Geschäft verschönern, eine neue Fassade machen lassen, eine neue Einrichtung, aber wenn’s mit der Gegend bergab geht, hilft alles nichts.»
«Auch eine Gegend kann sich ändern. Wenn dieses Hochhaus für Senioren gebaut wird, ist dies eine erstklassige Geschäftslage. Und wenn die Geschäftslage so schlecht ist, warum will dann ein schlauer Immobilienmakler wie Safferstein das Haus kaufen?»
«Wie er dir ja gesagt hat – für seinen Schwager. Ich kann mir die Situation gut vorstellen. Seine Frau hat einen Bruder, den er mit unterstützen muss. Also will er ihm einen eigenen Laden einrichten, damit er ihm nicht mehr auf der Tasche liegt. Aber für einen jungen Mann wie Arnold …»
«Ich sage dir, er könnte Erfolg haben hier», behauptete Aptaker. «Ich würde ihm die Geschäftsübernahme leicht machen. Ich würde Kredite aufnehmen, und er würde sich keine Gedanken über pünktliche Rückzahlung zu machen brauchen. Und jeden Tag würde ich ein paar Stunden zum Aushelfen kommen, nicht gegen Bezahlung, nur gegen Erstattung der Unkosten.»
«Dann sprich mit ihm. Erklär ihm, was du dir vorstellst.»
Aptaker ließ verzweifelt die Schultern hängen. «Ich kann nicht mit ihm reden. Es ist, als sprächen wir verschiedene Sprachen.»
«Was hattest du denn sonst erwartet? Wenn du mit ihm redest, wie du mit allen anderen redest, wie du mit deinen Kunden redest oder mit McLane, ruhig, vernünftig …»
«Ich kann nicht mit ihm reden wie mit McLane», fuhr er auf. «Er ist schließlich nicht irgendein Apotheker, der einen Job sucht. Ich kann mich nicht hinsetzen und mit ihm über Gehalt und Arbeitszeit diskutieren. Er ist mein Sohn. Er muss fühlen, dass das Geschäft ihm gehört, dass ich es nur für ihn führe, bis er es übernehmen kann, wie ich es von meinem Vater übernommen habe.»
«Aber wie soll er begreifen, was du empfindest, wenn du es ihm nicht erklärst?»
«Er müsste es wissen, ohne dass ich es ihm lange erklären muss. Er müsste selber so empfinden. Wenn man es ihm erklären muss, ist es ohnehin sinnlos.»
Rose Aptaker seufzte. «Bitte, geh schon ins Geschäft. Arnold muss jeden Augenblick heimkommen, und so, wie du jetzt redest, wäre es besser, wenn du nicht hier bist.»
«Soll ich mich vor meinem eigenen Sohn verstecken?»
«Du brauchst dich nicht zu verstecken, aber manchmal ist es besser, wenn … Ach, ich weiß nicht, du bist in letzter Zeit so gereizt. Geh ins Geschäft, bitte! Ich werde nochmal mit ihm reden.»