33

Was konnte Gabriel dazu veranlassen, einem Mann wie dem Adarianer, den er gerade bekämpfte, den Rücken zu kehren? Ein Gedanken. Im Hintergrund seines Bewusstseins. Er fuhr herum. Da sah er sie über den Klippenrand stolpern, Juliette, mit wehendem Haar, an einen Feind geklammert, um ihn mit sich zu reißen.

Aus den Tiefen seiner Seele drang ein Schrei. Schneller als je zuvor bewegte er sich, stürmte zum Klippenrand, folgte der schönen jungen Frau, der sein Herz gehörte.

Er erreichte sie nicht rechtzeitig genug, um sie aufzuhalten. Aber sein Körper, getrieben von Liebe und der Angst vor einem unerträglichen Verlust, stürzte hinter ihr ins Leere. In seinem Geist blieb nichts außer einem einzigen Gefühl. Und dieses Gefühl riss ihn entzwei, lieferte ihn hilflos einem ungewissen Schicksal aus wie nichts anderes in seinem bisherigen langen Dasein.

Eine Lebensspanne verstrich – nein, mehrere –, bis er nahe genug an sie herankam, um sie zu berühren. Er betrachtete ihr schönes Gesicht, die gesenkten Lider, und die Welt ringsum schien sich aufzulösen. Neben ihnen verschwamm die Felswand, der Wind peitschte Juliettes Haar, und Gabriel umfasste ihr Handgelenk. Eine letztes Beisammensein. Wenn sie diesmal den Tod fanden, würden sie gemeinsam sterben.

Nun hob Juliette die Lider. Verwirrt sah Gabriel ihre Augen wie Juwelen strahlen, so schön, dass es ihm buchstäblich den Atem verschlug. Doch das spielte keine Rolle, gleich würde die Welt ohnehin untergehen.

Und dann spürte er Juliettes Hand auf seiner Wange, so warm und weich und rein. »Ich liebe dich«, formten ihre Lippen. Die Worte hörte er nicht, denn der Wind wehte sie davon, aber sie hallten in Gabriels Seele wider.

»Und ich liebe dich, Babe«, flüsterte er – ein Geständnis, das er nie zuvor ausgesprochen hatte.

Jetzt, dachte er, jetzt werden wir auf den Felsen aufsehlaßen. Es ist vorbei. Er würde den Sturz überleben. Alles überlebte er. Doch ohne Juliette wollte er nicht weiterleben. Ohne seinen Sternenengel erschien ihm die Welt sinnlos. Er umklammerte Juliettes Handgelenk fester, zog sie an sich und legte den Arm um ihre Taille. Mit geschlossenen Augen wartete er.

Und wartete.

»Gabriel«, flüsterte sie.

Seine Hand glitt an ihrem Rücken empor, und er spürte etwas Seltsames in der Luft, etwas Warmes, beinahe Festes.

Irgendwie fühlte er sich eigenartig, leicht benommen. Der Wind tobte nicht mehr um ihn herum, sein Pfeifen verhallte, hohl wie ein Echo.

Zögernd öffnete er die Augen. Die verschwommene Felswand existierte nicht mehr. Auch die weiß schäumenden Meereswellen waren verschwunden, ebenso die Nacht und der Vollmond, die ganze Welt. Nur er und sein Sternenengel waren übrig geblieben und standen in einem Nebel aus weißem Nichts.

»Wo sind wir?« Juliettes Frage wurde vom Nichts wie von Watte verschluckt.

»Nirgendwo«, antwortete Gabriel. Was mit ihnen geschah, wusste er. Diese Erkenntnis wirkte langsam wie eine Droge, die nur allmählich das Glück in ihm auferstehen ließ. »Nirgends mehr«, flüsterte er überwältigt.

Dann schaute er auf die Frau in seinen Armen hinab. Behutsam ließ er sie los, und zum zweiten Mal in der Ewigkeit der letzten Sekunden traute er seinen Augen kaum. »Juliette.« Zärtlich streichelte er ihr Gesicht. »Mein Gott!« Mehr konnte er nicht sagen.

Schöner als alles, was er je gesehen hatte, erschien ihm sein Sternenengel. Und was ihn am meisten verwirrte, waren die mächtigen Flügel, die sich an Juliettes Rücken bildeten. Bronzefarben und grün schimmernd, wurden sie Realität, und Gabriel spürte Tränen auf seinen Wangen.

»Mein Engel«, flüsterte er halb erstickt.

»Gabriel«, hauchte sie. In ihren Augen sah er unvergossene Tränen glänzen. »Du … du hast Flügel.«

Obwohl es ihm schwerfiel, riss er den Blick von ihr los und spähte über seine Schulter. Tatsächlich, Juliette hatte recht. Zu beiden Seiten erstreckte sich das rabenschwarze, silbern gestreifte Gefieder zweier riesiger Schwingen. »Unglaublich«, seufzte er ehrfürchtig. Wie schnell das alles gegangen war.

Erst jetzt erinnerte er sich. Uriel und Eleanore hatten es ebenfalls erlebt und den anderen drei Erzengeln erklärt, was ihnen widerfahren würde, wenn sie ihre Sternenengel fanden. Nun musste Gabriel seine Wahl treffen. Wollte er mit Juliette auf der Erde bleiben oder in seine angestammten Gefilde zurückkehren? Unfassbar. Es geschah tatsächlich, es war kein Traum.

Er wandte sich ihr wieder zu. »Auch du hast Flügel, Liebes.«

Verdutzt blinzelte sie und öffnete die rosigen Lippen, um nach Luft zu schnappen.

»Schau doch nach«, empfahl er ihr, und sie schaute über ihre Schulter

»Oh, mein Gott! Wie … Was …« Entgeistert verstummte sie.

»Du hast dich geopfert, um mich zu retten.« Inzwischen war ihm alles klar geworden. Deshalb hatte sie sich auf den Adarianer gestürzt. »Nicht wahr, meine Süße?«

Als sie sich umdrehte und ihn mit diesen unglaublichen leuchtenden Augen ansah, musste er seine ganze Selbstkontrolle aufbieten, um nicht zu zittern. Er verdiente sie nicht.

Statt zu antworten, errötete sie, und das verriet ihm, was er wissen musste.

»Mein süßer Engel …« Noch mehr Worte fand er nicht, und er wollte es auch gar nicht, sondern sie nur umarmen und küssen und endgültig feststellen, dass dies alles Wirklichkeit war.

Mit seinen warmen Lippen streifte er ihre, so federleicht und sanft, wie es nur Engel vermochten, sie senkte ihre Lider, und dann drückte er sie ungestüm an sich und küsste sie voller Leidenschaft.

Ja, dies war kein Traum, sondern Realität. Sie war sein Sternenengel, und bald würde sie seine Frau sein, und er würde ihr ein wunderbares Zuhause bieten, in Schottland.

 

Die Wirkung war stets dieselbe: Wann immer er Juliette küsste, war der Rest der Welt wie ausgeblendet. Was ansonsten passierte, schien keine Rolle mehr zu spielen. Gnadenlos vereinnahmte Gabriel alle ihre Sinne und riss ihre sämtlichen Schutzmauern nieder, während er sie für immer an sich band. Ihr wurde heiß, ihr Herz schmolz dahin, ihre Begierde wuchs.

In ihrer Kehle stieg ein Stöhnen auf, das ihr Verlangen bekundete. Die Finger in ihr Haar geschlungen, konnte Gabriel ihr gar nicht nahe genug sein.

Jemand räusperte sich, und sie erstarrte.

Plötzlich wurde sie von einem merkwürdigen Gefühl erfasst. Ihre Umgebung hatte sich verändert. Sie hörte wieder Geräusche: den Wind, die Wellen. Die Luft war deutlich kühler. Gabriel küsste Juliette immer noch, aber die Glut war ein wenig verebbt. Offenbar spürte auch er die Veränderung. Als er sie zögernd losließ, öffnete sie die Augen.

»Eine wohlbekannte Szene«, meinte Michael. Grinsend stand er ein paar Schritte von ihnen entfernt auf der Klippe, die Arme vor der Brust verschränkt, und zwinkerte Juliette zu. »Hübsche Flügel.«

In diesem Moment fehlte ihr der Atem für eine Antwort. Den hatte Gabriel ihr mehr oder weniger genommen. Aber sie spähte wieder über ihre Schulter auf die grünbronzenen Schwingen. Es sind tatsächlich Flügel.

Versuchsweise, etwas skeptisch, was die Muskulatur betraf, bewegte sie die Schwingen. Und sie reagierten großartig, entfalteten sich, streiften mit ihrem Gefieder den Boden und hoben sich triumphierend. Unwillkürlich lachte sie. Welch ein unbeschreibliches Erlebnis!

»Ich habe Flügel!«, kicherte sie und schaute Gabriel in die Augen. Voller Stolz musterte er sie und grinste genauso breit wie Michael. Hinter seinem Rücken schlugen seine eigenen Schwingen und zogen Juliettes Blick auf sich.

Ihrer Ansicht nach besaß er viel imposantere Flügel als sie. Schwarz wie die Nacht, verliehen sie ihm wahrlich das majestätische Aussehen eines mächtigen Erzengels, mit einer Spannweite von über sechs Metern. Im Mondlicht glänzten die silbernen Streifen.

Seufzend schüttelte sie den Kopf. Das alles war einfach zu viel. Und dann runzelte sie die Stirn. In ihrem Unterbewusstsein lauerte ein störender Gedanke. Wie still es war. Hatte hier nicht vor wenigen Sekunden eine Schlacht getobt? Juliettes Blick schweifte umher, auf der Suche nach Abraxos und seinen Adarianern. Ein gewaltiger Spalt klaffte in der Klippe, überall lagen Erdbrocken und Geröll von der Explosion verstreut. Doch die Feinde zeigten sich nicht.

Als Juliette sich umsah, entdeckte sie Uriel und Max, etwas weiter entfernt. Die Flügel des Racheengels waren verschwunden, und sie fragte sich, warum.

Die beiden beobachteten sie schweigend. Max von sichtlichem Stolz erfüllt, und Uriel wies mit seinem Kinn lächelnd auf Juliettes Flügel.

»Was ist passiert?«, fragte sie. »Wo sind denn alle? Wo ist Mitchell?« Sie hatte den Adarianer mit sich in die Tiefe gezerrt. War er dort unten auf den Felsen aufgeschlagen?

»Nachdem du hinabgefallen warst, haben sich alle unsere Feinde zurückgezogen«, berichtete Uriel. »Auch der Typ, den du mitgenommen hast.«

»Und du warst wahrscheinlich länger weg, als du dachtest«, ergänzte Michael. »Bei Uriel und Ellie ist’s genauso gewesen.«

Nachdenklich starrte Juliette vor sich hin. Die Adarianer waren verschwunden? Wie hatten sie das geschafft? Es gab so viele Fragen …

In diesem Moment sah sie den vierten Erzengel an einem hohen Felsblock lehnen, teilweise im Schatten. Auf unheimliche Weise reflektierten seine goldenen Augen das Mondlicht. Als Juliette nasse Flecken auf dem schwarzen Trenchcoat entdeckte, schluckte sie krampfhaft.

Nun richtete er sich auf, selbst ein Schatten, völlig eins mit der Nacht, und trat aus dem Dunkel. Ein Mondstrahl fiel auf seine eindrucksvolle Gestalt. Sein Hals und ein Teil seines schönen Gesichts waren blutverschmiert.

Er hatte gegen Abraxos gekämpft. Vermutlich waren diese beiden die mächtigsten übernatürlichen Geschöpfe auf Erden, von Samael abgesehen. Wütend und verbissen mussten sie gerungen haben, und Azraels ruhige Fassade konnte die blutigen Spuren der brutalen Schlacht nicht verhehlen. Juliette fragte sich, wessen Lebenssaft seine Kleidung befleckte. Sein eigener? Oder der des Generals?

Nur kurz streifte Az’ goldener Blick die Flügel an ihrem Rücken. Dann inspizierte er die seines Bruders. Ein schwaches Lächeln umspielte seine perfekten Lippen.

Langsam nickte er Juliette fast ehrfürchtig zu. »Willkommen.« Mit hypnotischem Klang hallte seine tiefe Stimme über die Klippe. Du bist eine sehr ideenreiche Frau, Juliette, fuhr die Stimme fort, diesmal nur in ihrem Geist. Intelligent, stark und gütig, ein echter Sternenengel.

Was sie darauf antworten sollte, wusste sie nicht, und es war auch gleichgültig. Denn er drehte sich zu Max um, der ihn eifrig und sorgenvoll beobachtete.

»Ich brauche Blut«, verkündete Az schlicht.

Unwillkürlich erschauerte Juliette, was dem Vampir offenbar nicht entging, denn er schaute sie kurz an.

»Ja, natürlich«, beteuerte Max verständnisvoll, »wir holen dich später ins Herrenhaus.«

Ein letztes Mal nickte Az und kehrte in die Schatten zurück. Verwundert starrte Juliette ihm nach, während er mit der Finsternis zu verschmelzen schien, bis selbst seine unheimlich schimmernden Augen nicht mehr zu sehen waren.

»Wow«, wisperte sie und schüttelte den Kopf. »Wie machtvoll muss er sein …«

»Allerdings.« Max ging zu ihr und legte seine Hände lächelnd auf ihre Schultern. »Dass du den Sturz überleben würdest, habe ich nie bezweifelt, Jules. Ich habe gesehen, was wir dir verdanken. Nicht nur einmal, sondern zweimal hast du dich für Gabe geopfert.«

Verblüfft hob sie die Brauen, und sein Lächeln wurde breiter. »Du hast das Armband abgenommen«, erklärte er, ließ ihre Schultern los und berührte ihr Handgelenk.

Als sie die Achseln zuckte, wiederholten ihre schimmernden Flügel die Bewegung, was Gabriel ein herzliches Lachen entlockte und einen wissenden Blick.

»Allein schon das hätte genügt, um deine Liebe zu Gabe zu beweisen«, fuhr Max fort.

»Aye«, stimmte Gabriel grinsend zu. »Aber sie ist eine charakterstarke junge Schottin, und ein einziger Beweis hat ihr nicht genügt. Nicht wahr, Liebes?« Sein Daumen strich über ihre Wange, und sie erschauerte wieder, diesmal vor Freude.

»Okay, jetzt haben wir lange genug auf dieser windigen Klippe herumgestanden«, mischte Uriel sich ein, und Juliette sah ihn zu dem Hügel gehen, hinter dem laut Abraxos der Golfplatz lag.

Max, nicht mehr in Tarnkleidung, sondern in einem braunen Anzug und mit Brille, schob seine Hände in die Hosentaschen. »Ah, Schottland«, murmelte er, bevor er Uriel folgte. Der Mond spiegelte sich in seinen Brillengläsern. »Ja, hier bin ich aufgewachsen, ein Stück weiter in Richtung Aberdeen.« Kichernd wechselte er innerhalb eines Herzschlags von einem amerikanischen zu einem schottischen Akzent. Juliette war verblüfft. »Immer, wenn ich unseren Hund mit Haggis gefuttert habe, hat meine Mum mich verhauen.« Er seufzte, anscheinend in Erinnerungen versunken. Dann verschwand er hinter Uriel auf der anderen Seite des Hügels.

Grinsend fuhr sich Michael mit der Hand durch sein blondes Haar und schlug dieselbe Richtung ein.

Gabriel ergriff Juliettes Hand und verschränkte seine Finger mit ihren. »Achte nicht auf Max«, flüsterte er. »So ist er nun einmal.«

Weil sie nichts zu sagen wusste, nickte sie nur. Und es war auch nicht wichtig. Nicht wirklich. In ihrem Innern fühlte sie sich wunderbar leicht, befreit von Sorgen und Schmerzen und Sehnsucht. Was in ihr vorging, schien Gabriel zu wissen, denn als sie den anderen folgten, drückte er ihre Hand ganz fest.

Oben von der Anhöhe aus sah Juliette keine hundert Meter von ihnen entfernt eine Golfcaddy-Hütte. Uriel streckte eine Hand zu der Tür aus, die zu schwanken begann. Flimmernd entstand ein Portal, hinter dem ein gemütliches Kaminfeuer brannte. Zu fünft überquerten sie die Schwelle, einer nach dem anderen.

Im Wohnzimmer des Herrenhauses angekommen, schloss Max mit einer knappen Geste das Portal, ehe Eleanore den Raum betrat.

»Uriel!«, rief sie maßlos erleichtert. Bildschön, schlank und hochgewachsen, lief sie zu ihm. Juliette verspürte nur ein bisschen freundschaftlichen Neid auf die Größe der jungen Frau. Viel intensiver war die Freude über das Wiedersehen mit dem anderen Sternenengel. Beinahe hatte sie den Eindruck, sie hätte eine Schwester gewonnen.

Uriel eilte seiner Frau entgegen, schloss sie in seine Arme und küsste sie.

Da erinnerte sich Juliette, was Mitchell ihr über Abraxos’ Liebe zu Eleanore mitgeteilt hatte. Diese Informationen durfte sie nicht für sich behalten. Dass die Adarianer planten, die Magie der Sternenengel zu stehlen, indem sie deren Blut tranken. Dass der General gegen Gold immun war. So viel hatte sie zu erzählen.

Aber dann spürte sie Gabriels kraftvollen Körper hinter ihrem Rücken. Er schlang einen Arm um ihre Taille und hob sie hoch, um sie an seine Brust zudrücken. Mit der anderen Hand streichelte er die Spitze ihres linken Flügels, und ihr Kopf sank an seine Schulter.

Welch ein unbeschreibliches Gefühl, Gabriels Zärtlichkeiten auf dem weichen Gefieder zu spüren! Von Anfang an hatten seine Liebkosungen ihre Sinne erregt, und jetzt kam ein neuer Reiz hinzu.

»Aye, diese süßen Dinger werden mir gefallen, Babe«, neckte er sie. »Ich kann’s kaum erwarten, dich damit zu sehen. Und mit sonst nichts.«