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Gabriel wusste nicht, wie oft er die Fähre von Ullapool nach Stornoway schon genommen hatte. Er war älter als das Schiff, auch älter als die erste Fähre auf dieser Route. Seit hundert Jahren spürte er solche Decks unter den Füßen, solche Stufen, blickte durch Fensterscheiben voller Salzflecken auf das kalte graue Meer.

Und immer wieder erschien es ihm wie das erste Mal. Niemals verlor das Wasser seinen Reiz, niemals verblasste seine Faszination. Gabriel respektierte das Meer wie nichts anderes auf der Welt, denn es war sogar älter als er selbst und genauso tödlich.

Am wohlsten fühlte er sich auf dem offenen Aussichtsdeck. Wahrscheinlich hätte der eisige Wind das Immunsystem eines Menschen kurzerhand lahmgelegt. Aber er war kein Mensch. Der Wind tat weh, als missgönnte er ihm die Widerstandskraft. Das nahm Gabe hin. Zur Belohnung durfte er allein an der Reling stehen, eine einsame Gestalt in Schwarz, und den scheinbar endlosen Ozean bewundern.

Dieses Privileg brauchte er jetzt. In letzter Zeit hatte er eine gewisse Angst empfunden. Was das bedeutete, wusste er nicht, denn es geschah sehr selten. Manchmal, in großen Abständen, fühlte er sich rasdos und unsicher, und sein Gehirn schien sonderbar umnebelt. So auch, als er in Ullapool an Bord und geradewegs an Deck gegangen war. Er hatte gewusst, der Wind würde die Angst vertreiben, den Nebel auflösen. Und er behielt recht. Wenn die Kälte auch schmerzte – sie rettete ihn.

Ansonsten hatte er es natürlich nicht nötig, die Fähre zu benutzen. Wann immer er wollte, konnte er eine Tür aufsuchen, ein Portal zu dem Haus öffnen, das er mit seinen Brüdern teilte, und sich mittels der Extradimensionalität dieser Räume in jede gewünschte Gegend versetzen lassen.

Diesmal kehrte er von einem kurzen Ausflug nach Glasgow zurück, wo er einiges mit der Bank geregelt hatte. Das war nicht schwierig gewesen. Ein kurzes, klärendes Gespräch mit Max, ein ebenso kurzer Besuch im Hauptbüro der Bank, und es gab keine Probleme mehr. Auf diese Art pflegten Gabriel, seine Brüder und ihr Hüter alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen und ihre Spuren zu beseitigen. Zum Glück besaß Max die Gabe, Akten, Beweismittel und Erinnerungen zu vernichten, um den Erzengeln jederzeit aus der Patsche zu helfen, und auch die Brüder selbst waren alles andere als hilflos. Michael, der Polizist, verfügte über eine Menge wichtiger Kontakte. Als berühmter Schauspieler konnte Uriel fast alle Leute dazu veranlassen, ihm zu helfen. Und Azrael gehörte einer sehr erfolgreichen Band an und besaß Talente, die sich der normalen Vorstellungskraft entzogen.

Die jüngsten Schwierigkeiten, von Angus Dougal verursacht, hätte Gabriel auch aus der Welt schaffen können, ohne die Äußeren Hebriden zu verlassen. Aber Schottland war ein altes Land, die Bevölkerung in Traditionen und Kultur und Aberglauben verwurzelt. Er wollte keinen Verdacht erregen und so normal wirken, wie es einem übernatürlichen Wesen nur möglich war. Deshalb benutzte er die Fähre, und es lohnte sich.

Lächelnd beobachtete er, wie die weißen Schaumkronen der Wellen über das blaugraue Meer glitten. Immer würde Schottland sich lohnen.

 

Juliette starrte durch ein Fenster der Fähre auf das blaugraue Wasser. So kalt sah es aus. Und zeitlos, wie alles in Schottland.

Seit drei Tagen war sie hier. Einen Tag hatte sie in Edinburgh verbracht, einen in Aberdeen, einen in Glasgow. Wegen diverser Komplikationen hatte sie in keinem ihrer Hotels eine Internetverbindung herstellen können. Auch hatte sie ihren Studienberater Dr. Larowe telefonisch in seinem Büro nicht erreichen können. Mit allen anderen Leuten in Pennsylvania hatte sie ebenfalls noch keinen Kontakt aufgenommen, ihre E-Mails noch nicht gecheckt. Von ihrer Arbeit ganz zu schweigen.

In der Folge hatte sie den Gedanken an ihre Familie, die Freunde und ihr Studium beiseite geschoben und sich ganz auf ihre neue Umgebung konzentriert. Um das verlorene Gepäck zu ersetzen, war sie einkaufen gegangen, dankbar für den Vorschuss, den Samuel Lambent ihr geschickt hatte, und dafür, dass es Samuel Lambent überhaupt gab. Danach hatte sie die Straßen der drei Städte erkundet, fotografiert und mit Einheimischen gesprochen, um ein Gefühl für Schottland zu bekommen.

Während sie mit der Bahn von Inverness nach Ullapool fuhr, hatte sie sich plötzlich einsam und verlassen gefühlt, hatte durch das Fenster die hügelige Landschaft betrachtet und erkannt, dass sie noch nie in einem schöneren Land gewesen war. Hier fand sie alles, was ihr Herz begehrte: halb verfallene Schlösser, eine faszinierende Geschichte, alte Ruinen, dunkle Felsenküsten unter gelblichem Moos und grünem Gras, schneeweiße Möwen, aquamarinblaue Buchten, goldene Strände, zahllose winzige Inseln mit verlassenen Klöstern, Friedhöfen und Burgen, Heidekraut auf den Hügeln, neblige Morgenstunden und helle Sterne am klaren Nachthimmel.

Nun wusste Juliette, woher all die Märchen stammten, stellte sich Elfen, Kobolde und Feen in den dichten grünen Wäldern vor. Wenn sie die großen Pilze auf einer Wiese lange genug anstarrte, würden vielleicht Naturgeister unter den Hüten hervorlugen. In diesem Land wurden immer noch Lords und Ladys geboren.

Seit der Landung in Edinburgh befand sie sich in einer seltsamen Stimmung. Auch abgesehen von ihren neuen Talenten, erschien ihr das Leben unwirklich. Sie glaubte fast, sie wäre in einen ihrer Träume geraten.

Im Zug oder im Auto war sie durch Gegenden gefahren, die sie, das hätte sie schwören können, in diesen Träumen bereits gesehen hatte. Gab es so etwas wie genetische Erinnerungen? Hatte sie gewisse Regionen mit den Augen ihrer Ahnen betrachtet? Ihre Eltern stammten beide von schottischen Vorfahren ab. In ihrem Blut spürte Juliette den Reichtum dieses Landes. Deshalb hatte sie sich diese Reise gewünscht, seit sie neun Jahre alt gewesen war, und für ihre Dissertation das Thema der schottischen Geschichte und Kultur gewählt.

Aber in der Stimme des alten grünen Landes, die nach ihr rief, schwang etwas Bedrohliches mit. Kein Sirenengesang, eher das unheimliche Flüstern von Gespenstern, Echos aus der Vergangenheit. Die Geister schienen mit Skelettarmen nach ihr zu greifen, aus nächtlichen Schatten oder grauen Morgennebeln. Manchmal kämpfte sie mit den Tränen.

Über ihrem Kopf knackte eine Sprechanlage, und der Kapitän kündigte an, die Fähre würde den Hafen in zehn Minuten erreichen. Juliette wandte sich von dem Fenster ab, an dem sie seit der Abfahrt aus Ullapool gestanden hatte, und stieg die Treppe zum unteren Deck hinab.

 

Noch hatten sie ihn nicht gesehen. Weder in den Straßen von Ullapool, wo er sie beobachtet hatte, noch an Bord der Fähre. Daniel konnte sich sehr gut verbergen. Notfalls wurde er unsichtbar, aber er wusste auch, mit seiner Umgebung zu verschmelzen. Meistens musste er seine Fähigkeiten gar nicht nutzen. Er stellte sich hinter ein Bücherregal, zog sich die Kapuze seiner Jacke über den Kopf oder verbarg sein Gesicht hinter einer Zeitung. Und er registrierte alles, worauf es ankam, belauschte Gespräche, sammelte sämtliche Informationen, die er für die Verwirklichung seines Planes brauchte.

Aufmerksam hatte er beobachtet, wie Juliette Anderson das Auto bei der Leasingfirma ablieferte, in den Zug stieg und dann an Bord der Fähre ging. Ihre zierliche Gestalt bewegte sich mit elfengleicher Grazie, als wollte sich ihre Sternenengelnatur auf die Weise bemerkbar machen. Überall folgten ihr zahlreiche Blicke. Das schien sie nicht wahrzunehmen. Sie war so schön wie Eleanore Granger, mit klarer, feinporiger Haut, unnatürlich leuchtenden Augen und einer winzigen Stupsnase. Die neue Kleidung, die sie gekauft hatte – bei diesem Gedanken musste er grinsen – passte ihr wie angegossen und zeichnete alle lockenden Kurven nach.

So auszusehen war gefährlich. In den Jahrtausenden seiner Existenz zwischen irdischen Jägern und ihren Opfern hatte Daniel die ungeheure Selbstsucht und Grausamkeit der männlichen Menschheit kennengelernt.

Was ihn selbst betraf- er wusste, dass er den Sternenengel nicht auf unziemliche Weise anfassen durfte. Damit würde er sein eigenes Todesurteil unterzeichnen. Und so gestattete er sich erst gar keine Gelüste, während er Juliette im Auge behielt. Außerdem beobachtete er Gabriel Black, den Erzengel.

Irgendwie waren Gabriel und sein Sternenengel auf dieselbe Fähre geraten, und nun steuerten sie dasselbe Ziel an. Das verblüffte Daniel nicht, aber es enttäuschte ihn. Einen solchen Ort und diesen Zeitpunkt hätte er nicht gewählt, um sich dem Sternenengel zu nähern.

Er hatte auf etwas mehr Zeit gehofft. Bei der Lektüre von Juliettes Aufzeichnungen hatte er herausgefunden, dass sie die Äußeren Hebriden zu Forschungszwecken besuchen würde. Nun wollte er einen Bibliothekar oder Ethnografen mimen, ihr Vertrauen gewinnen und sie in dunkler Nacht an einen einsamen Ort locken. Zudem hoffte er, genug Zeit zu finden, um die gemeinsame Rückkehr in die Vereinigten Staaten vorzubereiten. So einfach war es nicht, eine bewusstlose oder widerstrebende Gefangene über den Atlantik zu transportieren. Zumindest heutzutage nicht mehr.

Doch das Schicksal hatte sich gegen ihn verschworen, und die Zeit wurde knapp. Da der Erz- und der Sternenengel einander so nahe waren, würden sie sich bald kennenlernen. Und danach würde Daniel keine Chance mehr bekommen, sich an Juliette heranzumachen. Nie mehr.

Seufzend beugte er sich in seinem Sessel vor. Wenn er nicht sofort die Initiative ergriff, würden die beiden einander womöglich schon bemerken, während sie von Bord gingen. Er beobachtete noch eine kleine Weile, wie der schöne Sternenengel die Treppe zum Unterdeck hinabstieg und das hüftlange Haar im schwachen Licht schimmerte. Dann stand er auf, seinen schwarzen Rucksack in der Hand. Den hatte er nach seiner Flucht aus dem Hauptquartier der Adarianer gekauft. Darin verwahrte er alles, was er brauchte, um Juliette zu betäuben, falls er Gewalt anwenden musste. Und damit rechnete er.

Er ging zu den Stufen und blickte auf die wachsende Menschenmenge hinab. Als er den Sternenengel nirgendwo entdeckte, unterdrückte er einen Fluch und eilte hinunter. Im Gesichtermeer zwischen den zwei Treppenschächten begegnete er einigen weiblichen Augenpaaren, aber keinem haselnussbraunen. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Wie hatte er Juliette so schnell aus den Augen verlieren können? Offenbar war sie einfach um die Ecke gebogen.

Von wachsendem Unbehagen erfasst, bahnte er sich einen Weg durch das Gedränge und spähte zu der Treppe, die direkt gegenüber zum offenen Aussichtsdeck hinaufführte. Dort hatte sich während der Fahrt nur Black aufgehalten.

Keine Spur von ihm. Also muss er noch da oben sein.

Daniel drehte sich um, folgte den Passagieren zum Ausgang, und seine Gedanken überschlugen sich. Nun musste er Juliette finden und ihr auf den Fersen bleiben, bis er sie irgendwo allein antreffen würde. Dabei durfte man ihn nicht beobachten. Neben den Toilettentüren hielt er inne und wühlte in seinem Rucksack. Als er sicher war, dass niemand ihn beachtete, schlüpfte er in die Männertoilette. Wie er erleichtert feststellte, war er allein. Hastig machte er sich unsichtbar.

Dann wartete er, bis ein anderer Mann hereinkam, und huschte durch die offene Tür hinaus. Langsam steuerte die Menschenmenge das offene Unterdeck an. Daniel zwängte sich geschickt hindurch, bis er vorn am Rand der Leute stand und all die Gesichter musterte.

Da.

Juliette verließ das Gedränge und überquerte die Straße. Dank der Quittungen auf ihrem Stick wusste er, dass sie einen Mietwagen bestellt hatte, den sie hier in Stornoway übernehmen wollte. Nun ging sie zur Leasingagentur. Er rannte ihr nach und drosselte sein Tempo erst, als er bis auf zwanzig Schritte an sie herangekommen war. Noch immer keine Spur von Black, aber zu viele Leute waren hier unterwegs. Vorerst konnte er nichts ohne Zeugen unternehmen.

Allmählich verlor er die Geduld. Am Rande seines Bewusstseins entstand ein unangenehm vages Gefühl, das ihn an seine hellseherische Gabe erinnerte. Hin und wieder passierte das. Und diesmal missfiel es ihm. Was mochte es bedeuten? Das würde er nur erfahren, wenn er in die Zukunft blickte. Doch das würde ihm Schmerzen bereiten und ihn schwächen. Um Juliette zu überwältigen, brauchte er seine ganze Kraft.

Je früher, desto besser. Auch die Unsichtbarkeit schwächte ihn, und er wusste nicht, wie lange er diesen Zustand beibehalten musste.

Juliette ging zur einzigen Autoleasingagentur auf den Äußeren Hebriden. Mit wachsender Ungeduld folgte er ihr. Seine Gedanken schweiften zu den anderen Adarianern. Was mochte der General inzwischen unternommen haben?

Als Juliette das Büro betrat, lehnte Daniel sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite an eine feuchte Mauer. Nur mehr ein paar Stunden, und sie ist allein im nebligen Moor. Nun ja, fast allein. Natürlich würde er sie begleiten, unsichtbar auf dem Rücksitz ihres Mietwagens. Ihr Verschwinden würde sich mühelos mit einem Unfall erklären lassen. Hier draußen waren die Straßen gefährlich, schmal und kurvenreich, von zerklüfteten Felsen gesäumt, der Verkehr von Schafen behindert, die blindlings vor die Autos gerieten.

»Nur Geduld, Daniel«, murmelte er.

Doch da beobachtete er durch das Schaufenster des Büros, dass sich der Sternenengel aufregte. Frustriert strich sich Juliette durchs Haar. Den Kopf schräg gelegt, schaute Daniel genauer hin. Die Frau hinter der Theke zuckte die Achseln, schuldbewusst, wie ihre Miene bekundete.

Seine Augen wurden schmal, und er rannte über die Straße. Ein Ohr an der Scheibe, lauschte er.

»… wegen des Festivals. Schon vor Wochen wurden alle Autos gebucht.«

»Ein Festival?« Offenbar schaffte Juliette es nur mühsam, in halbwegs ruhigem Ton zu sprechen.

»Das Musikfestival«, erklärte die Frau.

»Ah, Feis nan Coisir«, seufzte Juliette, kniff sich in die Nasenwurzel und schloss sekundenlang die Augen. »Jetzt erinnere ich mich.«

»Sie haben einen sehr guten Akzent, Miss«, meinte die Frau hinter der Theke, und ihr Blick erhellte sich ein wenig.

»Danke.« Juliette tat ihr Bestes, um höflich zu bleiben. »Warten Sie, ich habe eine Bestätigungsnummer, die muss ich nur finden …« Hektisch kramte sie in ihrem ledernen Rucksack.

»Tut mir leid, ich fürchte, das wird Ihnen nichts nützen.« Das Bedauern der Frau wirkte echt. »Jetzt sind keine Autos mehr da, ganz egal, ob Sie eine Nummer haben oder nicht.«

Nun schien Juliettes schönes Gesicht zu versteinern, und Daniel wünschte, er könnte ihre Gedanken lesen. Dieses Talent besaß er nicht. »Okay«, sagte sie und hängte sich den Rucksack über die Schulter. »Die blöde Nummer steckt ohnehin in meinem Koffer, den ich auf dem Flughafen verloren habe.«

»Vielleicht gibt’s noch ein paar freie Hotelzimmer hier in Stornoway. Morgen können Sie ein Taxi zu Ihrem Cottage nehmen. Das wird allerdings teuer.«

Während Daniel belauschte, wie Juliette das Telefon der Agentur benutzte, um ein verfügbares Hotelzimmer zu ergattern, fuhr er sich mit dem Handrücken über die Stirn. Die lange Unsichtbarkeit zehrte an seinen Kräften. Bei diesem Unternehmen stand das Glück nicht auf seiner Seite. Das Schicksal musste sich tatsächlich gegen ihn verschworen haben. Klar, die vier Lieblingserzengel des Alten Mannes werden ja stets bevorzugt.

Er wartete, bis er den Namen und die Adresse des Hotels erfuhr, in dem Juliette absteigen würde – über einem alten Pub, gleich um die Ecke. Dann stieß er sich von der Wand ab. Nun brauchte er eine Ruhepause. Er würde ein geeignetes Versteck finden, wo er schlafen und eine bewusstlose Frau unterbringen konnte.

Und dann würde er sich in Juliettes Hotel umsehen.