9
»Was zum …«
Azrael stand auf, als seine beiden Brüder eintraten, von Max gefolgt. Mit einem kurzen Blick sondierte Michael die Lage, dann neigte er sich über den verletzten Constable und presste seine starke Hand auf Gerald Fields’ blutende Brust.
»Heb dir noch etwas von deinen Kräften auf«, mahnte Max leise. Seine sorgenvolle Stimme erregte die Aufmerksamkeit des Erzengels, während sich die Wunde des Polizisten zu schließen begann. Michael hob den Kopf und sah, wie Max’ Kinn auf Gabriel wies.
Gabe versuchte seine Schmerzen zu verbergen. Im Gegensatz zu den Menschen, die Michaels Hilfe dringend brauchten, war er nicht tödlich verletzt.
»Hol Ellie hierher, Uriel«, befahl Michael in ruhigem Ton.
Gabriel beobachtete, wie Uriel sich mit der Hand übers Gesicht fuhr. Offensichtlich wollte er protestieren, aber er hatte keine Wahl. Zwei Sekunden später benutzte er die Gefängnistür, um ein Portal zum Herrenhaus zu öffnen.
Als er verschwand, schloss Gabe die Augen, unfähig, die Qualen noch länger zu bekämpfen. Wie Feuer brannten die Wunden in der Wange und im Kinn. Die Splitterwaffen waren von den Adarianern erfunden worden, und Adarianer verhielten sich niemals menschlich. Sie bevorzugten Waffen, die übernatürliche Wesen bezwangen – Erzengel. Und damit gingen sie geradezu perfekt um. In diesem Moment hatte Gabriel den Eindruck, er hätte Verbrennungen dritten Grades erlitten. Eine beharrlich pochende Glut, so ließ sich der Schmerz in seinem Körper am ehesten beschreiben.
Auf der anderen Seite des Raums erklangen Schritte. Da wusste er, dass Michael sich um die anderen verletzten Polizisten kümmerte. Und er wusste auch, wie gewaltig es an der Energie eines Erzengels zehrte, wenn er seine Heilkunst nutzte. Was mochte sein Bruder jetzt empfinden?
»Halt durch, alter Junge!«
Als Gabriel die Lider kurz darauf erneut hob, sah er ihn plötzlich neben sich knien. In Michaels saphirblauen Augen glühte ein unnatürliches Licht. Jetzt beschwor er seine letzten Kräfte aus der Tiefe seiner Seele herauf, Schweiß tränkte seine dichten blonden Locken.
»Streng dich nicht so an«, würgte Gabe hervor. »Gleich kommt Ellie …«
»Lass es mich versuchen.«
»Okay.« Gabriels Kopf sank auf seinen Arm, und er schloss wieder die Augen. Dann spürte er Michaels Finger auf seiner Brust, die sich wie Flammen anfühlten, und er biss die Zähne so fest zusammen, dass er glaubte, sie würden brechen.
Was von Michaels Kraft noch übrig war, strömte von seiner Hand in Gabes Brustmuskeln und breitete sich im Oberkörper aus. In der versteinerten Schulter entstand ein Prickeln. Wie aus weiter Ferne wirkte die Heilkunst, wie durch zu viele Schichten hindurch.
»Deinen Arm kriege ich noch hin, danach bin ich total ausgelaugt«, keuchte Michael.
Wenig später fühlte Gabriel die belebende, knisternde Magie in seinem Arm und grub die Zähne in seine gesunde Hand, um einen Schmerzensschrei zu unterdrücken.
Als das Werk so weit vollbracht war, kauerte Michael sich auf seine Fersen und fuhr sich mit bebender Hand durch sein schweißnasses Haar. Gabriel betrachtete ihn wie durch einen dunklen Schleier. Nun drohten die Qualen ihm die Sinne zu rauben. Erst zu einem Drittel war er genesen. Hinter seinem Bruder sah er die Luft flirren.
»Tut mir leid«, seufzte Michael und schaute Gabes versteinerte Beine an.
»Schon gut, Mike, ich bin da«, sagte eine weibliche Stimme hinter ihm. Gabriel sah Eleanore durch das Portal eintreten und auf sich zulaufen. »Mach mal Pause«, wies sie Michael an, der sich langsam erhob und beiseitetrat.
Uriel folgte seiner Frau. Auch der Hüter und Azrael kamen näher. Az hatte die Splitterwaffe aufgehoben und hielt sie fest. Zum ersten Mal hatten sie eine adarianische Waffe erbeutet, und Gabriel stellte sich vor, Max würde sie später gründlich inspizieren.
»O Gott«, wisperte Ellie. »Wie viele Feinde waren das?«
»Nur einer«, erklärte Az, und sie schaute ihn kurz an, während sie sich neben Gabriel kniete und seine Brust berührte.
Ebenso wie Gabe senkt sie die Lider, während ihre Magie in seinen Körper floss, auf andere Art als Michaels Heilkraft. Wahrscheinlich war Gabriel der Einzige, der diesen Unterschied jemals feststellen würde. Ellies Magie fühlte sich wie Bier an, nicht wie Scotch, strömte schneller in die Adern, wirkte aber langsamer.
Trotz der sanften Behandlung musste Gabe sich in den Unterarm beißen, um nicht zu schreien. Nach einer Zeitspanne, die ihm wie Jahre erschien, war es endlich überstanden. Er öffnete die Augen und sah, wie Ellie auf ihren Knien schwankte und von Uriel umfangen wurde.
»Wie …« Sie blinzelte, schüttelte den Kopf und begann noch einmal von vorn. »Wie oft hat er auf dich geschossen?«
»Fünf Mal«, erwiderte Gabriel. »Zweimal in jedes Bein, einmal in die Schulter.« Diesen Worten folgte ein bedrücktes Schweigen, doch darauf achtete er nicht. »Beim letzten Mal hat er auf meinen Kopf gezielt.«
»Also hat er sich nicht zurückgehalten.« Ernsthaft besorgt und nachdenklich blickte Max vor sich hin. Dann nahm er seine Brille ab, putzte sie mit dem Tuch, das er stets in einer der Innentaschen seines Jacketts verwahrte, und setzte sie wieder auf. »Offenbar hasst er dich wirklich. Hast du keinen anderen Adarianer in seiner Nähe gesehen?«
»Nein, er war allein. Und er sagte, ich hätte keine Ahnung, was da vorgehen würde.« Gabriel testete seine Beine und schaute zu den Polizisten hinüber, die immer noch bewusstlos am Boden lagen. Vermutlich hatte Max ihre Erinnerungen gelöscht, und Az würde sie erst zu sich kommen lassen, wenn die Situation bereinigt war.
»Seltsam«, meinte Max, »eigentlich dachte ich, es wäre klar, was der Adarianer will: deinen Tod.«
»Und sonst nichts?«, fragte Michael.
»Natürlich ist er hinter Juliette her«, sagte Gabriel und stand auf.
So schwer und schwach fühlte sich Juliettes Körper an, fast angenehm. Eine friedliche Wärme schien sie einzuhüllen, wie eine dicke Decke.
Moment mal. Mit gerunzelter Stirn strich sie sich über die Brust. Tatsächlich, eine Decke, aus weicher Wolle, soweit sie das feststellen konnte. Sie wollte die Augen öffnen. Aber ihre Lider waren zu schwer. Sie versuchte es noch einmal.
Allmählich konnte sie blinzeln, langsam drang Licht in ihre Augen. Sie lag auf einer Couch in einem gemütlich eingerichteten Wohnzimmer. In einem Kamin auf der anderen Seite loderte ein Feuer. Ein Glas Wasser stand neben ihr auf dem Couchtisch.
Der Couch gegenüber saß ein Mann auf einem Zweiersofa. »Wie fühlen Sie sich?«, fragte er sanft.
Juliette antwortete nicht. In ihrem Gehirn schrillten Alarmglocken und jagten belebende Adrenalinmengen durch ihre Adern. Er war sehr groß. Wie der Mann, der sie im Pub geküsst und ihr dann das Leben gerettet hatte. Aber seine Augen schimmerten nicht silbern, sondern grün, und sein Haar war viel heller. Er trug Jeans, ein Thermohemd und eine Jacke. Über die breite Brust verlief ein Lederriemen. Von einem Schulterhalfter. In Schottland?
Freundlich lächelte er sie an. Als wüsste er, was sie dachte, schaute er auf das Halfter hinab. Dann zog er die Jacke aus und enthüllte zwei Pistolen. »Ich bin Angus Dougal, der Chief Inspector von Lewis«, erklärte er, und sein Lächeln wurde breiter. »Keine Bange, ich werde Sie nicht erschießen.«
»Warum bin ich hier?« Sie richtete sich ein wenig auf. Vorerst würde sie glauben, was er sagte. Sie war so müde.
»Ich wollte Sie in die Klinik bringen. Aber zufällig kenne ich die Schwester, die heute Nacht Dienst hat. Nur zu Ihrem Besten trug ich Sie hierher, Miss, in mein Haus.« Angus Dougal lachte leise, die grünen Augen funkelten.
Plötzlich wurde Juliettes Mund trocken. Ihr schwirrte der Kopf, und sie sank langsam in die Polster der Couch zurück. Also ein Polizist. Und sie war in seinem Haus. Ein anderer Mann hatte sie in ihrem Hotelzimmer überfallen und zu betäuben versucht. Gerade noch rechtzeitig, um sie zu retten, war der Mann hereingekommen, der sie geküsst hatte.
Da fiel ihr plötzlich etwas ein, und ihre Augen weiteten sich. »Was geschah mit dem Fremden?« Ihre Stimme klang viel zu schwach.
»Der Sie angegriffen hat?« Aufmerksam fixierte er ihr Gesicht.
Sie schluckte krampfhaft. In diesen grünen Augen erschien irgendetwas, was an ihren Nerven zerrte.
»Gabriel Black wurde verhaftet. Jetzt kann er Ihnen nichts mehr anhaben.«
»Was?« Juliette blinzelte.
»Der Mann, der Sie attackiert hat, heißt Gabriel Black. Schwarzes Haar, graue Augen. Erinnern Sie sich?«
»Was?«, wiederholte sie verwirrt und wütend. Dougal beschrieb den Mann, der sie in der Bar geküsst und vor dem blonden Fremden gerettet hatte. Gabriel Black. Der Name gefiel ihr, er passte zu ihm.
Mit Argusaugen beobachtete Dougal ihre Reaktion.
Sie setzte sich wieder auf. Mit einem tiefen Atemzug sammelte sie neue Kräfte, um ihren Lebensretter zu verteidigen. »Nein, Gabriel Black hat mich nicht überfallen.« Weil ihr Mund immer noch trocken war, ergriff sie das Wasserglas und nahm einen Schluck. Dann stellte sie es auf den Tisch zurück und schwang die Beine über den Rand der Couch. »Er hat mich vor dem Schurken gerettet. Er hielt ihn so lange fest, dass ich fliehen konnte.«
Darüber schien Dougal eine Zeit lang nachzudenken. Seine Miene war unergründlich. »Ach ja?«, fragte er leise und legte einen Arm auf die Lehne des Zweiersofas. »Interessant. Als ich mit meinen Männern ankam, war Black der Einzige im Zimmer.«
Erstaunt hob sie die Brauen, betrachtete das Wasserglas, den Tisch, die Couch. Schließlich schaute sie wieder den Inspector an. »War er unverletzt?« Das wollte sie tatsächlich wissen.
Den Kopf schräg gelegt, erwiderte er ihren Blick, ohne seine Neugier zu verhehlen. Und da erkannte sie, dass er sie nicht mehr für ein Opfer hielt, sondern verdächtigte. Aber was sollte sie verbrochen haben?
Dougal schnitt eine Grimasse, erhob sich zur imposanten Größe von etwa eins neunzig, und Juliettes Mund wurde noch etwas trockener. Dann, nachdem sie so lange in die grünen Augen gestarrt hatte, dass ihr schwindlig wurde, umrundete er den Couchtisch und setzte sich direkt vor ihr auf die Tischplatte. »Miss Anderson«, begann er mit seiner tiefen Stimme und dem ausgeprägten schottischen Akzent, »heute Nacht haben Sie einiges durchgemacht. Als wir Black fanden, war er allein in Ihrem Zimmer, mehr oder weniger unversehrt.« Er wartete, bis sie die Information aufgenommen hatte, ehe er sich vorbeugte und seine Finger aneinanderlegte. »Haben Sie wirklich einen anderen Mann gesehen?« Sein forschender Blick fixierte sie. »Sind Sie sicher?«
Von unheilvollen Gefühlen erfasst, hätte sie beinahe laut gestöhnt. Was mochte geschehen sein? Warum war Black allein gewesen? Und wieso war der Fremde plötzlich im wahrsten Sinne des Wortes in ihrem Zimmer erschienen? Da hatte sich irgendetwas abgespielt, was nicht hätte passieren dürfen. Etwas Übernatürliches. Beklommen zupfte sie an der Wolldecke, die sie beiseitegeschoben hatte.
»Wie man mir zutrug, Miss Anderson, fiel Black im Pub über Sie her, bevor er Ihre Tür aufbrach.«
O Gott. Der Kuss.
»Hm«, murmelte sie und spürte heiße Röte in ihren Wangen. »Er hat mich geküsst.«
Ein wissendes Lächeln umspielte Angus Dougals Lippen. »Verpassen Sie allen Männern, die Sie küssen, einen Kinnhaken, Miss Anderson?«
Unter seinem stechenden Blick fühlte sie sich immer unbehaglicher. »Inspector … befindet sich Mr. Black immer noch in Polizeigewahrsam?«
»Allerdings. In Ihrem Zimmer ist ein beträchtlicher Schaden entstanden. Außerdem hat er Sie attackiert.« Er verstummte und schien auf Widerspruch zu warten, der prompt folgte.
»Nein, er ist unschuldig. Jemand anders hat mich überfallen. Ein blonder, sehr großer, sehr starker Mann. Vielleicht war Mr. Black ein bisschen beschwipst und hätte mich im Pub nicht küssen sollen. Aber er hat mich vor dem Angreifer beschützt.«
Die Augen des Inspectors verengten sich, und er musterte sie erneut mit einem typischen scharfen Polizeiblick, den sie erwiderte, ohne mit der Wimper zu zucken. »Natürlich wurde Ihr Zimmer gründlich durchsucht, Miss Anderson. Wir haben keine Spuren von einer anderen Person gefunden. Was genau hat dieser Unbekannte mit Ihnen gemacht?«
»Er hat mir einen chloroformgetränkten Lappen auf Mund und Nase gedrückt.« Den hatten die Cops offenbar nicht gefunden. Der Schurke musste alle Spuren beseitigt haben. Und warum hatte er es überhaupt auf sie abgesehen? Sie wusste es nicht. Doch es konnte kein guter Beweggrund sein.
Schweigend dachte Dougal nach. Dann seufzte er. »In diesem Zimmer wurde ein gewaltiger Schaden angerichtet, Miss Anderson. Überall lagen Ihre Sachen verstreut. Sämtliche Lampen sind zerbrochen. Das alles soll ein Mann mit einem Chloroformlappen getan haben? Ehrlich gesagt, ich verstehe nicht, was ihn dazu hätte treiben sollen. Und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Sie sind ziemlich klein. Ein sehr großer, sehr starker Mann hätte sicher keine solchen Probleme mit Ihnen gehabt.«
Juliette blinzelte, die Kehle schnürte sich ihr zu. Erfolglos versuchte sie zu schlucken. Er hatte auf einen bemerkenswerten Punkt hingewiesen. Der Angreifer hatte keine Lampen zertrümmert und keine Sachen verstreut. Das war ihr Werk gewesen. Per Telekinese. Und sie bemühte sich immer noch, ihre neuen Fähigkeiten zu akzeptieren. Aber das würde sie dem Chief Inspector Angus Dougal nicht verraten.
Und so schwieg sie. Schließlich nickte er und stand auf. »Okay. Irgendwas verheimlichen Sie mir. Deshalb muss ich Sie unter Hausarrest stellen, bis wir etwas mehr herausgefunden haben.«
Offensichtlich wartete er ab, wie sie das verkraften würde. Als sie nach Luft schnappte und aufsprang, schien er die erhoffte Reaktion zu beobachten. Das konnte sie einfach nicht glauben. Durfte er sie wirklich festhalten, eine Zeugin einsperren? Obwohl kein richtiges Verbrechen begangen worden war? Wie sie sich vage entsann, nahm die Polizei immer wieder jemanden in Untersuchungshaft, bis seine Unschuld erwiesen war. Aber vielleicht irrte sie sich. In ihrem Magen machte sich ein flaues Gefühl breit.
»Was werfen Sie mir vor?«
»Ruhestörung und Beschädigung fremden Eigentums«, erläuterte er seelenruhig. »Wenn Black das Zimmer nicht verwüstet hat, was Sie ja behaupten, muss ich vermuten, dass Sie mit ihm unter einer Decke stecken.« Langsam schweifte sein Blick über ihr Gesicht, vom Haaransatz bis zum Hals. »Für irgendwas sind Sie verantwortlich, Miss Anderson.« Nun schenkte er ihr ein ›Alles klar?‹-Lächeln, bevor er hinzufügte: »Natürlich können Sie den Schaden auch einfach bezahlen und Ihrer Wege gehen.«