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Mit wachsendem Zorn und zusammengekniffenen Augen hatte Daniel die Begegnung zwischen dem Erzengel und dem Sternenengel beobachtet. Also deshalb hatte er sich den ganzen Nachmittag so nervös, so unbehaglich gefühlt. Insgeheim musste er geahnt haben, was geschehen würde.

Er hätte sich keine Zeit für den erholsamen Schlaf nehmen dürfen. Aber selbst wenn er darauf verzichtet hätte, hätte es nichts genützt, weil er dann die bewusstlose Juliette Anderson nicht unbemerkt aus dem Hotel hätte schaffen können.

Nun war er machtlos. Alles hatte sich gegen ihn verschworen. Niemals hätte er erwartet, bei seiner Ankunft im Pub den Sternenengel zwischen der Wand und dem Erzengel eingeklemmt zu sehen. Das plötzliche Gewitter, von Juliette unwissentlich entfesselt, passte zu Daniels Stimmung. Perfekte Dramatik. Grauenhaft.

Gabriel hatte sie geküsst, kaum mit ihr gesprochen, und er war einfach über sie hergefallen.

Noch jetzt sah Daniel vor Wut rot. Was für ein beschissenes Pech! Wie Lava strömte der Zorn durch seine Adern und unterzog ihn einer harten Prüfung. Dadurch fiel es ihm umso schwerer, unsichtbar zu bleiben. Gewiss, er hatte sich ausgeruht, aber nichts gegessen. Und obwohl er neue Kräfte gesammelt hatte, wusste er nicht, wie lange sein Körper ohne Stärkung durchhalten würde.

Mit knirschenden Zähnen und wilder Mordlust im Herzen sah er Juliette nun die dunkle Treppe hinauflaufen, während Gabriel Black sich verwirrt das Kinn rieb und ihr nachstarrte.

Daniel stieß sich von der Wand ab, an der er gelehnt hatte, und schlüpfte laudos zwischen einigen Zechern hindurch, um dem Sternenengel zu folgen.

Als er an Black vorbeikam, spürte er eigenartige Vibrationen auf seiner Haut. Schiere Kraft, soeben erwacht. Und Daniels sechster Sinn verriet ihm, was das bedeutete. Black hatte seinen Sternenengel erkannt.

Jetzt blieb ihm selbst kaum noch Zeit.

 

Was Gabriel empfand, konnte er nicht glauben. Was er gesehen, was er soeben getan hatte … Er fühlte sich so seltsam, als wäre er in einem Traum gefangen. Vielleicht hatte er zu viel Ale getrunken und war von dem Kaminfeuer eingeschlafen.

Aber er wusste, dass es wirklich geschehen war.

»Also hast du sie endlich gefunden, Black«, sagte eine raue Stimme hinter ihm. Gabriel drehte sich zu Stuart um, der von einem Ohr bis zum anderen grinste. »Hab ich’s dir nicht gesagt? Ein Engel ist hierhergekommen.«

Gabriel blieb der Mund offen stehen. Die Frau, die sein Freund vorhin erwähnt hatte? »War sie das?«

»Aye.« Stuart klopfte ihm auf den Rücken. »Für so ein kleines, zartes Ding kann sie ganz schön zuschlagen.« Lachend ging er zur Bar, um noch ein Bier zu bestellen.

Unfähig, sich zu bewegen, schaute Gabriel vor sich hin. Parmaveilchen. Nach Blumen und Bonbons schmeckte sie. Juliette, so hieß sie, hatte Stuart gesagt.

Noch nie hatte er sich so gefühlt wie in jenem Moment. Gelangweilt hatte er beim Feuer gesessen. Und plötzlich war ihm noch heißer geworden, wie im Fieber. Ringsum hatte die Luft geknistert und ihm den Atem geraubt. Dann war er aufgestanden. Quer durch das Pub war er ihrem Blick begegnet.

Tausend Gedanken waren ihm durch den Kopf gerast, und zugleich war sein Kopf völlig leer gewesen. Mitten in dem Lärm hatte für ihn vollkommene Stille geherrscht. Die Zeit schien sich zu beschleunigen und zugleich stillzustehen.

Zwei Jahrtausende. Zwanzig Jahrhunderte. Eine Ewigkeit, um jemanden zu suchen. Und als er in die Augen der Frau gestarrt hatte, von der er in mindestens siebenhunderttausend Nächten geträumt hatte, hatte er sofort Bescheid gewusst: die Suche war beendet. Natürlich hätte er sie nicht gehen lassen dürfen. Zumal nicht, da sie in diesen engen Jeans und den Lederstiefeln ins Pub gekommen war, in dieser dünnen Bluse, die ihre Schultern entblößte, ihre seidige Haut.

Und dann war sein Sternenengel davongelaufen. Das konnte er der Frau nicht verübeln. Wahrscheinlich hielt sie ihn für einen betrunkenen Grobian. Mit gutem Grund.

Doch das würde ihn nicht zurückhalten. Keinesfalls durfte er sie verlieren. Die unverhoffte Ankunft seines Sternenengels hatte ihn verwirrt und der Kuss den letzten vernünftigen Gedanken aus seinem Gehirn verscheucht. Nie zuvor in seinem langen Leben hatte er eine Frau so leidenschaftlich begehrt, und das schon nach wenigen Sekunden. In jenem Moment war er nicht sicher gewesen, ob er sich selbst trauen konnte. Noch mehr wollte er nicht vermasseln.

Plötzlich knisterte die Luft wieder. Die Stirn gefurcht, wandte er sich zur Treppe. Die war leer. Aber das Knistern nahm zu. Instinktiv stürmte er die Stufen hinauf.

 

Juliette warf die Tür hinter sich zu und verriegelte sie, sank gegen sie und versuchte Atem zu schöpfen.

Unglaublich, was soeben geschehen war. Zitternd fuhr sie sich mit der Hand übers Gesicht. Bei den Lippen hielt sie inne und berührte die verräterische Schwellung. Ich bin geküsst worden. Vom großartigsten Mann, den die Welt jemals gesehen hat.

Die Lider geschlossen, lehnte sie ihren Kopf an die Tür. Ihr Körper fühlte sich an, als würde er um ihre Seele herumschwirren. Irgendetwas hatte der Mann zu ihr gesagt, und sie wollte sich daran erinnern. Doch sie konnte nur an den Kuss denken, an die Glut, die in ihr erwacht war. Und an diese Augen. Wie geschmolzenes Silber. Die Engelsaugen in ihrem Traum.

Plötzlich spürte sie einen Luftzug, hob die Lider, und ihr stockte der Atem. Sie fand gerade noch Zeit, um kurz zu schreien, bevor sich ein Mann auf sie stürzte, der zuvor nicht da gewesen war. Der Fremde umfing sie wie eine dunkle Decke, drehte sie um und drückte ihren Rücken an seine Brust. Gleichzeitig presste er seine Hand so fest auf ihre geschwollenen Lippen, dass es wehtat. Sie spürte ein Tuch vor ihrer Nase und ihrem Mund und nahm einen beißenden Geruch wahr. Instinktiv wusste sie, dass der Angreifer sie mit Chloroform zu betäuben versuchte.

Sie wagte nicht mehr zu atmen, ihr hämmerndes Herz verlangte Sauerstoff. Aber wenn sie Luft holte, würde das Betäubungsmittel ihr die Besinnung rauben. Noch nie hatte sie solch eine panische Angst empfunden.

Durch den Nebel ihres Entsetzens sah sie die Gegenstände im Zimmer schwanken. Die Lampe wackelte auf dem Tisch, der brandneue Hartschalenkoffer rutschte über den Boden, die Schranktür öffnete und schloss sich. Entgeistert riss sie die Augen auf. In ihrem Hotelzimmer spielte sich ein absonderlicher Albtraum ab, und der Blitz, der gerade vor dem Fenster zuckte, verlieh der Szene einen unheimlichen Anstrich.

Aber Juliette fand keine Zeit, darüber nachzudenken. Wenn sie keine Luft bekam, würde sie sterben. Ihr Körper schmerzte qualvoll. Ringsum verblasste die Welt. Obwohl sie den Atem anhielt, sickerte die tückische Macht des Chloroforms in ihre Adern. Erfolglos kämpfte sie gegen den Griff des Mannes an, der ihr ins Ohr flüsterte: »Entspannen Sie sich, Schätzchen, gleich ist es vorbei.«

Dann duckte er sich hinter ihr. Fluchend ließ er ihr Gesicht los, da der Hartschalenkoffer sich vom Boden erhoben hatte und auf seinen Kopf zuflog.

Sobald Juliettes Mund von dem vergifteten Lappen befreit war, rang sie nach Luft und wehrte sich entschlossen gegen die schwächende Wirkung der geringen Chloroformmenge, die sie eingeatmet hatte. Mit ihrer ganzen restlichen Kraft rammte sie dem Mann ihren Ellbogen in den Magen und versuchte seinen Arm abzuschütteln.

Grunzend rang er mit ihr, da prallte die schwingende Schranktür gegen seinen Schädel. Ungläubig und mit einem leichten Schwindelgefühl, das nicht allein von dem Betäubungsmittel herrührte, sah Juliette sich um. Was geschah in diesem Raum? War hier ein Poltergeist am Werk?

Ihr Gegner ließ den Lappen fallen. Aber er umschlang sie erneut und zerrte sie in den Schatten des Schranks, als plötzlich krachend die Zimmertür aufflog.

 

Ein schriller, abgehackter Schrei übertönte die leisen Stimmen der Frauen, die vor der Toilette warteten. Gabriel erstarrte auf dem Treppenabsatz, dann stürmte er den Flur entlang. Seine Nackenhaare sträubten sich. Sechs Zimmer. Und er hatte vergessen, Will zu fragen, in welchem der Sternenengel wohnte.

Aber die Kampfgeräusche hinter der Tür mit der Nummer drei markierten sein Ziel. Er drehte am Knauf. Verschlossen. Gabriel trat zurück und hob den Fuß, trat gegen das Holz, und die Tür gab splitternd nach. Der Raum war dunkel und plötzlich viel zu still.

Vor den Fenstern donnerte es. Ein Blitz erhellte das Zimmer. Gabriels Herz hämmerte schmerzhaft gegen seine Rippen. Das hatte es noch nie getan. Und er verspürte Angst, als er den Raum betrat.

Ein halb erstickter Laut grüßte seine Ohren. Irgendwo zu seiner Linken. Suchend spähte er in den Schatten des Schranks.

Da!

Und dann erhob sich die Nachttischlampe und sauste quer durch das Zimmer. Im Licht eines weiteren Blitzes sah er sie und wich ihr gerade noch rechtzeitig aus, bevor sie gegen die Wand neben dem Schrank schlug. Klirrend zerbrach das alte Glas und entlockte dem Schemen eines Mannes mehrere Flüche.

Sobald der nächste Blitz den Fremden beleuchtete, sprang Gabriel vor und packte ihn am Hals. Der Schurke umschlang den Sternenengel und verströmte die typische beißende adarianische Aura, vermischt mit dem Gestank von Chloroform.

Nun wusste Gabe, was hier geschah. Irgendwie war es dem Adarianer misslungen, den Sternenengel zu betäuben, was er zweifellos geplant hatte. Und jetzt war es zu spät, denn Gabe würgte den Bastard, und der ließ Juliette los. Unsanft landete sie auf dem Boden, und er hörte, wie die Luft aus ihren Lungen gepresst wurde. Mühsam kam sie wieder auf die Beine.

»Lauf weg!«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und wehrte sich gegen die Gefühle, die der Feind in ihm weckte. Wenn man einen Adarianer attackierte, musste man statische Elektrizität überwinden. Die Kräfte, die Erzengel ebenso wie Adarianer durchströmten, agierten wie negative und positive Ionen, prallten knirschend aufeinander und erweckten den Eindruck, man würde den Gegner wie durch eine Schicht Sandpapier bekämpfen.

Animalisch und wild entschlossen knurrte der Adarianer in den Tiefen seiner Kehle, und Gabriel stöhnte, als eine harte Faust seine Nierengegend traf. Doch davon erholte er sich rasch und kämpfte weiter, während er aus den Augenwinkeln sah, wie sein Sternenengel aus dem Zimmer floh.

 

Wie von Furien gehetzt, stürmte Juliette in den Flur hinaus. Was hier geschah, verstand sie nicht. Sie registrierte kaum, wo sie sich befand, und noch weniger die Tatsache, dass sie innerhalb erstaunlich kurzer Zeit betörend geküsst, überfallen worden und geflohen war. Nur eins wusste sie: So schnell wie möglich musste sie aus dem Hotel laufen und die Polizei informieren.

Seltsamerweise war der Korridor menschenleer. Von den Wänden hallte Donnergrollen wider und erschütterte die Grundmauern des Hauses. Juliette spähte zur Treppe, die zum Pub hinabführte. Aus irgendeinem Grund rannte sie in die entgegengesetzte Richtung. Es war eine spontane, völlig unlogische Entscheidung.

Am Ende des Flurs ließ sich eine schmale Tür öffnen. Ohne lange zu überlegen, eilte Juliette die Personaltreppe hinunter. Die Ausgangstür klemmte, von der feuchten Kälte verzogen, und sie musste sich dagegenstemmen. Dann betrat sie eine regennasse Gasse. In der windigen, stockdunklen Nacht klapperten ihr die Zähne.

Mittlerweile spürte sie ihre Muskeln und Knochen nicht mehr, und ihre Beine bewegten sich wie von selbst. Die Taubheit drang von innen nach außen. Sicher eine Nachwirkung des Chloroforms. Sie war ziemlich klein. Und der Angreifer musste das Tuch mit einer ganzen Menge von dem Zeug getränkt haben. Aber irgendwie kam es ihr anders vor. Chloroform glich einer Schlummerhülle, die einen äußerlich umfing, ehe sich der Effekt nach innen fortsetzte. Jetzt war es anders. Es war eine vertraute, tiefere Art von Schwäche. Aus ihren Knochen und Muskeln schienen alle Kräfte zu weichen. Es war nichts, was von außen auf sie eindrang und sie einschläferte. So war ihr zumute gewesen, nachdem sie die beiden todgeweihten Männer geheilt hatte.

Sie umrundete eine Ecke, lief blindlings die Straße entlang. Es kommt durch das Gewitter, dachte sie. Daran bin ich schuld. Auch an dem fließenden Koffer. Jetzt erinnerte sie sich an die Gegenstände im Hotelzimmer, von einem vermeintlichen Poltergeist bewegt. Nur dass es kein Geist war. Das alles hatte sie getan.

Lange halte ich nicht mehr durch. Bald würde sie die Besinnung verlieren. Sie konnte nur hoffen, sie würde sich vorher weit genug von der Gefahr entfernen. Nun bog sie wieder um eine Ecke und folgte einer anderen Straße. Vage überlegte sie, was gerade in ihrem Zimmer geschehen mochte. Nebelschwaden hingen über dem Kopfsteinpflaster und dämpften das Licht der Straßenlaternen. Plötzlich hatte sie den Eindruck, alle Welt hätte sich vor ihr zurückgezogen und sie allein gelassen, eine einsame Gestalt, die ziellos auf einem leeren Planeten umherrannte.

Viel zu laut schlugen ihre Stiefel auf das nasse Pflaster und unterstrichen die unheimliche Atmosphäre der düsteren Umgebung. Juliettes keuchende Atemzüge durchbrachen das gespenstische Schweigen. Sie umrundete eine weitere Ecke und rannte an einem halben Häuserblock vorbei. Dann blieb sie vor dem Schaufenster eines Ladens stehen, in dem Harris-Tweed verkauft wurde.

Sie bückte sich, um tief durchzuatmen. Heftige Schwindelgefühle zwangen sie in die Knie, die auf dem harten Gehsteig landeten. Doch sie spürte es kaum, ihre Beine waren fast gefühllos geworden.

Da erkannte sie, dass sie in ernsthaften Schwierigkeiten steckte. Wohin sie gehen oder was sie tun sollte, wusste sie nicht, und ohnehin würde sie es nicht schaffen, wieder aufzustehen. Ihr Handy steckte nicht in der Jeanstasche, und sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Hinter allen Fenstern herrschte Dunkelheit.

Sie war ganz allein, niemand würde ihr helfen. Der Nebel ringsum verdichtete sich, und ihr Blickfeld verengte sich. Bald würde sie das Bewusstsein verlieren, auf diesem Gehsteig, auf dem sich keine Menschenseele zeigte.