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Daniel schwitzte und spürte, wie sich die Feuchtigkeit in seinem Nacken sammelte und den Hemdkragen durchnässte. Schon viel zu lange war er unsichtbar. Er musste dringend etwas essen und schlafen. Er hatte ein ideales Versteck für Juliette und sich selbst gefunden, und jetzt brauchte er nur noch das Hotel zu inspizieren. Doch die Anstrengung brachte ihn beinahe um.

Trotzdem zwang er sich, den brennenden Schmerz in seinen Muskeln zu ignorieren und nur an das Ziel seiner Mühe zu denken.

Gerade betrat der Sternenengel das Hotelzimmer am Ende des Flurs. Das Gebäude war sehr alt und der Zimmerschlüssel eine Antiquität, mindestens hundert Jahre alt. Mit dieser Situation war Juliette offenbar nicht glücklich. Aber sie war zu müde, um sich darüber zu ärgern, sofern ihre langsamen Bewegungen und die resignierende Miene diese Schlussfolgerung gestatteten.

Daniel beobachtete, wie sie die Tür hinter sich schloss. Immer noch unsichtbar, eilte er den Korridor entlang und sah sich im Treppenhaus um. Nun dauerte die ganze Prozedur schon viel zu lange. Juliette war zwar endlich allein, aber er fühlte sich zu schwach, um sie zu überwältigen, denn die Sternenengel waren keine hilflosen Geschöpfe. Mit aller Kraft würde sie sich gegen ihn wehren. Er brauchte nur ein paar Stunden Schlaf. Mehr nicht. Zwei oder drei. Danach würde er den schwierigen Teil seines verfluchten Plans durchführen. Inzwischen war das Pub im Erdgeschoss rappelvoll, und nach dem Lärm zu schließen, würde sich bis zwei oder drei Uhr morgens nichts daran ändern. Bis dahin würde Daniel genug Zeit für einen erholsamen Schlaf finden, und er musste kein Publikum fürchten, wenn er eine bewusstlose Frau die Personaltreppe hinab und in die Nacht hinaustrug. Um diese Zeit würden die wenigen Leute auf der Straße zu betrunken sein, um bei seinem Anblick irgendwas Ungewöhnliches zu vermuten. Und wenn doch, würde er sie eben einfach töten.

 

Es war spät geworden. Im März ging die Sonne schon zeitig unter. Gabriel betrachtete den nur noch schwach erleuchteten Himmel und überlegte, ob er eine unbeobachtete Tür finden, ein Portal zum Erzengelhaus öffnen und von dort in sein Cottage auf Harris gelangen sollte. Das luxuriöse Herrenhaus war ein praktisches Transportsystem. Um es zu benutzen, brauchten die vier Brüder nur eine Tür, irgendeine, und schon konnten sie zu einem x-beliebigen Ziel reisen, wo ebenfalls eine Tür existierte.

Die Geschäfte in Glasgow hatte er glücklicherweise erledigt. Finanzielle Transaktionen ermüdeten sogar einen Erzengel. Nun fühlte er sich sonderbar. In der Luft lag ein seltsames Surren, als stünde alles ringsum unter Strom, und das machte ihn nervös. Jetzt sehnte er sich nach seinem Kamin, einem Bier und dem Blick auf die Küste von seinem Wohnzimmer aus.

Aber in seinem Herzen war Gabriel ein Schotte, und wenn die lebhafte Menschenmenge ein aufschlussreicher Hinweis war, musste das Festival Feis nan Coisir in vollem Gange sein. Bald würde der Alkohol in Strömen fließen. Und er hatte noch nie eine Gelegenheit versäumt, gute Musik und ein noch besseres Bier zu genießen. So etwas konnte den schlimmsten Stress aus dem Körper eines Mannes treiben.

Direkt gegenüber der Fährstation lag das Caorann Hotel, dessen Pub mehr Gäste als die Zimmer anlockte. Wenn ein Festival stattfand, war die Kneipe stets überfüllt. Dort würde er auch Einheimische antreffen, die er kannte.

Die Hände in den Taschen seiner Lederjacke, überquerte er die Straße. Als er das Pub betrat, gewann er sofort mehrere vertraute Eindrücke. Zu warm, zu voll, in der Ecke ein knisterndes Kaminfeuer. Nur mit knapper Not übertönte die Musik das Stimmengewirr und das alkoholisierte Gelächter. Die Band, die ebenfalls schon ziemlich betrunken aussah, spielte auf einem Podest an der Wand. Unter den Holzrauch mischten sich die Gerüche von Schweiß, Parfüm, verschüttetem Ale und Pommes frites.

Grinsend ließ Gabe die Tür hinter sich zufallen. Genau so gefiel es ihm. Während er kurz stehen blieb, um sich an das schwache Licht und das Chaos zu gewöhnen, rief jemand seinen Namen.

»He, Black!« Sein Freund Stuart zwängte sich durch das Gewühle zu ihm. »Da bist du endlich wieder, alter Junge!«

»Aye.« Gabriel ging ihm lächelnd entgegen. »Lass dich zu einem Drink einladen.«

Stuart nickte und schlug ihm auf die Schulter. Niemals würde er ein kostenloses Ale ablehnen, auch wenn er noch ein halb volles Glas in der rechten Hand hielt.

Mühsam bahnten sie sich einen Weg zur Bar. Der Mann und die Frau hinter der Theke erkannten Gabriel sofort.

»Gabe! Dè a tha thu ris?«, fragte der Mann auf Gälisch. Ohne Zeit zu vergeuden, füllte er ein großes Glas und hielt es Gabriel hin, der es dankend entgegennahm.

»Fada ›nurcomain‹ Will«, erwiderte er, ebenfalls auf Gälisch. »Freut mich, dich zu sehen.«

Der Barkeeper Will war auch der Besitzer des Hotels und die Frau neben ihm seine Schwester. Freundlich zwinkerte sie Gabriel zu, und er nickte, bevor er sein Glas zur Hälfte leerte. Einem Erzengel fiel es nicht leicht, sich zu betrinken. Aber er hatte jahrelange Übung darin.

»Was machst du hier, Burns?«, wandte er sich an seinen alten Freund. Stuarts Fischerboot war an der Küste von Harris vertäut und sein Cottage nicht weit von Gabriels Inseldomizil entfernt.

»Das Gleiche wie du, Black.« In einem Zug trank Stuart sein Glas leer und knallte es so kraftvoll auf die Theke, dass man es im ganzen Pub gehört hätte, wäre der Raum nicht von ohrenbetäubendem Lärm erfüllt gewesen. »Jetzt gib mir das Ale aus, das du mir versprochen hast.«

Lachend warf Gabriel ein paart Geldscheine auf die Bar. Mit frischen Gläsern in den Händen gingen sie zu einem Tisch am Kamin, den einige Gäste verlassen hatten, um zu tanzen oder der Hitze des Feuers zu entrinnen, nahmen Platz und schauten sich um.

»Vor etwa zwanzig Minuten kam ein Engel hier rein, Black«, begann Stuart und sicherte sich damit die Aufmerksamkeit seines Freundes. »Hättest du die gesehen, würdest du sofort Nüsse in die Flammen werfen. Das süße Mädchen hatte alles, was du von deiner ›Seelengefährtin‹ erwartest, die du dauernd beschreibst.« Spitzbübisch grinste er, und seine Augen funkelten, als wäre er fünfzig Jahre jünger.

»Ach ja?« Gabriel hob die Brauen. »Und warum hast du sie nicht zu einem Ale eingeladen?«

Stuarts Gelächter klang wie eine kratzende Schreibfeder auf Pergament. »Weil ihr die Atmosphäre hier nicht gefiel«, erklärte er und schüttelte den Kopf. »Sie sprach nur kurz mit Will. Juliette, so hat sie sich vorgestellt. Dann ist sie sofort nach oben gegangen.«

Nachdenklich musterte Gabriel den Türbogen, der zur Treppe führte. Juliette, das klang wie Regen in der Wüste. Wie ein warmes Feuer in einer bitterkalten Winternacht.

Als sein Blick die menschenleeren Stufen hinaufschweifte, verdunkelten sich seine Augen. Mit einer Hand hob er sein leeres Glas, mit der anderen winkte er einer Kellnerin.

 

Stöhnend wälzte sie sich auf der unebenen harten Matratze und starrte die Zimmerdecke an. Zweifellos hatten die papierdünnen Wände, von einer zehn Jahre alten Tapete kaum wohnlicher gestaltet, schon bessere Tage gesehen. Eine von den drei Lampen funktionierte nicht, und eine knisterte seltsam, wenn man sie einschaltete. Es gab keinen Fernseher, natürlich kein Internet. Und das einzige Bad im ersten Stock mussten sich die Bewohner aller sechs Zimmer teilen. In der Duschkabine wucherten Schimmelpilze.

Wie Juliette vermutete, übernachtete sie zum ersten Mal in ihrem Leben in einem Hotel mit nur einem halben Stern.

Sie vermisste Nessie. Ohne den Plüschelefanten fühlten sich ihre Arme leer an.

Frustriert schleuderte sie die Decke beiseite und setzte sich auf. Aus dem Pub drang unbeschreiblicher Lärm in ihr Zimmer. Die Musik der Band ließ sich kaum vom grölenden Gesang der volltrunkenen Gäste unterscheiden, unterlegt von gellendem Gelächter. Das alles hörte Juliette so deutlich, als würde die Party im Flur vor ihrer Tür gefeiert.

Mit gerunzelter Stirn dachte sie an das ruhige, friedliche Cottage, für das sie bezahlt hatte und das jetzt unbewohnt irgendwo an der Küste von Luskentyre auf sie wartete. Weil sie nicht zu Abend gegessen hatte, knurrte ihr Magen. In der Hitze des überfüllten Pubs hatte sie den Appetit verloren.

Nun bereute sie, dass sie nicht wenigstens ein Brötchen verspeist hatte. Oder Pommes frites. Oder Chips. Was auch immer. Seufzend schwang sie die Beine über den Bettrand.

Da fiel ihr etwas ein. Eigentlich waren die Gespräche da unten, die Traditionen und die Kultur genau das, was sie für ihre ethnografische Doktorarbeit brauchte. Und es würde vielleicht auch als der Kitsch durchgehen, den sich Samuel Lambent wünschte.

Aber sie war so müde. Sie ergriff ihre Taucheruhr, drückte die LCD-Lichttaste und berechnete die Ortszeit. Zwei Uhr morgens! Mit ihrem Jetlag war das noch furchtbarer als ohnehin schon.

Mit einer Hand, die vor Hunger und Erschöpfung ein bisschen zitterte, fuhr sie sich durchs Haar und entwirrte es. Das tat sie immer, wenn sie gestresst war. Eine alte Gewohnheit.

Nach ein paar Minuten und einer besonders schrillen Lachsalve im Erdgeschoss ächzte Juliette dramatisch und stand auf. »Wenn du sie nicht schlagen kannst, verbünde dich mit ihnen«, murmelte sie und beschloss, das einzige neue Outfit anzuziehen, das sie noch nicht getragen hatte. Warum, wusste sie nicht. Wahrscheinlich hatte sie es für eine besondere Gelegenheit schonen wollen. Es war das hübscheste – und das einzige, das sie noch besaß, bevor sie in einen Waschsalon gehen musste.

Passend zu diesem Outfit hatte sie Lederstiefel gekauft. So eine Extravaganz leistete sie sich sonst nie. Aber sie hatte sich etwas gönnen wollen, um den Vertrag mit Lambent zu feiern – und zum Trost, nachdem sie Nessie und ihr restliches Gepäck verloren hatte.

Sie schlüpfte in die hautengen Jeans. Nach einem kurzen Blick auf die schulterfreie Bluse verzichtete sie auf einen BH. Was soll’s? Da unten fand eine Party statt. Kaum jemand würde sie bemerken. Da sie so klein war, würde sie in der Menge verschwinden.

Wenn sie sich bewegte, flatterte der schimmernde Stoff und changierte zwischen Pfirsichrosa und Grau. Sehr schmeichelhaft, stellte sie fest, denn der große Ausschnitt lenkte den Blick auf ihren schlanken Hals und die gebräunte Haut, die ihre haselnussbraunen Augen noch betonte.

Sie setzte sich auf die Bettkante und zog die kniehohen Stiefel an. Nachdem sie aufgestanden war, wurde sie von seltsamen Schwindelgefühlen erfasst. Plötzlich erschien ihr der Boden des Hotelzimmers weit entfernt. Die Plateausohlen machten sie um mindestens zehn Zentimeter größer. Blinzelnd trat sie vor den Spiegel an der Schrankwand.

»Wow«, wisperte sie. In den Jeans und Stiefeln sahen ihre Beine lang aus. Unwillkürlich lächelte sie. »Oh, das liebe ich!« Dann schüttelte sie den Kopf über ihre eigene Dummheit. Warum um alles in der Welt kümmerte sie sich um ihr Aussehen? Da unten würde sie in einer möglichst ruhigen Ecke sitzen, unauffällig beobachten, wie sich die betrunkenen Einheimischen lächerlich machten, und hoffen, sie würde sich am nächsten Morgen noch an alles erinnern. Sie selbst würde natürlich keinen Spaß haben.

Aufmerksam betrachtete Juliette ihr Spiegelbild und sah eine eigenartige Veränderung in ihrem Blick. Tatsächlich, Sophie hatte recht. Wenn ihre Augen sich grün färbten, wirkten sie traurig.

»Verdammt«, sagte sie und straffte ihren Rücken, nahm die Schultern nach hinten und warf die langen Locken zurück. Dann schenkte sie ihrem Spiegelbild ein aufmunterndes Lächeln. »Vielleicht genehmige ich mir wenigstens einen Drink.«

Sie nahm den antiquierten Schlüssel von der Kredenz neben der Tür und schloss hinter sich ab. Am Ende des Flurs warteten ein paar Frauen, um die Toilette für die Hotelgäste zu benutzen. Beinahe hätte Juliette die Augen verdreht. Zum Glück musste sie nicht pinkeln. Einfach grausam. Verdiente der Hotelbesitzer mit dem Verkauf seines Fusels so wenig, dass ihm das Geld für mehr Toiletten fehlte?

Das erwähne ich in meiner Dissertation, beschloss sie missgelaunt, zwang sich, die Frauen anzulächeln, und stieg die mit einem Teppich belegten Stufen hinab. Schon am Fuß der Treppe war der Lärm noch lauter. Juliette musste zwei Frauen ausweichen, die offenbar die Toilette im ersten Stock ansteuerten.

Im Pub angekommen, blieb sie nervös mit dem Rücken zur Wand stehen und sah sich um. Aus irgendeinem Grund pochte ihr Herz viel zu schnell. Vielleicht war sie müde oder hungrig oder beides. Jedenfalls geriet sie fast in Panik.

So viele Leute, so viele Gespräche, die sie auf einmal hörte. In ihrer Nähe schwatzte ein Paar so schnell, dass sie kaum ein Wort verstand. Die Luft stank nach Alkohol und Parfüm und dem Rauch des Holzfeuers im offenen Kamin.

Mit Unbehagen beobachtete sie die Flammen, die hell emporloderten. Ein so großes Feuer missfiel ihr. Aber es passte zur Atmosphäre im Pub, zur übermütigen Stimmung. Dicht vor ihr bewegten sich Leute und versperrten ihr immer wieder die Sicht. Dann sprang ihr irgendwas ins Auge, und sie reckte den Hals, um herauszufinden, was es sein mochte.

Das Profil eines Mannes. Faszinierend. So groß sah er aus. Sein schwarzes Haar wirkte dicht und seidig und lockte sich, wo es auf den aufgeknöpften Kragen seines schwarzen Hemds traf. Unglaublich breite Schultern. Sie sah, wie er ein Bierglas an die Lippen hob. Ein Mund, wie zum Küssen geschaffen. Unter dem hochgekrempelten Ärmel seines Hemds spannten sich seine Muskeln.

Plötzlich wurde Juliettes Kehle staubtrocken. Sie schluckte und blinzelte und schaute rasch zur Seite, als jemand ihr die Sicht nahm.

Aber dann wurde ihr Blick erneut von diesem Profil angezogen, und sie starrte es unverwandt an, als hinge ihr Leben davon ab. Er saß neben einem alten Mann, der ihm offenbar etwas Komisches erzählte, und entblößte lachend schneeweiße Zähne.

Wieder schluckte sie und hustete beinahe. Seine Augen, dachte sie, ich muss seine Augen sehen!

Warum?, flüsterte eine Stimme in ihrem Innern, während sich Juliette geistesabwesend mit der Zunge über die Lippen fuhr. Warum interessieren dich seine Augen? Doch sie ignorierte die Frage und musterte ihn unentwegt.

Nun hörte er auf zu lachen und erstarrte mitten in der Bewegung, als er das Glas wieder heben wollte, straffte die Schultern und stand dann geschmeidig auf.

So groß …

Er drehte sich zu ihr um. Und sein Blick, wie Platin und Silber, drohte sie quer durch den ganzen Raum zu durchbohren. Stocksteif stand er da, eine beachtliche Gestalt in Schwarz und Grau. Seine Miene war unergründlich, sah man von dem Anflug eines Schocks ab, den seine markanten Züge widerspiegelten.

Unfähig, auch nur einen Finger zu rühren, lehnte sie an der Wand, und das Dröhnen in ihren Ohren hatte nichts mit dem Lärm im Pub zu tun. Ihr wurde schwindlig, ihre Haut prickelte.

Er ist es, dachte sie, der Engel. Diesen Blick habe ich in meinem Traum gesehen.

Ohne sie aus den Augen zu lassen, stellte er sein Bierglas auf den Tisch. Sie versuchte sich zu bewegen. Sie bemühte sich wirklich. Aber sie schaffte es nicht, während er auf sie zukam. Die Gästeschar schien sich zu teilen und ihm Platz zu machen. In seinen Schritten erkannte Juliette eine fast übermenschliche Anmut, aber auch zielstrebige Entschlossenheit. Sekundenlang fragte sie sich, ob sie immer noch oben im Bett lag und träumte.

Dann stand er vor ihr. Beinahe schnappte sie nach Luft.

Draußen braute sich ein Gewitter zusammen, Regen prasselte gegen die Fensterscheiben, meilenweit entfernte Blitze beleuchteten die Wolken.

»Das glaube ich nicht.« Trotz des Lärms ringsum hörte sie sein Flüstern. Die Menschenmenge konnte seine Ausstrahlung nicht beeinflussen. Langsam glitt sein Blick über Juliettes Gesicht, und sie beobachtete, wie er sich alles an ihr einzuprägen schien, vom Kopf bis zu den Stiefelspitzen. Mit jeder Sekunde sah sie seine Verwirrung wachsen. »Du bist es.«

Was sollte sie dazu sagen?

Aber eine Antwort war gar nicht nötig, denn er trat vor, stützte seine linke Hand gegen die Wand und schlang den rechten Arm um ihre Taille. Hastig holte sie Atem, als würde sie im nächsten Moment ins Meer tauchen, da wurde sie auch schon hochgehoben, an seinen harten Körper gepresst, und ein heißer Kuss verschloss ihr den Mund.

Irgendwo in der Nähe schlug ein Blitz ein, gefolgt von einem Donner, der den Lärm im Pub effektvoll übertönte.

In der Hitze des Kusses entschwand die Realität, eine betörende Magie jagte das Blut schneller durch Juliettes Adern und krümmte ihre Zehen in den Stiefeln. Ihre Hände fanden den Weg zu seiner Brust, spürten kraftvolle Herzschläge, und sie glaubte dahinzuschmelzen.

Bald hörte die Zeit auf zu existieren. Beinahe fühlte Juliette, wie die Sekunden versickerten und starben. Alle Geräusche verstummten, die Welt verkleinerte sich, bis nur mehr die Stelle übrig blieb, an der sie sich befand. Und der Fremde, der sie küsste, als wäre sie seine Frau, die er jahrtausendelang nicht gesehen hatte.

Ein Fremder …

Wieder schlug ein Blitz irgendwo ein, und die Band hörte auf zu spielen.

Die Realität schob sich neuerlich in ihr Bewusstsein. Sie hörte jemanden hilflos und sehnsüchtig stöhnen, während sich die Hitze, die ihren Körper überflutet hatte, zwischen ihren Beinen sammelte. Und da merkte Juliette, dass sie es war, die stöhnte.

Er ist ein Fremder. Aber er schmeckt so gut, dachte sie konfus. Wie Lakritze und Minze und sehr dunkles Ale. Sie war verloren, in einem Labyrinth der Lust gefangen, ohne jede Hoffnung, den Ausgang zu finden. Noch nie war sie so geküsst worden. Kein Mann vermochte so zu küssen. Das war der Stoff, aus dem ihre Träume waren.

Was tue ich hier?

Draußen tobte das Unwetter, der Wind rüttelte an den Fensterscheiben.

O Gott, so gut fühlt er sich an.

Jetzt schlug die Realität Alarm in Juliettes Gehirn. Aus sämtlichen Richtungen stürmte die Welt auf sie ein. Zuerst kehrten die Geräusche zurück – gedämpfte Musik, rollender Donner, nervöses Gelächter, angespannte Gespräche, die langsam lockerer wurden.

Juliette blinzelte verstört. Und da erkannte sie, wo sie war – in der Umarmung eines Mannes. Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen seine Brust, überrumpelte ihn, und er wich zurück. Nur ein bisschen. Er beendete den Kuss, stellte sie auf die Füße, aber er umfing sie immer noch und starrte auf sie herab.

Sofort vermisste sie seine warmen Lippen. Die Intensität des unglaublichen, flüssigen Quecksilbers in seinen Augen weckte in ihr das Gefühl, sie wäre noch kleiner geworden. In seinem Arm musste sie geradezu winzig wirken. Und sie wusste verdammt gut: Hätte sie ihn mit ihrem abrupten Stoß nicht überrascht, würde er sie immer noch an seine Brust pressen, die einer Felswand glich.

»Was zum Teufel tun Sie?«, fauchte sie mit bebenden, von seinem Kuss geschwollenen Lippen. Draußen schlug wieder ein Blitz ein und entlockte einer Frau in ihrer Nähe ein angstvolles Jammern. Das ignorierte Juliette, weil ihr nichts anderes übrig blieb.

Sein Kuss. Ihr Blick schweifte zu seinem Mund. Heiliger Himmel, sein Kuss!

»Was ich tue?«, fragte er mit perfektem schottischem Akzent. »Etwas, worauf ich jahrhundertelang gewartet habe.«

Beim Klang seiner tiefen Stimme drohte sich der kleine Teil ihres Ichs zu verflüssigen, den die leidenschaftliche Umarmung noch nicht geschmolzen hatte. Aber ihr restlicher Verstand genügte, um zu bemerken, wie unsinnig seine Worte waren. Offensichtlich war er betrunken. Das erklärte den Ale-Geschmack auf seiner Zunge. Natürlich, er war beschwipst, und er hatte ihre Verwirrung auf üble Weise ausgenutzt.

»Lassen Sie mich los«, befahl sie in entschiedenem Ton. »Und treten Sie zurück.«

Sein schurkisches Lächeln nahm ihr den Atem. O Gott, wie attraktiv er ist … Noch ein Blitz erhellte das Dunkel vor den Fenstern des Pubs, ein Donnerschlag ließ die Lampen flackern.

»Aye, Babe, und wenn ich’s nicht tue?«

Dann sterbe ich …

»Bitte«, sagte sie, etwas zu zögerlich für ihren eigenen Geschmack. Auf die harte Tour hatte sie’s erfolglos versucht. Vielleicht war ein höflicher Appell hilfreicher.

Doch sie hatte kein Glück. Reglos blieb er stehen, und das Silber in seinen Augen verdunkelte sich, als müsste es Stürme verbergen. »Willst du das wirklich, Liebes?«, fragte er leise und umfasste ihre Taille noch fester. Dann glitt sein Daumen unter ihre Bluse und liebkoste ihre nackte Haut.

Juliette zitterte. Zuerst spürte sie es in ihren Beinen. Ihre Knie wurden weich. Lächerlich, dachte sie, das darf er mir nicht antun. »Lassen Sie mich los, habe ich gesagt!« So kraftvoll wie möglich ballte sie eine Hand zur Faust. Wenn der Stoß vorhin nicht genügt hatte – vielleicht würde ein Kinnhaken den gewünschten Zweck erfüllen.

In diesem Moment blitzte es wieder, die Lampen im Pub flackerten und erloschen. Der Kopf des Mannes zuckte zurück, sein Griff um Juliettes Taille lockerte sich.

Noch ein Stoß gegen seine Marmorbrust verschaffte ihr etwas mehr Bewegungsfreiheit. Sie schob sich an ihm vorbei und rannte zur Treppe. In der Finsternis sah sie nur die Umrisse der Stufen.

Okay, das ist gerade noch mal gut gegangen. Sie nahm immer zwei Stufen auf einmal. Als sie den ersten Stock erreichte, war ein Notgenerator eingeschaltet worden, das Licht ging an, und sie stürmte den Korridor entlang. Erst vor ihrer Tür blieb sie stehen und tastete nach dem Schlüssel in ihrer Jeanstasche. Noch nie hatte sie sich so viel Angst einjagen lassen wie gerade eben.

»Jesus Christus, Jules«, murmelte sie. Ihre Stimme zitterte so heftig wie ihre Hand, in der sie einen brennenden Schmerz spürte. Hatte sie sich bei dem Kinnhaken einen Knöchel gebrochen? Verzweifelt versuchte sie den Schlüssel ins Schloss zu stecken, ohne den Anstrich daneben wegzuschaben. »Großartig hast du das gemacht.«

In den alten Wänden knisterten die elektrischen Leitungen, dann wurde es wieder stockdunkel, als Juliette endlich die Tür aufsperrte und über die Schwelle stolperte.