18

Mit seiner Hilfe schwang sie ein Bein über das Motorrad. »So ist’s gut, Baby.« Rittlings saß sie auf dem hinteren Sitz. Weil der abgeschrägt war, rutschte sie nach vorn und berührte Gabriels Rücken mit ihrem Oberkörper.

Sofort wurde ihr heiß. Wie kraftvoll er sich anfühlte, und sein Nacken über dem Lederkragen erschien ihr so verlockend, dass sie ihn fast geküsst hätte. Zum Glück sah er ihr Erröten nicht.

Auch das Motorrad weckte seltsame erotische Gefühle, vibrierte zwischen Juliettes Schenkeln und erregte, in Kombination mit dem Mann, der vor ihr saß, ihre Sinne viel zu heftig.

»Alles okay?«, fragte er über seine Schulter.

»Ja«, antwortete sie mit belegter Stimme.

»Gut. Halt dich fest.«

Verwirrt blinzelte sie. Wenn sie seine Taille umschlang und ihn noch intensiver spürte, was würde mit ihr geschehen? In diesem Moment traute sie sich selbst nicht.

Gabriel lachte leise und drehte sich halb um. Mit seiner linken Hand griff er nach ihrem linken Arm und zog ihn nach vorn. Erfolglos versuchte sie sich loszureißen. »O Gott«, murmelte sie, als er ihre Finger auf seinen muskulösen Bauch drückte.

Nun spähte er wieder über seine Schulter, »Stimmt was nicht, Liebes?« Das boshafte Funkeln in seinen Augen verriet ihr, dass er genau wusste, was er ihr antat. Das hinderte ihn nicht daran, auch ihren rechten Arm um seine Körpermitte zu legen. Jetzt presste er ihre beiden Hände an sich. »Lass mich nicht los, verstanden? Was immer passiert, halt dich fest!« Dann wandte er sich ab und trat aufs Gaspedal. Die Räder der Triumph schlitterten über den Kies, und Gabriel lenkte sie zur Straße. Instinktiv klammerte Juliette sich fester an ihn, als die Räder auf dem harten Asphalt aufschlugen.

Aber dann raste die Triumph nur so dahin, Gabriel manövrierte sie geschickt um die Kurven, und Juliette begann sich zu entspannen.

Die schottische Luft war sauber und kalt, der Himmel relativ klar. Beinahe glaubte Juliette, ein paar Zentimeter über dem Boden zu fliegen. Es war ein befreiendes Gefühl, wie sie es zuletzt in ihrer Kindheit genossen hatte, wenn sie mühsam einen Hang hinaufgeradelt war, um dann hinabzusausen und den Wind in ihren Locken zu spüren.

Auch jetzt zerzauste der Wind ihr Haar und verhedderte es hoffnungslos. Doch das störte sie nicht. Ja, bald lächelte sie sogar. Das stetige Dröhnen des Motorrads verschluckte alle anderen Geräusche. Von ihrer Fliegerjacke und den Stiefeln angenehm gewärmt, schmiegte sie sich an Gabriel, und sein Körper erschien ihr wie ein Schutzschild.

In seiner Nähe fühlte sie sich sicher und geborgen. Nach einer Weile schloss sie die Augen. Als sie die Lider wieder öffnete, wusste sie nicht, wie viel Zeit verstrichen war. Jetzt kroch dichter Nebel über das Moor, ließ die Hügel wie gigantische Bestien emporragen, rollte wie eine Lawine die Hänge herab und hüllte die Landschaft gleichsam in Watte. Schließlich erreichte er die Straße, und Gabriel musste das Tempo drosseln.

Sein Timing war perfekt. Bevor der Nebel die Sicht zu stark behinderte, bog er von der Straße ab, in eine bekieste Zufahrt, und parkte das Motorrad vor einem hölzernen Steg. Er schaltete den Motor aus, dann half er Juliette abzusteigen. Zunächst fühlte sie sich etwas wackelig auf den Beinen, der Boden schwankte unter ihren Füßen. Aber das ging schnell vorbei, und sie sah sich um.

Nur wenige Autos parkten in der Zufahrt. Jenseits des Stegs lag ein kleiner Hafen. Ein paar Trawler schaukelten auf dem Wasser, das Knarzen ihre Vertäuung durchdrang den Nebel, als würden sie sich in ihrer eigenen Sprache unterhalten. Und so waren die Boote kaum sichtbar, aber gut zu hören. Da und dort erhob sich ein Mast aus den weißen Schwaden, in der Ferne kreischten Möwen.

Am Ende der Zufahrt stand ein kleines Holzhaus. Lächelnd ergriff Gabriel Juliettes Hand und führte sie zum Eingang. Unter ihren Schritten knirschte der Kies. Drinnen war es angenehm warm, köstliche Aromen erfüllten die Luft.

Juliette spürte, wie die Kälte aus ihren Gliedern wich, und die gemütliche Atmosphäre erschien ihr wie eine Umarmung. Auf der einen Seite des Lokals lag eine Bar mit einer Theke und Hockern, auf der anderen der Speiseraum, dessen hohe Fenster einen Blick auf das Meer boten.

Einfach perfekt, dachte Juliette. Genau der Stil, den sie bevorzugte. In einem steinernen Kamin loderte ein helles Feuer.

»Komm, Liebes.« Gabriel führte sie in den Speiseraum, wo sie keinen einzigen Gast antrafen.

Erstaunt sah sie sich um. Wo sind sie denn alle?

Auf den Tischen standen Kerzen, brannten aber nur auf einem an dem Fenster, durch das man die beste Aussicht genoss. Sets lagen auf der Tischplatte. In der Mitte dampfte eine Teekanne.

Diesen Tisch steuerte Gabriel mit Juliette an. Sie schaute durch das Fenster auf den Nebel, ohne den die Abenddämmerung das Meer und die Küste in romantisches Licht getaucht hätte. Nicht, dass der Nebel sie störte. Schon immer hatte sie neblige Tage gemocht, die den Eindruck erweckten, man würde ins Land der Träume befördert und sich, wenn die grauen Schwaden verschwanden, in einem Süßwarengeschäft oder einem ähnlichen Paradies befinden.

Aber wie viel schöner noch wäre jetzt ein Meer ohne Nebel?

»Niemand wird es merken, Liebes.«

Sie wandte sich zu Gabriel, der sie beobachtete, einen bedeutsamen Glanz in den Augen. Dann zeigte er zum Fenster. »Nur zu.«

Noch eine Ermutigung brauchte sie nicht. Natürlich wusste er Bescheid über ihre Talente, das war kein Thema mehr. Und hier waren sie allein.

Okay. Auf den dicken Nebel konzentriert, malte sie sich aus, er würde zurückweichen wie das Meer bei Ebbe. In ihrem Innern spürte sie das Anschwellen der bereits vertrauten Magie, die in einem Schwung nach außen drang. Die Kerzen flackerten.

Vor den Fenstern des Restaurants begann der Nebel zu wirbeln, dann wich er von der Küste zurück und ballte sich zu Wolken zusammen, die schließlich eine gute Meile weit draußen über dem Meer schwebten.

»Gut gemacht«, meinte Gabriel lächelnd. Voller Stolz betrachtete er die klaren Wellen.

»Wunderbar, diese Aussicht, nicht wahr?«, erklang hinter Juliette eine heisere Stimme, und Juliette drehte sich zu einem weißhaarigen Mann um. Trotz seines Alters stand er hoch aufgerichtet da. Obwohl er grinste, wirkte seine Miene geheimnisvoll. In seinen blauen Augen erkannte sie eine wache Intelligenz.

Gabriel lachte. »Stuart, ciamar a tha thu?« Er ging zu ihm, begrüßte ihn, und die beiden Männer klopften einander auf die Schultern.

Mit leichtem Unbehagen beobachtete Juliette die Szene. Hatte der Mann gesehen, wie sie den Nebel mittels ihrer Gedanken vertrieben hatte?

»Ah, Juliette!« Gabriel zwinkerte ihr zu. »Nur keine Angst, Burns ist der einzige Mensch auf der Welt, der unser Geheimnis kennt. Und er würde mit aller Macht kämpfen, um es zu schützen.«

Immer noch verstört, blinzelte sie, und der weißhaarige Mann nickte. »Das stimmt. Allerdings hat Gabriel mir verschwiegen, dass Sie sogar unseren schottischen Nebel auflösen können. An manchen Tagen, wenn ich fischen will, würde mir das wirklich nützen.« Sein Gelächter klang wie das Rascheln alten Pergaments. »Und jetzt genießt euer Dinner«, schlug er vor und verschwand hinter der Theke durch eine Schwingtür, die vermutlich in die Küche führte.

»Dieses Restaurant gehört ihm«, erklärte Gabriel und half ihr aus der Fliegerjacke, während sie in ihrer Verwirrung noch immer nichts zu sagen wusste. Nachdem er die Jacke über eine Stuhllehne gehängt hatte, fügte er hinzu: »Fast jeden Morgen fährt er mit seinem Fischerboot hinaus. Dieses Haus hat ihm sein Vater vererbt. Er wohnt mit seiner Frau in den hinteren Räumen.«

»Ist er dein Freund?«

»Ja, ein alter Freund.« Er rückte ihr einen Stuhl zurecht und wartete geduldig. »Als junger Bursche fiel er von einem Trawler ins Meer. Fast wäre er ertrunken. Aber ich habe ihn gerettet. Auf die Weise hat er von meinem Geheimnis erfahren, das er keiner Menschenseele je verraten hat. Seither sind wir eng befreundet.«

Juliette bezwang ihre Verblüffung, setzte sich, und er nahm ihr gegenüber Platz.

»Hat dir die Fahrt gefallen, Babe?« Er schenkte ihr eine Tasse Tee ein, und sie starrte seine starken Hände an, die breiten Schultern. Das verblassende Tageslicht, das durch die hohen Fenster hereindrang, verlieh seinem schwarzen Haar einen bläulichen Schimmer.

Sie schluckte und nickte.

»Bist du hungrig?«, fragte er.

Wieder nickte sie. Auf dem Motorrad hatte ihr der kalte Wind ins Gesicht geweht, der Sieg über den Nebel hatte an ihren Kräften gezehrt, und jetzt verspürte sie tatsächlich einen wachsenden Appetit.

»Gut.« Er schaute zur Schwingtür. Im selben Moment öffnete sie sich. Einige Kellner eilten aus der Küche, alle im schwarzen Frack und mit weißen Handschuhen.

Geschickt trugen sie dampfende Schüsseln, Saucieren und Servierplatten auf, ein freundliches Lächeln auf den Gesichtern, die Stuarts Züge zeigten. Offenbar seine Söhne, dachte Juliette. Das Essen sah verlockend aus, duftete köstlich und erinnerte sie an Thanksgiving. O Gott, meine Lieblingsspeise! Sie hatte Fisch erwartet, eventuell Hummer. Aber dies war eine unglaubliche Überraschung. Woher hatte Gabriel gewusst, dass sie für gebratenen Truthahn schwärmte?

Vielleicht liest er meine Gedanken. Sein Bruder ist immerhin ein Vampir.

Auf dem Tisch stand eine Mahlzeit für mindestens zehn Personen. Juliette und Gabriel, die einzigen Gäste im Lokal, würden das alles niemals essen können.

Als alle Speisen perfekt arrangiert waren, zogen sich die Kellner in die Küche zurück. Juliette schaute Gabriel an, der über das ganze Gesicht strahlte. »Wer hat das alles gekocht?«, fragte sie atemlos und immer noch verwirrt.

»Stuart und seine Gattin, eine wunderbare Frau. Sogar Könige würden ihre Kochkunst schätzen.«

»Oder Engel«, murmelte sie und musterte die verschwenderische kulinarische Fülle.

»Liebes, dein Mund steht sperrangelweit offen.« Grinsend tauchte er einen Bissen Sauerteigbrot in eine Sauce und steckte ihn Juliette zwischen die Lippen.

Verlegen errötete sie, dann begann sie genüsslich zu kauen.

 

Kevin Trenton stieg aus seinem Privatjet und schritt die Gangway zur Landebahn herab. Energisch betrat er mit seinen Stiefeln den Asphalt. »Ah, du schönes Schottland!«, sagte er, wobei er den schottischen Akzent imitierte, und sah sich im Dämmerlicht um. Diesen Teil der Welt hatte er schon lange nicht mehr besucht.

Etwa hundert Meter entfernt warteten Ely, Luke und Mitchell neben einem schwarzen Geländewagen. Der blank polierte Lack des Vehikels glänzte im Licht der Scheinwerfer, die das Rollfeld beleuchteten. Jetzt nickten die Männer ihrem General zu und kamen ihm entgegen.

»Wie war der Flug, Sir?«, fragte Ely, nahm seine Sonnenbrille mit den verspiegelten Gläsern ab und enthüllte seine bernsteinfarbenen Augen.

»Ereignislos«, antwortete Kevin. Sein Blick schweifte vom Ersten seiner Erwählten zu der dichten Wolkendecke, die über dem Land hing. Über die Landebahn kratzten dünne weiße Nebelfinger und hinterließen feuchte, schimmernde schwarze Spuren. An der Seite des Anführers schauten sich auch seine Gefolgsmänner um.

»Wenigstens müssen Sie sich nicht wegen der Sonne sorgen, Sir«, meinte Ely sanft.

Lächelnd entblößte Kevin seine neuen weißen Reißzähne.

Die drei Erwählten wussten von den körperlichen Veränderungen, die sich in ihm vollzogen hatten. Im Hauptquartier hatte er sie vor den übrigen Adarianern verbergen können, da er sich meist in unterirdischen Räumen aufhielt. Und weil es eine Weile dauern mochte, bis er lernen würde, die Reißzähne einzuziehen, hatte er darauf verzichtet zu lächeln und Gespräche vermieden. Die anderen hatten angenommen, ihn würde Hamons Ermordung bedrücken, und er hatte nichts getan, um dieser Vermutung entgegenzuwirken. Damit war das Problem gelöst gewesen.

Aber im Zuge eines Telefonats mit Ely, der sich regelmäßig bei ihm gemeldet hatte, hatte Kevin diesem mitgeteilt, welche sichtbaren Konsequenzen es nach sich zog, wenn man das gesamte Blut eines Adarianers trank. Das war nötig gewesen. Dass Kevin Hamon getötet hatte, wussten Ely, Luke und Mitchell, und ihre Loyalität garantierte ihm ihr Verständnis und ihr Stillschweigen. Zumal sie die drei Erwählten waren und sich, sobald sie das Blut eines Sternenengels tranken, vermutlich ebenfalls in Vampire verwandeln würden. Doch welche Opfer sie auch bringen müssten – letzten Endes würde es sich lohnen.

Seine ursprünglichen Fähigkeiten besaß Kevin nach wie vor, zusätzlich zu Hamons Talenten. Außerdem verfügte er als Vampir über größere Kräfte, und seine Bewegungen waren schneller denn je. Bald, so nahm er an, würden sich auch noch andere seiner Fähigkeiten zur Vollkommenheit steigern. Schließlich war der Erzengel Azrael überaus mächtig und ebenfalls ein Vampir. Freudig erregt blickte der General diesen weiteren Veränderungen entgegen.

Vorerst allerdings litt er noch unter den negativen Begleiterscheinungen seines neuen Vampirdaseins. Im Jet hatten ihn fest geschlossene Jalousien vor den tödlichen Sonnenstrahlen schützen müssen, und er war gezwungen gewesen, den Großteil des Tages zu verschlafen. Tagsüber wach zu bleiben, zehrte schmerzhaft an seinen Kräften.

Zudem war er hungrig.

Einige Tage lang hatte er Zeit gehabt, sich an die neuen Bedürfnisse seines Körpers zu gewöhnen. Doch sie überraschten ihn immer noch. Mit verschiedenen Mahlzeiten hatte er seinen Hunger zu stillen versucht, ohne sie aber verdauen zu können, und ihm war jedes Mal speiübel geworden. Schließlich hatte er einfach nachgegeben und sich dem Diktat seines Körpers gefügt.

Er war auf die Jagd gegangen. Früher hatte er es stets überflüssig und ein bisschen bedrückend gefunden, Menschen zu töten. So hilflos waren sie, nicht imstande, sich zu verteidigen. Nicht einmal gegeneinander. Für Adarianer stellten sie eine erbärmliche Beute dar, armselig wie Schafe. Meist hielten sich Adarianer von den Menschen fern. Aber für einen adarianischen Vampir bedeuteten sie eine Mahlzeit. Sie zu töten war absolut notwendig. Jede Nacht musste Kevin ihr Blut trinken. Dazu zwang ihn sein Hunger.

Kevin überragte die meisten seiner Soldaten. Nur Ely konnte ihm auf Augenhöhe begegnen. Nun wandte er sich zu seinem Vize und fixierte ihn mit einem so stechenden Blick wie nie zuvor. Tapfer, wie er war, bemühte sich der Schwarze, nicht zusammenzuzucken.

»Heute Nacht gehen wir aus, Ely«, kündigte Kevin lächelnd an. »Ich bin hungrig. Und ich möchte euch allen zeigen, worauf ihr euch freuen dürft.«