12
»Sag mir, was du hörst, Mitchell.« Aufmerksam musterte Ely die Fahrgäste, die aus dem Zug stiegen.
An seiner Seite nickte der hochgewachsene Adarianer, der wie ein Italiener aussah, und begann die Gesichter ebenfalls zu studieren. Während er sich konzentrierte, funkelten Lichter in seinen dunklen Augen wie Sterne am Nachthimmel. Ely beobachtete die Veränderung. Immer wieder faszinierte ihn das Talent seines Kameraden.
Wenn Mitchell arbeitete, schwieg er, und Ely fühlte sich frustriert und nach dem ereignislosen langen Flug ermattet. Er hasste jede Art von Müßiggang. Zusammen mit Mitchell und Luke war er nach Schottland gereist, sobald die beiden ihre Fähigkeiten kombiniert hatten, um Daniel zu orten.
Dass die Vereinigung funktionierte, schockierte ihn. Bisher hatte das erstaunlicherweise noch niemand versucht. Nun eröffneten sich endlose Möglichkeiten. Man musste nur das Blut der anderen trinken.
Blut. Darauf lief immer alles hinaus.
»Nein, ich höre ihn nicht«, erklärte Mitchell. Ebenso wie Ely wandte sich ihm auch Luke zu. »Aber ich höre etwas anderes, was mich interessiert.« Er wies mit dem Kinn auf einen Wagen im vorderen Teil des Zugs, und Ely sah eine bildschöne, zierliche Frau aussteigen, etwa eins sechzig groß, schlank wie eine Tänzerin, mit makellosem, leicht gebräuntem Teint und großen, leuchtenden grünbraunen Augen. Lange, dichte Locken umwehten ihr bezauberndes Gesicht, als sie zielstrebig zwischen den Leuten hindurcheilte.
Ely war kein Narr. Natürlich gab es attraktive Menschen auf der Welt, hin und wieder sogar perfekte Schönheiten. Aber diese Frau war anders, von einer Aura umgeben, die er sofort erkannte. Zu rein, zu anziehend. Und sie nahm die Männer, die sie anstarrten, gar nicht wahr.
»Lass mich raten«, murmelte er und sah sie um die Ecke des Bahnhofsgebäudes verschwinden. Dann schaute er Mitchell an, der lässig grinste. »Daniel hat uns was verheimlicht.«
Luke lachte leise. »Zweifellos ein Sternenengel. Noch dazu ein verdammt hübscher.«
»Da wir in Schottland sind, würde ich wetten, dass diese junge Frau für Gabriel bestimmt ist.« Mitchell nahm eine Zigarettenpackung aus der Innentasche seines Trenchcoats. Jedes Mal, wenn er fremde Gedanken erforscht hatte, rauchte er anschließend oder gönnte sich einen Drink. Ely hatte ihn nach dem Grund gefragt und die lapidare Antwort erhalten: »An meiner Stelle würdest du’s auch tun.«
»Grandios, Mitchell«, meinte Ely. »Ich wäre beeindruckt, wenn du nicht soeben ihre Gedanken gelesen hättest. Konntest du ihrem Gehirn entnehmen, dass sie ein Sternenengel ist?«
Immer noch grinsend, klemmte Mitchell sich eine Zigarette zwischen die Lippen und ließ sein Feuerzeug aufflammen. »Ein wundervolles Gehirn. Offen und ehrlich.«
»Und du bist verrückt nach ihr, wie?« Ely wusste, wie wichtig Mitchell Ehrlichkeit war. Auf einen adarianischen Gedankenleser wirkte sie so erfrischend wie Wasser in der Wüste. Deshalb ahnte der Schwarze, dass sein Gefährte diesen Sternenengel für sich beanspruchen würde.
Mitchell antwortete auf die Unterstellung nicht. Aber sein Lächeln war aufschlussreich genug. »Sie fürchtet ihn«, verkündete er mit der Zigarette im Mund und steckte das Feuerzeug ein. »Jetzt will sie sich in der Toilette verkriechen, bis der Zug weiterfährt, und dann irgendwie nach Inverness gelangen.« Er nahm den Glimmstängel aus dem Mund, blies eine Rauchwolke in die Luft. Als er wieder an der Zigarette sog, strahlte er über das ganze Gesicht.
»Also ist Gabriel hier.« In Lukes hellblauen Augen glitzerte ein plötzliches Hyperinteresse. Die beiden anderen Adarianer folgten seinem Blick und entdeckten einen Mann, der aus dem Zug sprang. »Da ist er.«
Hastig wichen sie in die schattige Gasse zwischen dem Bahnhof und dem nächsten Haus zurück, und Ely klappte seinen Mantelkragen hoch. »Auch Daniel muss irgendwo in der Nähe sein. Ich spüre ihn. Leider kann er uns sehen, während er sich unsichtbar macht. Folglich wird es nicht leicht werden, ihn zu erwischen.«
»Doch, ganz einfach, wenn wir uns den Sternenengel schnappen«, erwiderte Luke. »Diese Frau wird ihn anlocken wie das Licht eine Motte.«
»Genau«, bestätigte Ely.
Lachend schnippte Mitchell seine Zigarette in den nächstbesten Abfalleimer. »Völlig klar.«
Mit zusammengekniffenen grünen Augen beobachtete Daniel, wie die drei Adarianer in die Gasse huschten. Nun könnte er ihnen folgen und sie belauschen. Doch er riskierte ohnehin sehr viel, indem er sich in ihrer Nähe aufhielt. Es war reines Glück, dass Mitchell seine Gedanken noch nicht aufgefangen hatte. Dieser Typ glich einem Dartpfeil – schwer zu sagen, wann er ins Schwarze treffen würde und wann nicht. Bislang war er ihm entgangen. Aber wenn ich mich nicht bald aus dem Staub mache, wird er mich aufspüren und meinen Plan vereiteln.
Und damit wäre Daniels Leben beendet.
Lautlos verfluchte er sein Pech, sprang auf die andere Seite des Zugs und folgte den unbenutzten Gleisen. Wie zum Teufel hatten sie ihn in Schottland geortet? Vor seiner Abreise hatte er nichts im Hauptquartier hinterlassen, was auf sein Ziel hingewiesen hätte. Und außer ihm konnte kein Adarianer hellsehen. Was zum Teufel ging da vor?
Plötzlich streifte eine Vibration seine Wange wie Sandpapier, und er blieb stehen. Black war in der Nähe. Geduckt spähte Daniel unter dem Zug hindurch. Tatsächlich. Motorradstiefel auf dem Bahnsteig. Jetzt entfernten sie sich.
»Verdammt«, flüsterte er und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Irgendwie musste er vor Gabriel an den Sternenengel herankommen. Und auch vor Ely und den anderen Adarianern. Er hatte Juliette um die Ecke des Bahnhofs laufen sehen. Vermutlich wollte sie sich in der Damentoilette verstecken. Also hatte er einen Informationsvorsprung gegenüber dem Erzengel.
Aber Mitchell konnte Gedanken lesen, und vielleicht hatte er Juliettes Gehirn dieselbe Information entnommen.
Was für ein verdammtes Durcheinander.
Hektisch versuchte Daniel einen Plan zu schmieden, schaute auf seine Uhr und dann nach vorn zum Lokführerhaus. In vier Minuten würde der Zug weiterfahren. Da fasste Daniel einen Entschluss und begann zu laufen.
Juliette wollte gerade in der Toilette verschwinden, als sie aus den Augenwinkeln etwas entdeckte. Abrupt hielt sie inne. Ein Taxi. Am Straßenrand, die Taxileuchte eingeschaltet. Kein Fahrgast. Und der Fahrer beugte sich vor und winkte ihr zu. Sie konnte ihr Glück kaum fassen, und sie würde auch keine Zeit mit Bedenken verschwenden.
Erleichtert winkte sie zurück und rannte zu dem Wagen. Der Mann stieg aus, ging auf die andere Seite und nahm ihr die Reisetasche ab. »Wohin, Miss?«
»Können Sie mich nach Inverness bringen?«
Verblüfft riss er die Augen auf. Er verstaute die Reisetasche im Kofferraum, dann verzog er leicht das Gesicht. Juliette vermutete, er wollte ein breites Grinsen unterdrücken. »Aye, aber das kostet Sie eine schöne Stange Geld.«
»Nehmen Sie Kreditkarten?«
»Aye«, sagte er und öffnete ihr die Tür zum Fond.
Bevor Juliette einstieg, warf sie einen kurzen Blick über die Schulter. Noch keine Spur von Gabriel. Während der Fahrer sich hinter das Lenkrad auf der rechten Wagenseite setzte, betastete sie ihre Kreditkarte und ein Bündel Geldscheine. Beides verwahrte sie in einer Reißverschlusstasche ihrer Kapuzenjacke. Sie wollte die Kreditkarte möglichst oft benutzen, um die Quittungen in Lambents Büro vorzuzeigen. Außerdem konnte man nie wissen, wann man Bargeld brauchen würde.
Ein paar Sekunden später entfernte sich das Taxi vom Straßenrand, und Juliette schaute durch das Rückfenster. Beinahe schnappte sie nach Luft, als sie Gabriel ins helle Sonnenlicht auf dem Gehweg vor der Damentoilette treten sah. Sein markantes Profil fesselte ihren Blick etwas zu lange, bevor sie den Kopf einzog. Instinktiv schloss sie die Augen und hielt den Atem an. Nach einer Weile richtete sie sich wieder auf und inspizierte ihre Umgebung. Das Auto folgte einer Hauptstraße. Inzwischen lag der Bahnhof weit zurück. Vorerst gerettet, atmete sie auf.
»Sind Sie geschäftlich oder zum Vergnügen hier?«, fragte der Taxifahrer.
Juliette sah sein Gesicht im Rückspiegel. Ein Mann in mittleren Jahren. Wie so viele Leute in Großbritannien besaß er eine helle Haut, was die Faltenbildung verzögerte. Seine Augen waren blau, offenbar eine weitverbreitete Farbe in Schottland.
»Beides«, antwortete sie und bemerkte ein leichtes Zittern in ihrer Stimme.
Der Mann schenkte ihr im Rückspiegel ein eigenartiges Lächeln, die blauen Augen nahmen einen intensiven Glanz an. »Und wovor verstecken Sie sich? Vor der Arbeit oder vor dem Vergnügen?«
Heiß stieg das Blut in ihre Wangen. Also ist ihm aufgefallen, dass ich mich vor Black versteckt habe. Natürlich. Wie dumm sie war. Mit ihrem Benehmen machte sie den Amerikanern wirklich keine Ehre. Sie versuchte zu lächeln, brachte aber nur eine Grimasse zustande. Vor dem Vergnügen, dachte sie, unfähig, den Kuss aus ihrer Erinnerung zu verbannen. »Weder noch«, log sie, schaute aus dem Fenster und versuchte ihr Erröten zu verbergen.
Nun schien der Taxifahrer ihr Desinteresse an einer Konversation zu bemerken, denn er verstummte. Während der restlichen Fahrt herrschte ein fast beklemmendes Schweigen im Auto. In Inverness angekommen, setzte er sie vor einer Autovermietung ab. Sie gab ihm ein großzügiges Trinkgeld und war heilfroh, als sie diesmal problemlos einen Wagen – samt Navi – mieten konnte. Beim nächsten Laden hielt sie kurz an, um eine Dose Sprite und einen Schokoriegel zu erstehen, und schon war sie wieder unterwegs.
Am späten Sonntagabend erreichte sie endlich die Parkgarage des Hotels in Glasgow. Hier hatte Lambent ein Zimmer für sie reservieren lassen. So unangenehm sie es auch fand, deswegen in seiner Schuld zu stehen – in diesem Moment war sie froh, weil ihr die womöglich langwierige Suche nach einem Dach über dem Kopf erspart blieb. Die Fahrt war anstrengend gewesen, der Tag viel zu aufregend. Jetzt brauchte sie einfach nur eine heiße Dusche, und danach wollte sie sich im Bett verkriechen und sehen, was auf dem Sci-Fi-Channel lief.
Die Frau an der Hotelrezeption, mit glänzendem braunem Haar, makellosem Teint und unergründlichen dunklen Augen, schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. Schnell und effektiv erledigte sie alle Formalitäten. Dann gab sie ihr eine Schlüsselkarte für eine der vier Suiten in der obersten Etage.
Verwirrt starrte Juliette die Karte an. »Ist das wirklich richtig? Eine Luxussuite, für mich allein?«
»Ja, Miss Anderson«, bestätigte die Frau ohne den geringsten schottischen Akzent. Ihre Stimme klang eher amerikanisch. Lily stand auf dem Namensschildchen an ihrer Weste. »Mr. Lambent hat Ihre Suite für die nächste Woche gebucht und uns eine Vorauszahlung überwiesen. Wenn Sie es wünschen, können Sie auch länger hier wohnen.«
Juliette blinzelte ungläubig. »Für eine Woche?«, wiederholte sie, um sich zu vergewissern, dass sie alles richtig verstanden hatte. In diesem Luxushotel musste eine Suite schon für eine einzige Nacht ein Vermögen kosten. Keinesfalls wollte sie die Großzügigkeit ihres Wohltäters über Gebühr beanspruchen.
»O ja.« Lily nickte ihr beruhigend zu. Noch immer erhellte ein freundliches Lächeln ihr hübsches Gesicht. »Mr. Lambent hat eine Nachricht für Sie hinterlegt«, fügte sie hinzu und nahm einen beigen Umschlag aus einem Fach hinter der Theke, den sie ihr überreichte.
Juliette drehte das Kuvert um. Auf der Vorderseite stand ihr Name in schönen Buchstaben, anscheinend mit einer Kalligrafiefeder geschrieben. Und auf der Rückseite prangte ein Wachssiegel, das schwarzgraue Engelsflügel darstellte.
»Noch etwas, Miss Anderson.« Die Frau räusperte sich, und Juliette blickte auf. »Auch Ihre Mahlzeiten gehen auf Mr. Lambents Rechnung. Bitte, bestellen Sie beim Zimmerservice, was immer Sie wünschen.« Lily übergab ihr eine Quittung und eine zweite Schlüsselkarte.
Bis Juliette sich zu bewegen vermochte, dauerte es eine Weile. Kostenlose Mahlzeiten, zusätzlich zur bezahlten Suite, wirkten wie ein weiterer Schock auf ihr müdes Gehirn.
Als würde Lily verstehen, was in ihr vorging, lächelte sie mitfühlend. »Wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie mich bitte an, ich helfe Ihnen sehr gern.«
Irgendwie gelang es Juliette, das Lächeln zu erwidern. Aber sie wusste, dass sie ihre Überraschung nicht verbergen konnte. »Danke.«
»War mir ein Vergnügen. Nehmen Sie bitte den Südlift, der bringt Sie direkt zu Ihrer Suite.«
Juliette trug ihre kleine Reisetasche zu dem Aufzug, den Lily ihr gezeigt hatte. In der Kabine musterte sie die vielen runden Fahrstuhlknöpfe und kaute an ihrer Unterlippe.
»Also, nach oben«, wisperte sie. Nachdem sie auf den Knopf für ihre Suite gedrückt hatte, leuchtete ein rotes Licht auf, und sie steckte ihre Karte in einen Schlitz. Offenbar durfte nicht jeder zum obersten Stockwerk hinauffahren. In einem so exklusiven Hotel war sie noch nie abgestiegen. Einerseits kam sie sich wie eine Hochstaplerin vor, andererseits fühlte sie sich sicher. Hier würde sich wohl kaum jemand mit einem Chloroformfläschchen in ihr Schlafzimmer schleichen.
Erstaunlich schnell gelangte der Lift nach oben, ohne unterwegs anzuhalten, und Juliette fühlte sich wie immer in modernen Aufzügen: ihr Magen schien ihr in die Stiefel zu fallen.
Die Türen glitten, von einem Klingelton begleitet, auseinander, und vor ihr lag ein elegantes Foyer mit einem Marmorboden, geschmackvollen Fresken und Spiegeln in vergoldeten Rahmen. »Wahrscheinlich ist der Lift zu hoch hinaufgefahren und im Himmel gelandet«, murmelte sie und verließ die Kabine. Ihre Stiefelabsätze hallten etwas zu laut auf dem perfekt polierten Marmorboden wider, in dem goldene und silberne Adern schimmerten.
Mit melodischem Geklingel schloss sich der Aufzug hinter ihr, und sie wandte sich der wuchtigen, vergoldeten zweiflügeligen Tür ihrer Suite zu. Das verdiene ich überhaupt nicht. Schon seit einer Woche war sie in Schottland, und sie hatte noch gar nichts für Lambents TV-Sendung recherchiert. Von den Studien für ihre Dissertation ganz zu schweigen.
In letzter Zeit war ihre Welt völlig durcheinandergeraten. Erst die Heilkräfte, dann das Gewitter. Außerdem hatte sie ihre Fähigkeit, Gegenstände mittels Telekinese zu bewegen, entdeckt. Wie war das alles möglich? Warum sie? Und warum gerade jetzt? Und dann Gabriel Black und der Fremde, der sie in Stornoway überfallen hatte. So viel auf einmal. Im Grunde war ihre mangelnde Konzentration verzeihlich. Zu schnell, zu hektisch war sie von einem Ort zum anderen gereist, stets im Chaos des jeweiligen Moments gefangen. Deshalb hatte sie unmöglich arbeiten können. Aber das wusste Lambent nicht.
Erschöpft stand sie vor der Tür und rieb sich die Augen. Mit der rechten Hand umklammerte sie immer noch das Kuvert, das Lily ihr gegeben hatte. Sie schaute es an und seufzte. Dann öffnete sie die Tür und überquerte die Schwelle.
In der Suite sah es genauso aus, wie sie es befürchtet hatte. Hochflorige weiße Teppiche bedeckten in eleganter, scheinbar willkürlicher Anordnung den Marmorboden. Auf Ledersofas lagen Decken aus Kaschmir und Seide. Es gab drei Räume. Zu jedem gehörte ein Bad, natürlich mit marmornem Whirlpool. Das Bettzeug bestand aus ägyptischer Baumwolle. Und im Kühlschrank stand eine Flasche Champagner.
Nachdem Juliette die ganze Suite besichtigt hatte, blieb sie in der Mitte des größten Raums stehen und drehte sich langsam im Kreis. Dann setzte sie sich auf eines der teuren Ledersofas, öffnete das Kuvert und las.
»Morgen. Er will mich morgen sehen«, wisperte sie und ließ sich stöhnend in die dicken Polster zurücksinken. »Alles klar.« Sie hatte gehofft, sie würde wenigstens noch einen Tag lang Zeit für Recherchen finden, um ihrem Gönner einen halbwegs brauchbaren Bericht zu liefern. Aber nein, sie wurde auch weiterhin vom Pech verfolgt.
Sie hatte nicht einmal die Chance, noch die Nacht über zu arbeiten. An Sonntagen waren in der zivilisierten Welt alle Bibliotheken geschlossen. Deshalb hasste sie Sonntage. Gewiss, im Trinity Hotel würde es eine ausgezeichnete Internetverbindung geben. Doch sie nahm an, Samuel Lambent, der unfassbar reiche und intelligente Medienmogul, wusste Online-Recherchen von empirischen Studien zu unterscheiden. »Verdammt«, fluchte sie, »es klappt aber auch nichts.«
In einem wuchtigen Ledersessel zurückgelehnt, legte Samael nachdenklich einen Finger an seine Lippen. Seine anthrazitfarbenen Augen beobachteten einen Bildschirm. »Willkommen, Juliette«, flüsterte er lächelnd.
Nervös umklammerte die Frau auf dem Bildschirm ein Kuvert, während der Lift sie die zahlreichen Hoteletagen emportrug. So hinreißend sah sie aus, so kostbar. Und jetzt befand sie sich endlich unter seinem Dach, in Reichweite, weit entfernt von allen anderen, die sie suchten. Das war zweifellos ein süßer Trost, der Lohn für die Mühe, die es ihm bereitet hatte, Juliette hierher zu locken.
Sein Lächeln wurde breiter, als er sie aus dem Lift steigen sah. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie die Tür der Suite an. Ihr naives Zögern amüsierte ihn. Zweifellos fühlte sie sich schuldig, dieser Opulenz nicht würdig.
Wie wertvoll sie war, ahnte sie nicht. Um sie für sich zu gewinnen, hatte er einen seiner Mitarbeiter zum Bahnhof von Muir of Ord geschickt, mitten unter ihre Verfolger. Der Mann hatte sie rechtzeitig entführt, bevor die anderen an sie herankamen. Ohne es zu wissen, war sie ein begehrtes Lustobjekt dieser hungrigen Haie geworden, die ihr Blut witterten.
In diesem Stadium war Juliette Anderson sehr verletzlich. Kürzlich erst hatte sie ihre Heilkräfte entdeckt. Machtvoll hatten sich inzwischen auch ihre anderen Talente gezeigt, kurz nacheinander, und all diese übernatürlichen Phänomene hatten ihr ziemlich zugesetzt. Was mit ihr geschah, und warum es geschah, verstand sie nicht.
Sie fühlte sich verwirrt, einsam und verlassen.
Samaels leises Gelächter glich dem fernen, dunklen Surren einer Harley. »Nur keine Bange, meine Kleine«, murmelte er, als er sie in der Suite verschwinden sah. »Ich bin in deiner Nähe.« Bald wird es dir viel besser gehen. Dafür werde ich schon sorgen.