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Irgendwem musste sie es erzählen, sich jemandem anvertrauen, oder … »Oder ich werde wahnsinnig«, wisperte sie frustriert und raufte sich das Haar.
Die Internetverbindung des Hotels war zusammengebrochen, also konnte sie weder mit Sophie chatten noch ihr eine E-Mail schicken. Dadurch gewann sie zwar genug Zeit, um ihre Gedanken zu ordnen und niederzuschreiben, doch das half ihr nicht. Sie musste ihre beste Freundin anrufen, und sogar das erschien ihr falsch angesichts all dessen, was sie zu sagen hatte. Wenn Soph einfach auflegte … Nein, das würde sie niemals tun. So war sie nicht. Nachdem sie in ihrem Leben einiges durchgemacht hatte, war sie recht offen, was die ›Unmöglichkeiten‹ dieser Welt anging.
Aber was Juliette zu erzählen hatte, war so unglaublich, dass Soph es vielleicht für einen Scherz halten würde. Wenn Jules ihr dabei nicht in die schönen goldbraunen Augen schaute, würde Sophie die Wahrheit nicht erkennen und wohl kaum glauben, dass ihre Freundin nicht nur Heilkräfte besaß, sondern auch das Wetter beeinflussen konnte.
Mittlerweile zweifelte Juliette nicht mehr an ihren übernatürlichen Fähigkeiten. Nach dem Blitzschlag hatte sie die Fahrt auf dem Parkplatz des nächsten Lebensmittelladens unterbrochen, um ihre Nerven zu beruhigen und Atem zu schöpfen. Sie hatte ihren Standort auf der Landkarte mit den Angaben des Navis verglichen.
An der Stelle war das Gewitter mehr oder weniger vorbei gewesen. Nur ein paar Regentropfen fielen noch auf die Windschutzscheibe, und Juliette hatte sich zu einem kleinen Experiment entschlossen. Aufmerksam hatte sie durch die Windschutzscheibe geschaut und das abziehende Unwetter beobachtet. Nahe dem Laden stand ein Haus, daneben lag ein Garten mit einem hohen Baum, an dem eine Holzschaukel hing.
Mit geschlossenen Augen hatte sie sich einen starken Wind vorgestellt, der die Schaukel bewegte. Als sie die Lider hob, hatte sie die Schaukel heftig vor und zurück schwingen sehen. Dann hatte sie eine Regenwolke heraufbeschworen. Das hatte sie an Winnie Puuhs kleine schwarze Wolke erinnert. Und Sekunden später hatte eine direkt über ihrem Auto ihre Schleusen geöffnet, das Wagendach übergossen und alle Leute, die unglücklicherweise den Laden gerade verlassen hatten.
Schließlich hatte Juliette einen letzten Test durchgeführt. Sie hatte wissen wollen, ob sie jenen gewaltigen Blitz tatsächlich erzeugt hatte. Schmerzhaft hatte sie ihre Hände im Schoß geballt und sich einen Blitz ausgemalt, der über ihr von einer Wolke zur anderen zuckte. Auf keinen Fall durfte er in die Nähe der Häuser oder Baumwipfel geraten. Das musste sie verhindern. Eine Sekunde später hatte ein ohrenbetäubender Donner gekracht, die parkenden Autos erschüttert und mehrere Alarmanlagen piepsen lassen.
Seither wusste sie es. Eindeutig. Sie war ein Freak, der das Wetter beeinflusste. Aber wenigstens konnte sie die Opfer ihrer grausigen meteorologischen Fehler heilen.
Ihre Zähne klapperten, während sie auf dem Teppich ihres Hotelzimmers auf und ab tigerte. Krampfhaft umklammerte sie ihr Handy und wusste nicht, wen sie anrufen sollte.
Und dann klingelte das kleine Telefon, vibrierte schwach in ihrem eisernen Griff. Abrupt blieb sie stehen, starrte es an und las ›Dad‹ auf dem Display.
Nach einem tiefen, besänftigenden Atemzug klappte sie das Handy auf und hielt es ans Ohr. »Hi, Dad!«, meldete sie sich und tat ihr Bestes, um ihr wachsendes Unbehagen hinter einer fröhlichen Stimme zu verbergen.
»Hi, meine Süße, wie war der Flug?«
»Lang«, erwiderte sie mühelos. Zumindest das stimmte.
»Kann ich mir denken. Ist alles gut gegangen? Hast du dein Gepäck?«
Noch eine einfache Antwort. »Nein, das ist verschwunden. Aber mir geht’s gut. Bin gerade im Hotel angekommen.«
»Sehr gut. Tut mir leid wegen deines Gepäcks. Wenn man so oft unterwegs ist wie du, muss so was ja mal passieren. Und wie ist es mit dem Jetlag?«
»Ziemlich unerfreulich.« Auch das stimmte. Vor dem Flug nach Schottland hatte sie den Jetlag nach der Australienreise eben erst überwunden. Deshalb war ihr Körper verwirrt, um es milde auszudrücken.
Ihr Vater lachte. »Kein Wunder.«
»Wie geht’s Mom?« Verzweifelt suchte sie ein Gesprächsthema, das sie von ihrem derzeitigen Problem ablenken würde.
»Die unternimmt eine Fahrradtour. Vor sechs Tagen ist sie aufgebrochen, also wird sie sicher zurück sein, bevor du Europa wieder verlässt. Wenn sie morgen irgendwo übernachtet, rufe ich sie an und sage ihr, dass es dir gut geht. Jetzt sind wir ja nicht weit von dir entfernt. Vielleicht kommst du mal zu uns?« Juliettes Eltern dozierten gerade an der Universität von Gmunden, in Österreich.
»Sehr gern, Dad.« Das würde ihr wirklich gefallen. Ihren Eltern konnte sie von ihren neuen Talenten erzählen. Sie würden ihr glauben. Oder? Schaudernd schloss sie die Augen. »Wenn ich hier alles geklärt habe, gebe ich euch Bescheid.«
»Klingt großartig. Ich hab dich lieb, meine Süße. Und nun muss ich schlafen. Bye-bye.«
»Gute Nacht, ich hab dich auch lieb.« Juliette drückte die Auflegetaste und fühlte sich seltsam verlassen. Als würde die Angst, die sie seit dem verhängnisvollen Blitz quälte, noch nicht genügen! Im Hotelzimmer herrschte eine Grabesstille, und sie fröstelte. Wahrscheinlich war sie einfach nur müde. All die Reisen zerrten an ihren Nerven, und die Aussicht auf die künftigen half ihr nicht.
Ihr Geheimnis hing über ihr wie Puuhs kleine schwarze Wolke und würde nicht verschwinden. Das wusste sie. Wobei die Fähigkeiten als solche sie nicht so sehr beunruhigten wie die Tatsache, dass sie selbige überhaupt besaß.
Warum ausgerechnet sie? Warum machten sie sich gerade jetzt bemerkbar, und was würde noch auf sie zukommen? Litt sie an einem Gehirntumor? So ähnlich wie dieser Typ in dem Science-Fiction-Roman, der seine übernatürlichen Fähigkeiten entdeckte, kurz bevor bei ihm ein Aneurysma diagnostiziert wurde und er plötzlich quakte?
Das alles wollte sie ihrem Dad anvertrauen. Wirklich. Aber leider war das unmöglich. Das Gespräch konnte sie sich unschwer vorstellen: ›Toll, dass du eine feste Anstellung kriegst, Dad. Aber weißt du, was noch viel fabelhafter ist? Ich kann Leute gesund machen. Wie Jesus!‹
Nein, nein. Nur mit Sophie würde sie darüber reden.
Nicht telefonisch. Damit musste sie bis zu ihrer Rückkehr in die Vereinigten Staaten warten.
Seufzend sank sie auf den harten Schreibüschstuhl in ihrem Hotelzimmer und hoffte, bis dahin würde sie auch ohne jemanden, dem sie alles erzählen konnte, überleben.
Gabriel hämmerte den letzten Nagel in das Brett und trat zurück, um sein Werk zu begutachten. Dabei prallte er gegen eine kleine, aber entschlossene Gestalt, die mit den Armen sein Knie umschlang und sich auf seinen Stiefel kauerte.
»Los, sofort!«, tönte ein Schrei von unten herauf. Lächelnd sah er in das strahlende Gesicht eines der Kinder, die in dem Heim wohnen sollten, sobald er es zusammen mit den anderen Männern fertiggestellt hatte. »Komm, das hast du mir versprochen!«, beharrte der Fünfjährige. Ein breites Grinsen entblößte zwei Zahnlücken. Tristan war ein kräftig gebauter flachsblonder Junge mit hellblauen Augen und sommersprossiger Nase. Ständig wuchs er aus den Kleidern heraus, die er von der Dorfgemeinde bekam – nicht, weil er zu spät damit versorgt wurde, sondern weil er so schnell in die Höhe schoss. Seine Zwillingsschwester Beth war eine Handbreit kleiner, mit dunklerem Haar und helleren Augen. In ihrem blassen Gesicht wirkten sie wie Eis, kalt und klar und älter als sie war.
Gabriel legte den Hammer auf einen Steinhaufen und stemmte seine Hände in die Hüften. »In Ordnung, Tristan«, gab er zu, »ich habe dir eine Runde versprochen, nicht wahr?«
Eifrig nickte der Junge.
»Und wo ist deine hübsche Schwester?«
»Hier!«, erklang ein Jubelschrei. Eine Sekunde später warf sich noch eine kleine Gestalt auf Gabriel, der in lautes Gelächter ausbrach. Beth setzte sich auf seinen zweiten Stiefel und umklammerte sein Bein.
»Los, sofort!«, kreischten beide Kinder.
Gabe schüttelte den Kopf und zog eine große Schau ab, während er Tristan und Beth humpelnd über den Friedhof schleppte, der an die Baustelle grenzte. Kichernd und quietschend hielten sich die Zwillinge an ihm fest. In immer schnellerem Tempo trug er sie an den Gräbern der Männer und Frauen vorbei, die er zu ihren Lebzeiten gekannt hatte, vor all den Jahren.
Natürlich wusste er, dass die anderen Männer ihn kritisch beobachteten. Für sie war er ein Neuankömmling, der Sohn Duncan Blacks, eines vertrauenswürdigen Freundes vieler älterer Bewohner der Äußeren Hebriden. Würde auch dieser Sohn zu ihnen passen?
Daran zweifelte Gabriel nicht. Immer passte er dazu. Und in diesem Moment sorgten auch sie sich nicht ernstlich darum, zumal die kleine Beth derart ansteckend kicherte, dass sie ihm ein tiefes Lachen entlockte, so mühelos, wie man Wasser aus einem Brunnen holte.
Tristan und Beth gehörten zu den Kindern, die kürzlich infolge der Wirtschaftskrise obdachlos geworden waren. Da das halb verfallene Waisenhaus von Luskentyre vieler Reparaturen bedurfte, hatte Gabriel einen Entschluss gefasst. Statt die wenigen halbwegs wertvollen Einrichtungsgegenstände zu verkaufen und mit dem Erlös die Instandsetzungsarbeiten zu finanzieren, die nur eine Übergangslösung dargestellt hätten, sollte die Gemeinde ein neues Heim bauen. Die Kosten würde er übernehmen.
Auf den Äußeren Hebriden funktionierte ein solcher Trick besser als anderswo. Die Leute auf Harris und Lewis bildeten eine fest verschworene Gemeinschaft, waren praktisch veranlagt und daran gewöhnt, einander nach Kräften zu helfen. Und so hatte niemand protestiert, als Gabriel Black, Duncans Sohn, vor ein paar Monaten mit seinen ›Ersparnissen‹ und einem Hilfsangebot auf den Inseln eingetroffen war. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatten die Einheimischen verkündet, sie würden ihn unterstützen. Das neue Kinderheim war nur eines seiner Projekte, die sich über die ganzen Hebriden erstreckten, aber für ihn das wichtigste.
Jeden Morgen segelte er mit Stuart Burns im Fischerboot von Ardvey aus los. Nachmittags ergriff er einen Hammer und Nägel und half mit, die Zukunft der Region aufzubauen, die er schon vor langer Zeit zu seiner Heimat erkoren hatte. Das tat er auch jetzt, an diesem Freitagnachmittag.
Auf Harris waren die Sonntage heilig, daran hielten sich alle. An Sonntagen blieben die Läden geschlossen, und niemand arbeitete. Diese Tage verbrachte Gabriel mit den Kindern. Beth und Tristan belegten ihn mit Beschlag. Wie Kletten klebten sie an ihm, was ihn nicht störte, denn er mochte sie sehr gern.
Längst hätte er sie adoptiert und auch die anderen Heimkinder, wenn er nur altern würde. So jedoch war es ihm unmöglich. Selbst jung bis in alle Ewigkeit, würde er diese Kinder altern und sterben sehen.
An seinem linken Bein festgeklammert, forderte Tristan jetzt seine Schwester heraus und behauptete, er würde vor ihr den nächsten Grabstein erreichen. Begeistert ging sie darauf ein, wandte den Kopf von Gabriels rechtem Knie ab und schätzte die Entfernung zum Grab der MacDonalds. Etwa zwanzig Schritte.
»Das wirst du verlieren, Tris!«, schrie sie grinsend. Auch ihr fehlten einige Zähne. »Dort bin ich vor dir!«
Gabriel ermutigte die beiden nicht, sondern stapfte einfach weiter. Natürlich behielt Beth recht, sein rechtes Bein kam zu Tristans Leidwesen zuerst bei dem Grabstein an. Aber an die Siege seiner Schwester gewöhnt, überwand der Junge seine Enttäuschung sehr schnell. Für ihre fünf Jahre war sie ziemlich schlau.
»Black!«
Gabriel drehte sich zu einem Arbeiter um, der sichtlich besorgt über den Friedhof auf ihn zueilte.
»Ab mit euch!«, flüsterte Gabe, bückte sich und tätschelte den Kindern die Schulter. »Und lauft nicht zum Sumpf, verstanden?«
Die Zwillinge nickten, ließen seine Beine los und standen auf, Tristan nur widerstrebend. Dann forderte er seine Schwester zu einem neuen Wettkampf heraus, und die beiden stürmten über den Friedhof davon.
»Hallo, Timothy«, begrüßte Gabriel den Mann, der vor ihm stehen blieb. »Was gibt’s?«
»Jemand muss mit den Gläubigern auf dem Festland reden«, erklärte Timothy atemlos. »Allmählich fangen die Leute an, Fragen zu stellen. Sie wollen wissen, was mit deinem Geld ist, mit den Steuern und so.« Hilflos zuckte er die Achseln, nahm seinen Hut ab und spähte nervös über seine Schulter.
Als Gabe diesem Blick folgte, sah er ganz in der Nähe einen Mann an einer Hauswand stehen, die muskulösen Arme vor der Brust verschränkt. Angus Dougal.
»Und was für Leute sind das, Timothy?«, fragte Gabriel, ohne die wachsame Gestalt aus den Augen zu lassen.
Timothys Schweigen verriet ihm alles, was er wissen musste. Offenbar hatte Dougal sich nach dem neuen Inselbewohner erkundigt. Den Einheimischen hatte Gabriel erzählt, er sei Feuerwehrmann in New York gewesen. Sicher fragte sich Angus, wie ein Feuerwehrmann das alles bezahlen konnte. Auch wenn Gabe die Schwierigkeiten in den Griff bekommen würde, die der Mann ihm bereitete – sie waren, gelinde gesagt, ein Ärgernis. Also musste er die Sache sofort anpacken, die Leute beschwichtigen und ein paar Dinge regeln. Dougal war nicht dumm. Und das Geld stammte tatsächlich aus einer sonderbaren Quelle. Gabriel hatte in New York wirklich als Feuerwehrmann gearbeitet und keine Millionen verdient. Was er für die Projekte auf den Inseln spendete, verschaffte ihm sein Talent, alle Gegenstände, die er berührte, zu Gold zu verwandeln. Immerhin war er ein Erzengel, und das war nur eine seiner vielen Fähigkeiten.
Mochte Angus auch Verdacht geschöpft haben – die Wahrheit würde er nie herausfinden.
Gabriels silbrige Augen begegneten Dougals smaragdgrünen. Er wünschte, es gäbe keine Probleme mit diesem Schotten. Gewiss, Angus war ein anständiger Mann und ein guter Polizist, und er besaß eine reine Seele. Aber in letzter Zeit verströmte er eine bittere Aura. Warum, ahnte Gabe.
Vor Kurzem hatten sich Angus und seine langjährige Freundin getrennt. Unglücklicherweise hatte seine Schwester Edeen wenig später mit Gabriel geschlafen. Zuviel auf einmal war zusammengekommen, und die Situation hatte Dougals Hass auf den Erzengel erweckt, den einstigen Himmelsboten.
Gabe seufzte. Nun musste er nach Glasgow reisen. Vielleicht brauchte er sogar die Hilfe seines Hüters Max Gillihan, der Akten fälschen und Erinnerungen löschen konnte. Mit zusammengebissenen Zähnen nickte er Angus Dougal zu. Und Angus nickte zurück.
Langsam wanderte General Kevin Trenton in dem kleinen stahlverkleideten Raum auf und ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Mit leuchtend blauen ausdruckslosen Augen musterte er die Gesichter seiner Soldaten, die auf Metallstühlen saßen.
Nur drei Männer hatte er in den Sicherheitsraum beordert. Nach sorgfältiger Überlegung hatte er sie ausgesucht und aus gutem Grund. Jeder besaß überaus nützliche, unersetzliche, für die Adarianer lebenswichtige Fähigkeiten. Ihren Platz in diesem Raum hatten sie verdient. Bald würde er ihnen ein großartiges Geschenk machen.
Denn sie waren die Erwählten.
In einer Ecke des kleinen Raums lag ein wie ein Mensch aussehendes regloses Etwas, unter einem einfachen weißen Laken verborgen. Die Männer wussten nicht, was es war.
»Am besten komme ich sofort zur Sache, Gentlemen«, begann Kevin, kehrte ihnen den Rücken und betrachtete die verriegelte Metalltür. »Seit vielen Jahrtausenden suchen wir Mittel und Wege, um das Leid zu mindern, das unsere Art im Lauf der Zeit erdulden muss.« Während einer kurzen Pause drehte er sich um, um zu sehen, inwieweit sie ihn verstanden. »Uns selbst können wir nicht heilen«, konstatierte er schlicht und legte seine Hände auf die Lehne eines stählernen Stuhls, bevor er sich darauf stützte. »Eine Wunde nach der anderen nehmen wir hin und ertragen den langsamen Genesungsprozess, unfähig zu sterben, ganz egal, wie schwer wir verletzt sind. Nur eins unterscheidet uns dabei von den Sterblichen: unsere Wunden hinterlassen keine Narben. Uns selbst können wir nicht heilen«, wiederholte er. Und dann fügte er leise hinzu: »Zumindest nicht aus eigener Kraft.«
Mit diesen Worten weckte er das Interesse seiner Zuhörer. Alle drei richteten sich auf.
»Als Eleanore Granger auftauchte, erhielten wir eine Chance, die wir nie zuvor hatten.«
Die Männer schwiegen. Doch er wusste, was sie dachten: Selbst wenn es ihnen gelungen wäre, Eleanore zu entführen, wäre damit noch lange nicht gewährleistet gewesen, dass sich die Heilkunst der Frau auf die Adarianer hätte übertragen lassen.
Für Kevin existierte dieses Problem nicht mehr, seit er Elys Blut getrunken und sich die Fähigkeit des großen schwarzen Adarianers angeeignet hatte, seine Opfer zu dehydrieren.
Nun wandte er sich an ihn. »Ely.«
Geschmeidig stand der Soldat auf und nickte respektvoll. »Ja, Sir.«
»Ich weiß, du hast dich gewundert, warum ich dir Blut abgenommen habe. Jetzt will ich’s erklären.« Kevin ließ den Stuhl los und ging wieder hin und her. In der Ecke, wo das Laken die zusammengeschrumpfte Gestalt verhüllte, blieb er stehen. »Nachdem ich Elyons Blut getrunken hatte, wurde es von meinem Körper absorbiert.« Er machte eine kurze Pause und schaute die Männer an. »Ebenso seine Gabe.«
Nun spiegelten die Mienen unverhohlene Verblüffung wider. Die Augen weit aufgerissen, starrten sie ihn an. Dann schauten sie zu der Leiche hinüber. Anscheinend ging ihnen ein Licht auf.
Grinsend entblößte Elyon seine schneeweißen Zähne. »Sir, Sie haben bessere Arbeit geleistet als ich normalerweise.«
Auf seine gewinnende Art erwiderte Kevin das Lächeln und bedeutete ihm, wieder Platz zu nehmen. Der Adarianer gehorchte, und der General entfernte sich von dem Toten. »Unglücklicherweise hält der Effekt nicht lange an. Ich habe das Experiment mit einem anderen Gefangenen durchgeführt. Ohne Erfolg. Weil nur ein paar Stunden verstrichen waren, nachdem ich Elys Blut absorbiert hatte, nehme ich an, dass die Zeit keine Rolle spielt. Wohl aber kann man das Talent vermutlich nur einmal nutzen, bevor es aufgefrischt werden muss.«
»Sir …« Ein anderer Soldat, ein blonder Mann mit hellblauen Augen, nickte seinem Kommandanten zu, der ihn mit einer knappen Geste aufforderte, fortzufahren. »Was genau bedeutet das für Eleanore Granger?«
»Freut mich, dass du danach fragst, Luke«, sagte Kevin und lächelte wieder.
Lukes adarianischer Name lautete Laoth, und er besaß die Fähigkeit, seine sterblichen Opfer zu hypnotisieren. Außerdem konnte er Finsternis und absolute Stille in einem gewissen Gebiet bewirken und jeden, der nicht die nötige Widerstandskraft aufbrachte, in tiefen Schlaf versetzen. Dann drang er in die Träume des Schlummernden ein und gestaltete sie nach Belieben. Schon bei vielen Gelegenheiten waren seine Talente sehr nützlich gewesen.
»Meiner Ansicht nach werden nach Eleanore Granger auch die anderen Sternenengel bald auftauchen«, erläuterte Kevin. »Und ich denke, sie alle werden, neben anderen Talenten, auch Heilkräfte besitzen.«
»Alle vier?«, fragte ein dunkelhaariger Mann mit dem adarianischen Namen Morael. Schon lange wurde er Mitchell genannt. Er konnte die molekulare Struktur aller Gegenstände oder Personen verändern, die Erde unter ihren Füßen bewegen und die Temperatur der Luft beeinflussen. Außerdem vermochte er Gedanken zu lesen, was ihm nur bei Kevin misslang.
»Ja.« Der General runzelte die Stirn. »Vielleicht irre ich mich. Aber es wäre plausibel. Deshalb habe ich euch ausgewählt. Ihr sollt das Blut der Sternenengel absorbieren. Eleanore Grangers Blut trinke ich selbst.« Die drei schwiegen, und er ahnte, was in ihren Köpfen vorging. Dann fügte er hinzu: »Natürlich begnügen wir uns zunächst mit kleinen Mengen, um meine Theorie zu überprüfen. Falls das biologische System der Sternenengel dem der Adarianer gleicht, müsste es funktionieren. Wenn dem so ist, wäre es am klügsten, den endgültigen Akt möglichst schnell durchzuführen und uns die Macht des kostbaren Blutes ganz anzueignen.«
Mit zusammengezogenen Brauen fixierte Mitchell den General. »Habe ich gerade richtig gehört, Sir?«
Ohne zu zögern, nickte Kevin. »Ja.« Er spürte, wie sich die Spannung in dem kleinen Raum verdichtete. Beinahe knisterte sie vor Intensität. Was er beabsichtigte, klang zunächst verrückt. Dagegen würden sich die Soldaten sträuben. Das las er in ihren Augen. Einen Sternenengel töten? Nicht nur einen, sondern alle vier?
Diese Frauen waren etwas Besonderes und galten als heilig. Welche Konsequenzen würden den ohnehin schon verfluchten Adarianern drohen? Das Entsetzen der Männer war verständlich. Aber in ein paar Minuten würden sie ihrem Kommandanten recht geben. Denn sie hatten keine Wahl. Wenn es ihnen gelang, alle Sternenengel aufzuspüren und in ihre Gewalt zu bringen, durften sie nicht riskieren, dass sie ihnen weggenommen wurden, mitsamt ihrer gewaltigen Macht.
Also mussten diese Frauen sterben.
»Sir …« Elyon bewegte sich unruhig auf seinem Stuhl, schaute seine Kameraden an und wandte sich wieder zu Kevin. »Sicher gibt es nichts Gefährlicheres als Männer, die nichts zu verlieren haben. Und Erzengel in dieser Situation? Sie werden über uns herfallen, um uns alle zu töten.«
»Das weiß ich«, sagte der General und verschwieg, dass er bereits einen Adarianer umgebracht und dessen ganzes Blut getrunken hatte, um seinen Plan zu erproben. Diese Männer mussten ihm rückhaltlos vertrauen. Das erwartete er. »Auch die vier Erzengel werden sterben.«
Verblüfft starrten sie ihn an und versuchten erfolglos, das Gesagte zu begreifen.
Kevin holte tief Atem und verschränkte seine Arme. »Was das betrifft, habe ich Pläne geschmiedet. Die werde ich euch mitteilen, wenn es an der Zeit ist. Was ich euch soeben erklärt habe, werdet ihr niemandem erzählen. Ist das klar?«
»Ja, Sir«, antworteten sie wie aus einem Mund.
Dann entließ er sie.
Sobald er allein war, sank er auf den Stuhl, dessen Lehne er zuvor umklammert hatte. Seine Zunge glitt über seine geraden weißen Zähne. Geistesabwesend betrachtete er eine der stahlverkleideten Wände und dachte an diese Frau mit dem pechschwarzen Haar und den hinreißenden blauen Augen.